Weiteres Heranreifen, weitere Verzerrungen

Da Sohn I vor zwei Tagen 18 wurde, können wir ableiten, dass Sohn II heute 16 wird. Was fast ebenso erstaunlich klingt. Der Termin ist allerdings in diesem Jahr etwas schwierig, er hat nämlich das besondere und eher fatale Los erwischt, am ersten Schultag Geburtstag zu haben. Er muss also zum ersten Mal nach der langen Pause wieder früh aufstehen „und all das“. Ich nehme an, viele werden nachvollziehen können, dass er dies für eine besondere und auch etwas unfaire Herausforderung hält. Zumal der Bruder noch in den Ferien Geburtstag hatte.

Ich spare mir in mühsamer Selbstbeherrschung den Hinweis, dass er am selben Tag wie Sohn I Geburtstag hätte haben können, hätte er sich damals nur fahrplanmäßig an seinen Stichtag gehalten. Man muss es leider klug dosieren, wie oft man belehrende Sätze unterbringen kann. Besonders dann, wenn sie gar nichts mehr nützen können.

Oh, und vielen Dank in die Runde übrigens für die gerade erfolgten Zuwendungen an Sohn I!

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Bei der Frischen Brise gibt es im neuen Text einen Absatz mit einem Aspekt, den ich teile. Denn die Gefahr, dass man schnell vergisst und übersieht, was die Generation, die gerade auf Schulabschlüsse zustrebt, für spezielle und dramatische Erfahrungen gemacht hat, sie ist ebenso groß wie naheliegend.

Bitter fand ich die Diskussion, die […] in den Medien aufkam: das Abitur wäre zu leicht und das Abitur würde zu oft mit „Eins“ benotet. Gerade die heutigen Jahrgänge hatten mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen: zunächst monatelanges Lernen zu Hause wegen der Corona-Pandemie, Isolation, Wegfall aller Hobbys und dann ständiger Unterrichtsausfall, fehlende Lehrkräfte und veralteter Unterricht. Die Einflüsse der „sozialen“ Medien nahmen immer mehr zu, gleichzeitig fehlten immer mehr Orte, an denen Jugendliche sich treffen können. Vor diesem Hintergrund ist die Leistung der Jugendlichen nicht zu unterschätzen …

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Zwei Männer, von hinten gesehen, die auf den Stufen sitzen, die am Ballindamm hinunter zur Binnenalster führen, im Hintergrund Fontäne und Fernsehturm

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Noch passend zu meinem gestrigen Text und zum Thema Verzerrungen empfehle ich außerdem dieses arte-Video (29 Min.) zum Thema Erinnerungen. Mit etlichen Grundtatsachen zum Thema, die man vielleicht nicht so parat hat, die ich aber für wichtig halte. Auch wieder in Bezug auf das Schreiben der Wahrheit, wozu gleich noch etwas anzumerken sein wird.

Das Video hier als Link und nachfolgend auch eingebettet. Ich schreibe das immer so seltsam, weil das eingebundene Video manchmal nicht bei allen korrekt angezeigt wird.

Die Quintessenz ist natürlich, dass Erinnerungen nur begrenzt zu trauen ist, so viel wird auch bereits bekannt sein. Aber vielleicht kann man noch einmal zur Kenntnis nehmen, was man womöglich gar nicht so gerne hört, dass aufgerufene Erinnerungen beim Wiederabspielen immer verändert werden – jedes Mal. Man könnte auch etwas länger darüber nachdenken, so faszinierend ist es, wie wir also permanente Überschreiber sind.

Einen der Sätze gegen Ende der Sendung kann man als Erlösung und Rechtfertigung bei diesem seltsamen Thema nehmen. Denn nach den Autorinnen des Clips muss das auch so sein, dieses permanente Überschreiben: Erinnerungen dienen dem Leben, und das bleibt flexibel und wandelbar bis zum Schluss.

Als Autor kann ich etwas ergänzen, was ich vor vielen Jahren mit einiger Verblüffung gelernt habe. Wenn ich in einem Text eine Erinnerung ein wenig abwandle, etwa damit eine Person oder ein Ort, eine Begebenheit nicht mehr perfekt zuzuordnen sind, da ich z. B. keinen Wert darauf lege, dass sich irgendwelche Passanten hier wiedererkennen, wenn ich also, um ein völlig willkürliches Beispiel zu nehmen, aus einem auffälligen roten Pullover einen gelben mache – dann ist er nach dem Tippen gelb. Bzw. war gelb. Ich habe ihn dann so gesehen.

Es wird für mich mit anderen Worten sofort ununterscheidbar, was wahr war und was nicht, wenn ich in einem Text etwas Wirklichkeit variiert habe. Und zwar auch dann, wenn ich genau weiß, was passieren wird, wenn ich darüber sogar nachdenke beim Schreiben. Um deutlich zu machen, wie weit das geht: Es gibt Personen in meinem Leben, deren Namen ich nicht mehr weiß, weil ich ihnen in Texten mal eben einen anderen gegeben habe. Und den haben sie jetzt eben. Sie wissen es nur nicht.

