Schön, schön

Am Samstagabend ging ich trotz allmählich überwältigender Müdigkeit in den Michel, um mir dort Bachs h-Moll-Messe anzuhören, die immerhin erfreulich früh begann. Das schloss eine nicht eben kleine Bildungslücke, denn Bedeutung und Grandiosität des Werkes, Schönheit und überraschendes Überwältigungspotential waren mir bis zu diesem Abend gar nicht bekannt. Wie immer gilt bei so etwas: Fantastisch und fast hoffnungsfroh stimmend, was man alles noch lernen und entdecken kann.

Warum das Werk aber kurz vor der Aufführung als „größtes Kunstwerk aller Zeiten“ angekündigt wurde, das habe ich erst hinterher verstanden, beim beflissenen Nachlesen in der Wikipedia nämlich. Es war ein Zitat von Carl Friedrich Zelter.

Nun bin ich selbstverständlich gänzlich ungeeignet, das ebenfalls zu beurteilen oder die Aufführung dieses Abends bewerten, irgendwie einzuschätzen oder im Rang gewichten zu können. Das vermag ich nicht einmal ansatzweise, es würde sicher auch schnell peinlich werden. Nur eher plump kann ich daher mangels Kompetenz berichten, dass es mir außerordentlich schön vorkam. Schöner auch als etwa das Weihnachtsoratorium. Um es einmal in meinem Kopf zu sortieren und das entsprechende Regal im Hirn also kurzentschlossen etwas umzuräumen. Ich lege mich auch dahingehend fest, dass ich mir das jederzeit wieder anhören würde, wenn es in einem ähnlichen Rahmen geboten wird.

Dieses lapidar anmutende „jederzeit“ allerdings, das will bei mir etwas heißen.

Die Sopranstimme sang, kurzfristig eingesprungen wegen eines Ausfalls, Hanna Zumsande. Ich sehe gerade, es gibt bei YouTube eine Version des Stückes vom Münchener Bach-Chor mit ihr in dieser Besetzung. Das kann man sich hier ansehen und anhören. Eine Stunde und fünfzig Minuten Bach sind das , eine zweifelsfrei gut geeignete Beschäftigung für den Sonntag.

Zwei Bemerknisse noch eben dazu.

Der Michel vor dunklem Himmel

Da wäre etwa das speziell Absurde des Ortes. Denn zum einen ist der Michel (Wikipedialink) natürlich auf den ersten Blick so sehr Hamburg, wie es ein Gebäude nur sein kann. Ein Stadtsymbol und Wahrzeichen erster Klasse. Vermutlich auch bundesweit bekannt und schon an der Silhouette für erstaunlich viele Menschen erkennbar als die weithin berühmte und zigtausendfach abgebildete Kirche in Elb- und Hafennähe.

Zum anderen ist der Michel aber, gerade wenn man an feierlichen Konzertabenden hineingeht, ein hochgradig außerhamburgischer und auch aus der Zeit fallender Ort. Denn wir haben hier sonst kaum Barock, wir wissen nicht, wo das liegt, um wieder bei Asterix zu landen. Wir kennen keinen Goldprunk, wir haben diesen Bezug zum schwelgenden Bombast nicht. Dann betritt man diesen Innenraum: Unvermutet eine Orgie in Gold und Schwulst, Prunk und Verschwendung, ein für unsere Verhältnisse krasses Übermaß an Dekor und kunsthistorisch zweifellos bedeutendem Tüdelüt.

Barock ist ernsthaft merkwürdig und staunenswert, wenn man sonst kaum etwas in der Art vor der Tür hat. Für Menschen aus München oder gewissen anderen Städten ist es vielleicht kaum nachvollziehbar, stelle ich mir vor.

Zum anderen las ich im Programmheft beim Hören den Text mit und staunte nebenbei, wie außerordentlich tief verankert, wie geradezu ins Hirn eingemeißelt etliche Lateinvokabeln bei mir sitzen. Was ich nicht erwähne, um damit Eindruck zu machen, das würde auch schon daran scheitern, dass ich „nur“ etliche Vokabeln kann, aber kein Stück Grammatik mehr. „Wieso nicht mehr“, würde mein Lateinlehrer von damals an dieser Stelle mit zweifelndem Blick fragen, der mir schon zu Schulzeiten alle tieferen Kenntnisse zu Recht abgesprochen hat. Also alle Kenntnisse neben meinen Standard-Einsen in den Vokalabfragen.

Woran das wohl liegt oder lag, überlegte ich. Es ist mir doch sonst aus der Schulzeit nicht allzu viel geblieben. Es liegt wahrlich wenig von der ganzen Lernerei aus dieser Zeit im Kopf abrufbereit herum. Keine binomischen Formeln finden sich dort, keine Elementetafel aus der Chemie. Keine Kenntnisse über Schaltkreise oder über die genauen Vorgänge bei der Fotosynthese. Kaum greifbare Geschichtszahlen und auch keine Abfolge von Königen und Kaisern. Nicht einmal norddeutsche Flüsse oder Nebenflüsse, auch keine Versmaße und Reimschemata oder unregelmäßige Verben aus Frankreich. Das ist alles größtenteils weg. Und nicht einmal das erneute und teils also dritte Lernen mit den Söhnen hat es so wiederbelebt, dass es mir diesmal geblieben wäre. Geblieben ist mir eher ein tiefes Desinteresse an sicher zu vielen Themen.

Aber den Text dieser Messe las ich und war noch einigermaßen orientiert, worum es da ging. Wäre sie in französischer Sprache gewesen, ich hätte weniger deuten können. Besonders klug und lebenstauglich ist das gewiss nicht.

Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, diese verbleibenden Kenntnisse liegen daran, dass ich damals Latein unbedingt lernen wollte. Es schien mir als Kind unabdingbar, Latein zu kennen, um später als gebildet durchzugehen. Und das schien mir, ich weiß gar nicht recht, wo der Gedanke eigentlich herkam, ungemein wichtig zu sein. Von elementarer Bedeutung fürs Leben.

Geradezu peinlich war es mir, bevor ich Latein in der Schule hatte, Latein nicht zu können, das wird die Vehemenz der ersten Lernphasen wohl erklären. Von denen ich dann doch insgesamt zu wenig im Leben hatte, um eigenen Ansprüchen beim Thema Bildung je auch nur ansatzweise genügen zu können. Aber wie auch immer, diese Deutung des Wissenserwerbs sollte ich auch einmal aus heutiger Sicht mit der Therapeutin besprechen, der Gedanke scheint mir naheliegend zu sein.

Ach, ich habe gar keine Therapeutin. Na, egal.

Schöne, sehr schöne Musik jedenfalls. Das wollte ich nur eben sagen.

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Ein Kommentar

  1. Morgens im 50er Jahre Seemannsheim im Frühstücksraum sitzen und auf den barocken Michel gucken – das ist für mich Hamburg.

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