Fremd gewordene Formen

Im öffentlichen Bücherschrank findet auch etwas Kulturgeschichte im Kleinen statt, denn es stehen dort oft die Bücher der Boomer, die nun zum Ballast geworden sind. Die Bücher derer, die zehn, zwanzig Jahre älter als ich sind. Bücher, welche einige Jahrzehnte Geistesgeschichte der BRD geprägt haben. Ausgaben aus der DDR kommen ebenfalls vor, sind hier aber selten.

Es sind Bücher von Autorinnen und Autoren, deren künftige Relevanz zweifelhaft erscheint. Was nicht unbedingt an ihnen liegt, eher an der Zeit, an der Geschwindigkeit der Entwicklung und generell am Loslösen von historischen Bindungen, auch im Bereich der Kultur, schon gar bei der Literatur. Gerade gestern hörte ich einen Podcast, in dem eine junge Frau von einer früheren Zeit sprach, in der es noch „große Schriftsteller und so“ gegeben hätte. Das sei ja heute nicht mehr so. Es klang ganz selbstverständlich, eine Tatsachenbeschreibung. Es klang, als schriebe einfach niemand mehr, und vielleicht denkt sie es wirklich. Vermutlich wird es so sein.

Gebundene Bücher sind es jedenfalls oft, die da im Schrank stehen. Manche mit erstaunlich intaktem Schutzumschlag. Man hat noch darauf geachtet und Dinge sorgsam behandelt. Nikotingelbe Seiten, denn man hat noch geraucht. Wir haben alle geraucht, und wie wir geraucht haben.

Widmungen auf dem Vorsatz in Handschriften, denen man eine andere Schulzeit ansieht. Eine andere Art der ausgeschriebenen Handschrift, eine andere Dimension der Übung und auch eine andere Stufe der Korrektheit, des Akkuraten. Keine Schreibfehler, nirgends. Ordentliche Handschriften sind das, gut leserlich, und sie beginnen mit Anreden, die heute kaum noch verwendet werden. „Ich möchte Ihnen, lieber Herr …“ Oder hier: „Dem Fräulein XY …“ Es folgen höfliche Sätze, in denen gesiezt wird. In denen eine längst fremd gewordene Form korrekt gewahrt wird.

In denen sich, auch das merkt man, und man merkt es teils deutlich, um Inhalt und Präzision auf wenigen Zeilen bemüht wird. Ganz ohne Nostalgie kann man das feststellen, es ist einfach eine Entwicklung. Wir kommen von da, und wir sind, was die Schriftkultur betrifft, heute woanders, und eine weite Strecke liegt dazwischen.

Ich bedauere das allerdings nicht, weil die Welt und die Kultur untergehen, denn das tun sie nicht, oder zumindest noch nicht. Sie werden wie immer nur anders. Ich bedaure das nur, weil ich auch aus dieser alten Zeit komme und mir eine Art geistiges Heimweh also sehr wohl zusteht, durch abgelebte Jahrzehnte erwirtschaftet.

Zeitungsartikel stecken in diesen Büchern, gar nicht selten. Sauber ausgeschnittene und mehrfach gefaltete Rezensionen aus der FAZ, aus der Zeit, aus der Süddeutschen und ähnlichen Blättern. Aus Feuilletons, die damals noch eine vollkommen andere Bedeutung und Geltung hatten. Manchmal auch mit kundigen Kommentaren am Rand, mit Verweisen und Unterstreichungen. Fast immer mit Datierungen, denn das gehörte so.

Ein Aufkleber an einem Stromkasten mit der Aufschrift "Relevanz"

Und so lange haben sie ungelesen und auf unbestimmte Wiedervorlage zwischen diesen Seiten geklemmt, dass einige dieser vergilbten Artikelausschnitte brechen, wenn man sie endlich wieder auseinanderfaltet. Nach all der Zeit.

Nossack etwa, das ist so ein Autor aus jener Zeit, Hans Erich Nossack. Ich lese in einem Band seiner Erzählungen. Mir fällt auf, was mir damals, als ich als junger Mensch in diesen Werken gelesen habe, nicht aufgefallen ist: Wie diese Generation in den Nachkriegsjahrzehnten zu einer besonderen Sprache gefunden hat. Zu einer Sprache, die sich von den Schnörkeln der Vorkriegsvergangenheit fast komplett befreit hat, auch von der Satzlänge und den Nebensatzkonstruktionen à la Thomas Mann. Sie schrieben eine Sprache, die schlichter geworden war, klarer auch. Nicht mehr rabiat verkürzt im Sinne der Kahlschlagliteratur aus den ersten Jahren der Republik, eher in einem Sinne der sorgsam bedachten Beruhigung und Sammlung.

Eine Sprache, die eine kurze Zeit noch keine oder kaum Modernismen aufwies. Keine Verweise auf die USA oder auf englische Bezeichnungen, keine Hinweise auf moderne Technik und auf die sich rapide ändernde Welt, die sich bald hin zur tobend eskalierenden Konsumglobalisierung entwickelte. Es war nur eine kurze Phase, in der man so wie Nossack schrieb, aber seit ich über diese Sprache intensiver nachdenke, lese ich die Texte gerne wieder.

Das Buch "Begegnung im Vorraum" von Hans Erich Nossack

Neben dem Nossack stand Cesare Pavese im öffentlichen Bücherschrank. Sein „Handwerk des Lebens“, und das liest vermutlich auch keiner mehr. Daneben Hilde Spiel, eine ganz schmale Erzählung von ihr. Daneben Max Frisch, „Mein Name sei Gantenbein“, ein verschossenes, leicht schiefes Suhrkamptaschenbuch in hellem Grün.

Auf dem Einband etwas, das man als Rotweinfleck deuten könnte. Nicht sehr groß, eher dezent. Es würde gut zum Bild passen, das ich mir von diesen Buchbesitzerinnen und Buchbesitzern mache, wenn es Rotwein wäre. Ein leeres Kalenderblatt außerdem darin, vom 11. September 1979, ein Dienstag war das. In einer amtlich oder ingenieurmäßig ernst wirkenden Type steht es da, auf dem Papier der Firma Zettler. Mit der Angabe von Zinstagen, von Kalenderwochennummern sowie den Sonnenauf- und -untergangszeiten, dito Mond.

Zeilen für Einträge zu vorgegebenen Uhrzeiten, und zwar von 7 bis 22 Uhr. Das musste für normale Menschen damals noch reichen.

Na, es wird selbstredend ein geschöntes Bild sein, das ich mir von den Vorbesitzenden dieser Bücher und von ihrem Lesen, Schreiben und Denken in den alten, analogen Zeiten mache. Aber das macht wohl nichts. Geschönte Bilder sind immerhin das, was wir wirklich gut können, in unserer mittlerweile etwas seltsam geratenen Gegenwart.

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