Ich kann verstehen, was da passiert. Der Vorgang ist mir durchaus klar, aber es fühlt sich manchmal doch nach einer kind of magic an. Bei der ich nicht recht weiß, ob sie nun weiß oder schwarz ist, ob es sie auch einer neutralen Version gibt und ob ich sie nicht vielleicht noch exzessiver nutzen sollte …

Einfach nur, weil es geht. Und wissen Sie was, ich spiele es uns doch schon wieder ab, das gute, alte Lied. Es ist ohnehin eines der besten Stücke zum Tagesanfang – vielleicht ja auch für Sohn II heute.


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Die Verzerrung ist irgendwo da draußen

Die Kaltmamsell weist hier auf ein Thema hin, das mich auch immer wieder fasziniert, nämlich die Darstellung der uns umgebenden Wirklichkeit in den Medien einerseits, in unserer Wahrnehmung andererseits.

Das haben wir mit unserem kleinen Bahnhofsviertel, das oft – und meist aus eher unerfreulichen Gründen – in den lokalen Medien ist, in etlichen Ausprägungen erlebt. Mal ist es hier viel gefährlicher, mal ist es hier aber auch schöner und noch gentrifizierter, noch szenemäßiger, als es gemäß unserem Erleben ist. Oder zumindest wird es deutlich anders geschildert, als es uns vorkommt. Mal gelten gewisse Sätze als weit verbreitete Meinung der Anwohnerinnen, von denen wir als Anwohnerin und Anwohner nie gehört haben. Und die wir auch nicht teilen. Mal wird in der Gastroszene etwas bejubelt, das uns als weithin bekanntes Schrecknis und üble Touristenfalle gilt, mal wird hemmungslos verrissen, was wir doch gerne aufsuchen.

Das ist aber zumindest aus meiner Sicht nur partiell eine Medienkritik, denn diese Beobachtung gilt selbst für Blogs. Ich lese manchmal Schilderungen von Menschen, die hier durchreisen, bei denen ich mich einen Moment frage, auf welchen Drogen die denn wohl hier durchgelaufen sind. Oder mit welchen Scheuklappen. Ähnlich ging es auch der Kaltmamsell damals, als ich in ihrem München in diesen Trachtenauflauf geriet und darüber etwas schrieb. Meine Erlebnisse waren klischeemäßig so überreizt wie nur denkbar, aber so war es eben. Wenn auch, und das ist es eben, nur genau da und nur genau in der Stunde, in der ich dort war und in der diese seltsame, verschrobene Veranstaltung in dem Biergarten neben unserem Hotel stattfand.

Einerseits spielen, besonders bei den Medien, Verantwortung, handwerkliche Genauigkeit und auch das Berufsethos eine Rolle, versteht sich. Denn Schilderungen sind schnell zu schreiben und furchtbar mühselig langsam zu verifizieren. Wer hat schon die Zeit für Zeitreihen. Genug Kritikwürdiges in dieser Hinsicht ist mir und uns allen vermutlich häufiger begegnet, wo immer wir etwas durch eigenes Erleben verifizieren konnten.

Andererseits ist es aber auch so, dass Sie und ich nun einmal nicht in der gleichen Wirklichkeit leben. Und wir also, selbst wenn wir hier gemeinsam eine Straße entlang gehen würden, hinterher andere Eindrücke, Erfahrungen und vor allem Assoziationen, die dann das Schreiben und Berichten mitbestimmen würden, hätten. Ein Sekundenblick reicht da aus. Eine nimmt den pinkelnden Obdachlosen im Hauseingang wahr und es beschäftigt sie danach noch etwas. Die andere sieht gerade woanders hin, in ein neugestaltetes Schaufenster vielleicht, und lässt damit ein Thema aus. Gewinnt aber prompt ein anderes.

Wie wir im Büro einmal, Jahre ist es schon her, die Nachrichten zu New York verfolgten, wo gerade irgendeine schwere Wetterkatastrophe stattfand. Ich weiß gar nicht mehr, was es war: Blizzard, Starkregen, Orkan, keine Ahnung. Es war jedenfalls etwas Ungewöhnliches, das weltweit für Schlagzeilen, aufregende Bilder und verwackelte Live-Reportagen sorgte. Wir hatten da einen ergiebigen Mailwechsel mit einem Kollegen, der dort in der Mitte des Geschehens saß, wie wir annahmen. Wir fragten besorgt nach der Lage, und er schrieb irritiert: „Was? Hier ist nichts.“

Der Schriftzug "Rot" mit gelber Farbe auf den Boden gesprüht

Denn manchmal entscheiden ein, zwei Häuserblocks, entscheiden eine Kreuzung, eine U-Bahn-Station oder eine halbe Stunde, wie die Lage ist. Was mich immer wieder zurückführt zu dem einfachen und doch so schwerverdaulichen Satz: Es ist schier unmöglich, die Wahrheit über das da draußen zu schreiben. Von dem hier drinnen ganz zu schweigen, aber das ist ein anderes Thema.

Man sollte es aber dennoch versuchen, das mit der Wahrheit über das da draußen. Eh klar, man sollte versuchen, sich ihr stets so ernsthaft bemüht anzunähern, wie man es nur vermag. Besonders natürlich, wenn man sich mit der Abbildung der Wirklichkeit beruflich beschäftigt.

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Heranreifen und fortleben

Vorweg ein herzlicher Dank für die freundliche Zusendung eines Buches vom Wunschzettel: „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“ – Essays von Tanja Maljartschuk (Verlagslink). Die Autorin ist vielleicht bekannt von ihrem Roman „Blauwal der Erinnerung“, der hier auch einmal im Blog vorkam. Sehr fein!

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Außerdem kann ich dazu beitragen, dass Sie sich, besonders dann, wenn Sie hier schon länger lesen, etwas älter oder auch noch herangereifter fühlen. Einfach nur, indem ich Ihnen schon wieder eine Zahl nenne. Wofür ich diesmal eine 18 auftreten lasse, welche für die Jahreszahl steht, die Sohn I heute erreicht hat.

Ja, wir staunen auch. Aber wir haben das jetzt mehrfach nachgerechnet, es ist so.

Und wenn Sie sich für Technik-, Alltags- und Kulturgeschichte interessieren, an Sohn I kann man immer auch das Alter der massentauglichen Smartphones nachlesen. Seit 18 Jahren also haben wir die Dinger nun in den Händen. Dabei wollten wir doch damals nur kurz etwas nachsehen, Sie erinnern sich?

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Gehört habe ich am Wochenende die fast schon in Hörbuchlänge ausgebreitete Bismarck-Geschichte in immerhin vier Folgen beim Geschichtspodcast „Was bisher geschah“, mit Nils Minkmar und Joachim Telgenbüscher. Hier der Link zur ersten Folge.

Mit Bismarck wird man allerdings so leicht auch in vier längeren Folgen nicht fertig. Denn er taugt zweifellos auch als Anschauungsmaterial zur immer wieder interessanten Frage, wie viele Widersprüche und Wendungen bloß in einen einzelnen Menschen passen können. Beim Hören der ersten Folge ging ich in den Supermarkt, und da war er prompt überall auf den Mineralwasserflaschen abgebildet, der olle Bismarck. Als hätte er beruflich hauptsächlich Quellen erschlossen und Getränke abgefüllt.

Dass der maßlose Vielfraß und ausgeprägte Genussmensch heute als Logo ausgerechnet auf Wasserflaschen fortlebt – es ist auch nicht ohne Ironie.

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Und bitte beachten Sie auch diese saisonal angebrachten Gedanken zu einem Star. Kurzgeschichtenkonzentrat.

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Drei Menschen, von hinten gesehen, sitzen auf den Bänken vor der Binnenalster am Jungfernstieg, im Hintergrund die Fontäne

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Märchenziffern und Aufheiterungen

Neulich schrieb ich, dass ich mir bei dem Versuch, wieder mehr in Büchern zu lesen, ein Mindestziel von 50 Seiten pro Tag gesetzt habe. Das war eine beliebig gewählte Zahl. Einigermaßen naheliegend war sie allerdings auch, weil die meisten Menschen bei so etwas nun einmal eher zur 50 neigen, nicht etwa beispielsweise zur 43 oder 54, die ich genauso gut hätte nehmen können.

Jetzt las ich passend dazu in einem Newsletter (von Paul Jun, Kimchi & Gabagool) und dort in einem Text unter der anziehenden Überschrift: „The defense against slop and brainrot“ den folgenden Satz: „I read fifty pages of actual books daily.

Wenn das jetzt noch ein paarmal verbreitet wird, wenn noch einige weitere Blogs und Medien die Zahl vielleicht aufgreifen und vervielfältigen (eine Handvoll Google-Treffer gibt es bereits dazu), dann wird daraus schnell eine so bekannte und vielleicht sogar weltweit gültige Märchenziffer wie die berühmten 10 000 Schritte pro Tag. Die, wie wir alle wissen, nur angeblich einen wissenschaftlich und durch Studien ermittelten Hintergrund haben. Bei denen es sich vielmehr schlicht um eine eher beliebige Zahlendarstellung handelt. Eine gut merkbare, griffige Größenordnung eben.

Mir ist das sympathisch. 10 000 Schritte fürs körperliche Wohl, 50 Seiten fürs geistige Wohl, das kann man sich merken. Fehlt noch etwas für die Seele, fällt mir auf. Was weiß ich, jeden Tag mindestens fünf Minuten mit einem Lächeln im Gesicht herumlaufen oder dergleichen. Aber nein, wir wollen nicht übertreiben, es darf auch nicht zu schwer sein.

Wie auch immer, Leben nach Zahlen jedenfalls, man muss es keinesfalls ernst nehmen. Wir zählen uns nur wieder die Welt, widde widde wie sie uns gefällt.

Touristen sitzen auf den Treppen an der Kleinen Alster

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Zur Steigerung der guten Laune könnte man vielleicht auch fünf gute Lieder pro Tag hören. Eines steuere ich heute gerne bei, da es zumindest für meine Stimmung außerordentlich wirksam war. Lange fand ich keinen Text dermaßen erheiternd.

Syd Barrett, das ist die so tragische Figur aus der Frühgeschichte von Pink Floyd, mit dem Bob-Dylan-Blues – es ist grandios. Hier als YouTube-Link, unten auch eingebettet.

“Well, I sing about dreams
And I rhymes it with „seems“
Cause it seems that my dream always means
That I can prophesy all kinds of things”

Cause I’m a poet, don’t ya know it
And the wind, you can blow it
Cause I’m Mr. Dylan, the king
And I’m free as a bird on the wing”

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Beiläufige Freuden

Das Thema KI und Schreiben behalten wir im Auge. Nach und nach werden sich mehr Autorinnen äußern, hier schreibt Johannes Franzen in seinem Newsletter darüber. Man findet da auch weitere Links zum Thema.

Eine Vorhersage finde ich nicht allzu schwer. Es wird eine moralisch gewichtige Fraktion geben, nach der man das Teufelszeug auf keinen Fall auch nur berühren, ach was, nicht einmal ansehen darf. Es wird eine pragmatischere Gruppe geben, die damit recherchieren und auch Handlungsverläufe sowie Ideen diskutieren optimieren etc. wird.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Darfst du das?

Und es wird in nicht allzu ferner Zukunft einen Fall geben, sicher bei einem Bestseller, bei dem, und es wird dann ein prächtiger Skandal in den Feuilletons und Talkshows sein, erst nach den jubelnden Rezensionen herauskommen wird, dass zwanzig, dreißig oder mehr Prozent des Textes von einem LLM kommen. Und vielleicht wird sich diese Sensation dann nach langer Prüfung als falsch und ungerechtfertigt erweisen. Nur um kurz darauf durch einen eindeutig echten Fall ergänzt zu werden, worüber dann in der Gesamtschau drei, vier Sachbücher erscheinen werden.

Es ist im Grunde so langweilig erwartbar, man möchte nicht einmal auf etwas wetten.

Währenddessen sah ich in einem Instagrambeitrag von Alke Martens, Professorin für angewandte Informatik in Rostock, die ich mit ihren Statements zu „AI, Ethik und andere Welten“ übrigens empfehle, dass in den USA auf Büchern, die von Menschen, und nur von Menschen, geschrieben wurden, nun das Label „Human authored“ klebt.

Sie weist berechtigt darauf hin, dass „AI Authored“ der deutlich sinnigere Hinweis wäre. Man möchte schon wieder etwas von Zeiten und Sitten knurren.

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Ich habe als stets sprachinteressierter Mensch eine Weile mit einem Jugendwort ein merkwürdiges Problem gehabt. Und zwar mit dem so häufig zu hörenden „lowkey“. Die Schwierigkeiten lagen zum einen daran, dass die Erklärungen zu diesem Begriff, die ich in den Medien fand und nachlas, sich einerseits manchmal seltsam unterschieden und andererseits auch nicht immer zu dem zu passen schienen, was ich bei den Söhnen und ihren Freunden zu hören bekam. Sie bauten ihre Sätze in etlichen Fällen etwas anders, als es dort stand. Ich wurde zuerst nicht recht schlau daraus. Es war mir alles zu uneinheitlich, und die ewig unzuverlässigen jungen Menschen schienen es auch nicht alle gleich zu verwenden. Das regellose Volk.

Weswegen ich es einigermaßen erheiternd fand, was mir gestern eher zufällig auffiel, als ich Fontanes „Frau Jenny Treibel“ weiterhörte: In den Berliner Dialogen von 1892, die er da im Roman schildert, verwenden die Figuren das Wort „beiläufig“ auf eine sowohl häufige als auch heute aus der Mode gekommene Weise. Wie überhaupt dieses Wort wohl nicht mehr im regen Gebrauch ist. Aber ich habe es nun eine ganze Weile beachtet, also abgehört, und es ist definitiv so: Das nach der Art von Fontane in den Dialogen platzierte „beiläufig“ kann in jedem Fall gegen das „lowkey“ der Söhne getauscht werden.

Die Sätze behalten stets ihren Sinn und ihre Aussage. Und so eine Erkenntnis ist dann beiläufig auch eine kleine Freude.

Apropos Sätze, ich habe hier einen sehr  gemocht: „Walken durch fremde Städte und Parks immer so ein Gefühl wie ein Gang durch die Welt einer Kinderzeichnung, wo alles flächig gemalt ist und einfache, unhintergehbare Namen trägt: Baum, Haus, Auto, Katze, Frau, Mann.

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Unordnung und frühe Links

Einige wild gemischte Links. Mir kommt es vor, als könnte man zu diesem oder jenem Thema auch mehr schreiben, aber die Zeit, die Umstände, die Aufgaben. Da waren sie wieder, meine drei Probleme.

Eine kurze Radiosendung vorweg: Schreiben als Denkwerkzeug. Es geht darin trotz der Kürze, fünf Minuten sind es nur, über das bereits sattsam erforschte und verbreitete „Handschrift hilft der Erinnerung“ hinaus. Wenn Sie auch irgendwie und mit irgendwas schreiben, dann werden Sie das eben hören wollen. Schon wegen der äußerst befriedigenden Aussage, dass Schreiben kognitiv anspruchsvoller als Schach sei. Sie können sich vielleicht vorstellen: Sehr gerne gehört.

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Und gleich noch so eine Sendung, bei der ich versprechen kann, dass sie interessanter ist, als der Titel vermuten lässt: Neo-Ludditen – Schluss mit technologischem Fortschritt. Mit 34 Minuten fällt dieser Beitrag etwas gründlicher aus.

Es ist aber auch ein Thema, über das man zwanglos noch weiter nachdenken kann und auch möchte, zumal die Abwendung von Technologie als Trend bei diversen Gruppen gerade wieder steilgeht. Was ich hier nur feststelle, ohne mich in der Meinung festzulegen.

Mein eigener ludditischer Ansatz, wenn ich den denn überhaupt habe, geht gerade eher vom Positiven aus, ist also gedreht: Ich wende mich etwas zu, nicht von etwas ab. Etwa indem ich wieder deutlich mehr lese. Es fühlt sich anders an, wenn man das als positive Bewegung auf ein Ziel hin versteht, nicht als Abwehr von etwas.

Es ist ein anderer Gemütszustand. Oder zumindest kommt es mir überzeugend so vor, und das reicht mir selbstverständlich aus.

Eine Frau, von hinten gesehen, sitzt an der Binnenalster. Im Hintergrund die Fontäne.

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Geschlossen, weil traurig. Ich mag solche Schilder sehr. Inklusive der faszinierenden Schreibfehler, über die ich mich nicht erheben möchte. Die bei mir allerdings manchmal ähnlich wie ein Ohrwurm hängenbleiben.

Hier um die Ecke ist ein Restaurant, bei dem schon seit Tagen handschriftlich auf einer Tafel vor dem Haus „Schitzel mit Pommes“ beworben werden. Und wenn ich noch ein paar Tage lang das Wort Schitzel im Vorbeigehen lese, dann heißen die künftig bei mir auch so, die Schnitzel. Und zwar ziemlich lange, ich kenne das, siehe Uralub.

(Plötzlich Hunger. Schlimm.)

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Zwischendurch auch wieder die Sätze aus den USA beachten: „Schwer zu begreifen, dass das Leben nicht zum völligen Stillstand kommt.

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Der folgende Link ist ausdrücklich nur für Internet-Greisinnen und -Greise mit ausgeprägter Damals-Kenntnis interessant, die sich vielleicht kurz erinnern möchten: Typepad wird deaktiviert.

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Gelesen habe ich zwischenzeitlich das Buch von Uwe Timm über seinen Freund Benno Ohnesorg. Hier der Wikipedia-Link dazu. Es war etwas ungünstig, das Buch direkt nach seinem „Alle meine Geister“ (Perlentaucherlink) zu lesen, weil es leider erheblich viele gedoppelte Textstellen gibt.

Aber was soll’s, das Buch war schmal und ich kam schnell durch. Und habe jetzt jedenfalls ein interessantes Bild von diesem Benno Ohnesorg im Kopf. Auch von der Zeit, in der die beiden Freunde waren. Ein Bild habe ich, das deutlich über lexikalisches Wissen hinausgeht, und genau das war erstrebt. Mission complete.

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Da mir die Sechziger gerade häufiger begegnen, habe ich auf arte mit der dänischen Serie „Carmen Curlers“ begonnen, in der es um die Erfindung der elektrischen Lockenwickler geht. Ein hervorragendes und endlich mal auffällig vom Durchschnitt abweichendes Thema und eine Serie, die leider etwas übersehen und unterschätzt wird. Soweit ich es mitbekomme.

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Im Rahmen meiner Mitgliedschaft im Freundeskreis „Fontane-Ultras“ höre ich auf den Spaziergängen gerade „Frau Jenny Treibel“. Die wiederum in der ARD-Audiothek verfügbar ist, gelesen von Regina Münch.

Noch einmal ein Werk mit einer nur begrenzt sympathischen Hauptfigur, wie neulich erst doppelt bei Somerset Maugham, in seinen Romanen „Theater“ und „Silbermond und Kupfermünze“. Egal, das denke ich morgens vorm Spiegel auch immer, dass ich da ein Werk mit einer nur begrenzt sympathischen Hauptfigur sehe.

Es passt also schon, ich kann damit umgehen.

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Summer’s end

In mindestens vier der von mir gelesenen Blogs wurde der Herbst in den letzten Einträgen erwähnt. Mehrfach kam er in dieser Woche auch auf Mastodon und Bluesky vor. Ich gehe also nicht mehr vor und bin gefühlt wieder im Mainstream der Saisonwahrnehmung. Es dürfte eine wenigstens vorübergehende Normalisierung sein.

Das erste Lebkuchenbild sah ich selbstverständlich auch bereits, es versteht sich fast von selbst, jährliche Rituale. Aber da klingt bei mir noch nichts an, da mache ich emotional nicht mit.

Das Licht wurde anders, so schrieb man in den Blogs, oder es fehlte zu gewissen Tageszeiten ganz. Die Temperatur ging außerdem runter, besonders nachts fiel es auf. Man zog mehr und andere Kleidung an, und irgendwas in der Stimmung war auch auf einmal anders, auf eine grundsätzliche Art. So hieß es da, in den diversen sozialen Medien.

Wenn ich vom Fenster aus auf den Spielplatz hinuntersehe, fallen die paar Blätter auf, die im Gebüsch am Rande des Platzes gelbe Markierungen darstellen. Nur wenige sind es. Aber so leuchtend im Farbton, dass man als Betrachter nicht eben dezent auf das Ende des Sommers hingewiesen wird und die Regieanweisung für den Kulissenbau vorstellbar wird: „Frühherbst muss klar erkennbar sein.“

Na, meinetwegen gerne.

Sommerabend an der Kleinen Alster, links im Bild die Alsterarkaden, im Vordergrund sitzen Menschen auf den Treppen neben der Kriegsgedenkstelle, man sieht sie von hinten, sie sehen Richtung Jungfernstieg.

Nach alter Tradition singt hier jedenfalls John Prine einen Song von seinem letzten Album, wenn der Sommer endet, denn das gehört so. Im todtraurigen Video, wenn Sie es vielleicht noch nicht kennen, wird Bezug auf Drogenkonsum und Drogentod genommen. Das passt in diesem Stadtteil ohnehin immer und ist keineswegs weit weg.

Der nächste Mensch, der in diesem Kontext mitgedacht werden kann, wird vielmehr jetzt gerade, und ich schreibe es ohne jede Übertreibung, in einem Umkreis von 100, vielleicht 200 Metern da draußen irgendwo auf der Straße herumliegen und auf eine sehr andere Art als ich über kälter werdende Nächte nachdenken.

Mehr zum Song hier.

Der junge Mann, der sich da im Video neben ihnsetzt und mitspielt, ist sein Sohn.

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Frau Novemberregen schreibt hier über nervige Technik und landet gedanklich auch bei: „Ich hatte immer gehofft, Technik wird einfacher. Dass man alles immer mehr verkomplizieren muss, wegen Sicherheit, finde ich außerordentlich misslich. Vielleicht werde ich irgendwann in Frührente gehen, weil ich mich nicht mehr dazu aufraffen kann, auf die Dinge zuzugreifen und dabei an verschiedene Spielchen wie Passwörter, Codes, Captchas, PINs etc teilzunehmen.“

Das kann ich gut nachvollziehen, sehe aber auch, wenn man es nur ein wenig mehr ins Private verschiebt, dass dies einer der möglichen Wege ist, wie auch unsere Generation irgendwann nicht mehr am aktuellen Technikgeschehen teilnehmen und irgendwann fast unweigerlich die Enkel fragen wird, wie das denn geht heutzutage, wie man wo reinkommt und was wie zu tun ist …

Es wird sich mit großer Selbstverständlichkeit so ergeben, nehme ich an. Schon damit auch unsere Enkel die Köpfe schütteln können und zu Weihnachten unsere Hardware justieren dürfen.

Und wir werden daneben sitzen, ihnen eine Weile zusehen und uns dabei mit mildem Erstaunen an die Erhabenheit erinnern, mit der wir das neulich noch bei unseren Eltern gemacht haben und leise murmeln: „Well, that escalated quickly.“

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Höhere Persönlichkeiten und Absichten

„Abgesehen von möglichem Regen trocken.“ Wenn das so im Wetterbericht steht, und ich las es gerade eben dort, ist es ein Fall von eklatanter Arbeitsverweigerung? Oder ist es eine passiv-aggressive Variante von „Guck doch aus dem Fenster, du Trottel“? Vielleicht also wieder ein Fall von „Kein Tag ohne Demütigung“.

Oder zehrt am Ende nur diese etwas seltsame erste Woche nach dem Urlaub dermaßen an meinen Nerven, dass ich doch arg empfindsam werde. Quasi aufgerieben vom Alltag?

Fragen über Fragen.

Wie auch immer, eine Empfehlung zum Weiterdenken habe ich jedenfalls heute für Sie. Gestern hörte ich auf dem Rückweg vom Büro einen Podcast über die anhaltende und sich auch jederzeit neu belebende Kultbereitschaft des Menschen. Über unsere Neigung, etwas glauben zu wollen, weit über uns hinaus empfinden und hoffen zu wollen. Über die Verbindung dieser sich seit Anbeginn unserer Geschichte wiederholenden Lust am Übersinnlichen mit dem Numinosen in unserer Zeit. Also mit AI oder KI, wie Sie lieber mögen.

Die österreichische Theologin und Philosophin hat darüber ein Buch geschrieben („Der neue Gott – Künstliche Intelligenz und die menschliche Sinnsuche“, Verlagslink) und sprach darüber im philosophischen Radio beim WDR. Die Folge ist 53 Minuten lang, man wird vielleicht einige Gedanken noch darüber hinaus verfolgen wollen.

Die Kanzel am Altar von St Jacobi, dahinter die bunten Fenster

In diesem Zusammenhang – ich konnte jahrelang mit Reddit nichts anfangen. Zu AI aber lese ich dort bei etlichen Gruppen mit, da ich da auch aus beruflichen Gründen einiges mitbekommen muss. Es ist allerdings ein weiterer und deutlicher Fall von „Unfallgucken auf der Autobahn“. Denn insbesondere in den Beiträgen aus den USA kann man das, was auch in den Medien hier und da vorkommt und worum es in dem eben verlinkten Podcast geht, dass die AI nämlich geeignet scheint, etliche dafür anfällige Menschen in Psychosen und seltsame Kultvorstellungen zu treiben, derart deutlich beobachten, und es geschieht in einer Geschwindigkeit – es hat mich doch etwas schockiert.

Wie viele da eine Softwarevariante im Ernst als hochkompetenten Therapie-Ersatz nutzen und wie viele dieser Technik eine Art höhere Persönlichkeit und damit einhergehend auch ganz selbstverständlich höhere Absichten zusprechen. Es ist gruselig, aber es ist zweifellos auch interessant. Mehr Vertrauen in die Zukunft der Menschheit gewinnt man so allerdings nicht.

Zum Ausgleich habe ich dann noch das von Fontane gehört, was vom Titel her einfach immer passt. Was außerdem angenehm kurz ist und zudem eine nahezu perfekte, überaus klug durchkomponierte Liebesgeschichte darstellt, zumindest aus der Schublade „Ohne Happy-End“: Irrungen, Wirrungen.

In der ARD-Audiothek ist es verfügbar, schön gelesen von Jutta Hoffmann.

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Wenn man vorher weiß, wie es ausgeht …

Ich sah auf arte noch eine weitere Filmdoku, diesmal über Wim Wenders. Besonders gegen Ende fand ich es interessant, bei den Berichten zu den Dreharbeiten an „Perfect Days“. Den ich auch noch vor mir habe.

Es wurde dabei mit den Methoden des Dokumentarfilms gearbeitet und Wim Wenders sagt da, dass er generell bei Geschichten nicht an ersten, zweiten und dritten Akt glaubt. Der Hauptdarsteller, Koji Yakusho, überlegt sich, was ich nicht überraschend, eher angenehm bestätigend finde: „Wenn man eine Person intensiv beobachtet und eine Zeit lang filmt, entsteht allein dadurch schon ein Film.“ Wobei Film austauschbar ist. In der Literatur gilt es auch, auf diese Art können Geschichten, Romane etc. aller Art entstehen.

Wenn man schon bei Wim Wenders ist, kann man sich auch noch „Don’t come knocking“ mit Sam Shepard von ihm ansehen. Ich habe es mit Gewinn getan.

Paris, Texas“ ist ebenfalls verfügbar. Weil ich dabei mit den Filmen durcheinanderkam, habe ich eher versehentlich eine Weile zwischen dem vorher angefangenen „Himmel über Berlin“ und seinen anderen Werken hin und her geschaltet und hatte dadurch ein erfreuliches Aha-Erlebnis. Denn wenn man so herumklickt, erkennt man auf einmal deutlich die Ähnlichkeiten in den Rhythmen der Filme, im Schnitt und in den Einstellungen, überhaupt in der Ausführung. Erkennt also die Handschrift des Regisseurs.

So markant fällt mir derartiges sonst nicht unbedingt auf. Weil ich vielleicht auch nicht kundig genug zusehe. Das fand ich gut und erhellend.

Dann hörte ich Alles gesagt mit Wim Wenders. Das ist ein immerhin siebenstündiger Podcast, also eher schon ein Hörbuch. Über seine Geschichte und über sein Filmen. Ein Stück deutscher Geschichte ist es unweigerlich auch, allein schon die Passagen über Fritz Teufel und die damalige Nachbarschaft lohnen.

Ich habe nicht erwartet, dass mich ein Podcast in dieser Überlänge tatsächlich bis zum Schluss interessiert. Ich dachte, ich höre da nur mal rein, dann bin ich aber doch dran- und also hängengeblieben. Erfreulich unterhaltsam fand ich es, auch lehrreich. Es machte darüber hinaus Lust auf noch mehr Filme.

Nette Zitate konnte ich nebenbei einsammeln, etwa diesen Satz von Wim Wenders über das Beginnen von Filmprojekten, quasi das Mantra der Wir-plotten-nicht-Fraktion, denn auch das wird übertragbar auf andere Erzählformen sein: „Wenn man vorher weiß, wie es ausgeht, ist es geschummelt.“

Heruntergefallene Spielkarten auf dem Pflaster, daneben schon herbstliches Laub

Und einen wunderbaren Widerspruch gab es außerdem noch, der während des Gesprächs keinem der drei redenden Herren aufgefallen ist. Denn im Verlaufe der Erzählung lobt Wim Wenders da zuerst die wilden und eher rabiaten Umschwünge in Karrieren, das Wechselhafte und das Abbrechen, die Kurven im Lebenslauf. Mit der Erläuterung, dass es der (kreative) Tod sei, zum Experten zu werden. Dass man also immer wieder neu beginnen müsse. Um frisch zu bleiben etc., man kennt das.

Ich halte das für eine Aussage, bei der man unbedingt eine Art Survivorship-Bias mitdenken muss. Denn all jene, die an solchen Umschwüngen krachend gescheitert sind (es wird doch wohl die überwiegende Mehrheit sein), von denen man nach einem solchen Wechsel nie wieder etwas gehört hat, die ihre Karrieren mehr oder weniger mutwillig auf diese Art schwungvoll an die Wand gebrettert haben – die werden kaum noch ein Loblied auf diese edel klingende Methode singen. Man kann so etwas nur propagieren, wenn man auf eine so attraktive Gesamtstrecke wie Wim Wenders zurückblickt.

Es taugt als Lebensweisheit also nur ex post, nicht aber als Leitlinie und Maxime für junge Menschen.

Etwas später in der Sendung geht es dann um die berühmten japanischen Handwerker. Die so viele Jahre damit zubringen, eine Fertigkeit bis zu einer Präzision und Meisterschaft zu beherrschen, die sich nur noch in Geschichten, Gleichnissen und Filmen ausreichend loben und darstellen lässt. Die da also nicht nur irgendwie Löffel schnitzen, wie es Kunsthandwerker überall auf der Welt tagein und tagaus machen, sondern die jedes Mal in einem weihevollen Akt DEN Löffel schnitzen. Die damit also für eine Form der Perfektion stehen, die in der westlichen Welt in dieser Ausprägung und mit diesem Assoziationsraum keine wirklich entsprechende Tradition hat.

Dies ist aber das Gegenteil der zuerst gemachten Aussage. Hier ist dann das Expertentum nicht mehr der Tod, sondern vielmehr die Vollendung. Und die vielleicht naheliegende, mystische Gleichsetzungen der beiden Begriffe Tod und Vollendung lassen wir heute mal aus. Man kann sich auch nicht immer um alles kümmern.

Ein Widerspruch jedenfalls, ein eklatanter Widerspruch, möchte man da vielleicht dazwischenrufen, wenn einem so etwas auffällt. Was bei Podcasts aber Gott sei Dank nicht geht. Wodurch man gnädig vor schlimmer und auch vollkommen unangemessener und außerdem arg boomerhafter Besserwisserei bewahrt wird.

Denn es ist nun gewiss nicht so, dass man selbst in der Lage wäre, sieben Stunden lang über sein Leben zu reden, ohne sich dabei gründlich und vielleicht auch peinlich in den Widersprüchen all der Versatzstücke zur eigenen Lebensweisheit zu verstricken. Nehme ich an.

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Ein weiteres Mängelexemplar

Am Montag der erste Arbeitstag. Ich bewege mich in etwas unerwartet schneller Eskalation von einem morgendlich munteren „Ach komm, man könnte auch mal wieder was wegarbeiten, nach so langer Pause“ zu einem von früher noch erinnerbaren „Es tut gleichmäßig weh“, etwa ab den zweistelligen Uhrzeiten.

Aber was soll’s. Erste Tage, nicht wahr. Was heißt es schon (sagen Sie jetzt nichts).

Nach der Arbeit in Hammerbrook gab es dann noch familiäre Verwicklungen, Planungspannen, Terminprobleme und organisatorische Kalamitäten. Insgesamt war es also ein etwas gebraucht wirkender Wochenanfang, schadhaft an den Rändern und gut lesbar als Mängelexemplar abgestempelt.

Weiter warten auf den Hauptgewinn in der Tageslotterie.

Ein Hamburger Mülleimer mit dem Aufdruck: Hier Deine Sorgen einwerfen

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Christian Buggisch schreibt über die Zeichen der Zeit, unter sinniger Berufung auf Nils Minkmar. Und landet immerhin bei Kant, womit er aus meiner Sicht auch nicht verkehrt liegt.

Bevor man das Thema aber, nur weil es nun einmal naheliegend scheint, als Verbitterungstirade alternder Menschen auffasst und damit doch zu schnell abtut – es ist, soweit ich weiß, mittlerweile soziologisch unterfüttert, was er da schildert. Wir leben in einer Gesellschaft mit einem nicht mehr so dezenten Regelverlustproblem.

Oder, wenn man es kurz umdreht, mit einem millionenfachen Egoproblem.

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Noch etwas zur abebbenden Reisesaison: Sven beobachtet einen KI-Trend bei Touristen, der mir hier bisher noch nicht aufgefallen ist. Ich nehme aber an, dass es bald alle auch hier so machen werden, in Kürze schon. Es kommt mir erwartbar vor.

Wenn ich da dann durchs Bild latsche, dann sagt die fast allwissende Software vielleicht zu den Reisenden: „Im Hintergrund ein Blogger, der schreibt nachher über sie.“ Und dann gucken die sich wahrscheinlich alle misstrauisch um, die aus den Reisegrüppchen, und machen erst einmal gar nix mehr. Sicherheitshalber.

Und vielleicht ist das dann auch gut so.

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Hier noch ein KI-Erfahrungsbericht aus Autorinnensicht. Wobei ich lustigerweise die überflüssige Verfloskelung, die sie in der ausgegebenen Sprache der Software da feststellt und bemängelt, auch als typisches Merkmal der sich ändernden Berufswelt bemerke. Jüngere und sehr viel jüngere Menschen schreiben immer öfter so, dass ich mich im Vergleich dazu wie ein alter, bulliger Drill-Sergeant fühle, mit meinen telegrammartig gebellten Antworten, also aus deren Sicht.

Es geht mir dermaßen gegen den Strich, eine berufliche Kommunikation, die mit zwei Worten zu erledigen wäre, zeitgemäß mit dem trendgerechten „Ich hoffe, es geht dir gut, du hast eine glückliche Familie und die Sonne scheint auf allen deinen Wegen“ zu beginnen, wobei ich jetzt nur minimal übertreibe. Dabei möchte ich doch nur kurz, knapp und schnell sein.

Wie auch immer. Wie weit ist es noch bis zur Rente? „Aushielt er, bis er das Ufer gewann.“ Ich denke vermutlich irgendwann nur noch in Fontane-Zitaten, und das wird dann auch schön sein.

Zumindest für mich.

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