Technische Hilfsdienste

Es passte hervorragend in eine mit Arbeit eher drastisch überfüllte Woche, dass der Fernseher meiner Mutter den Geist aufgab und sie in großer Not bei mir anrief. Also ging ich nach den endlosen Meetings etwas atemlos vom Tag dort vorbei und besah mir die Lage. Denn selbst regeln kann und will sie so etwas nun nicht mehr, was auch vollkommen verständlich ist.

Von Fernsehern verstehe ich in etwa so viel wie von Automotoren oder von Raketenwissenschaft, also nichts. Ich sehe ja nicht einmal fern und stelle daher beim ratlosen Tippen durch die nicht eben selbsterklärenden, seltsam kryptischen Menüs auf dem Gerät fest, dass mir sämtliche Abkürzungen und Begriffe fremd sind. Ich habe das alles nie gehört.

Der Fernseher findet jedenfalls keine Kanäle mehr, so viel scheint mir festzustehen. Allerdings ich bin in dieser speziellen Lage so hilfreich wie ein herumspielendes Äffchen, welches die Fernbedienung entwendet hat und nun darauf herumnagt. Kein Tag ohne Demütigung, denke ich mir noch, und sage dann, was klar zu sein scheint, nämlich dass das Gerät wohl kaputt sei.

Das habe sie auch schon festgestellt, sagt meine Mutter, und sieht mich mit einem Blick an, in dem die alte Frage mitschwingt, was sie da für ein seltsames Phänomen damals zur Welt gebracht hat und warum bloß.

Von solchen Geräten verstehe ich wirklich entschieden zu wenig. Aber ich kann im Internet nachsehen und nach Lösungen oder Erklärungen suchen, das dann doch. Ich finde dabei schnell heraus, denn ich kann recht gut nachsehen, dass Geräte dieser Marke gerne und häufig mit solchen Problemen verrecken. Auch unanständig früh nach dem Kauf, in diesem Fall nach sechs Monaten. Zeiten, Sitten, dies, das. Es gibt Kundenberichte in großer Zahl, die Lage wird klarer.

Ich bestelle noch vor Ort ein neues Gerät einer anderen Marke, es ist Eile geboten. Meine Mutter ohne Fernseher ist in etwa so wie ich ohne Internet, das möchte man nicht.

Dann suche ich nach dem Karton, um den schadhaften Fernseher zurückzuschicken. Den Karton gibt es nicht mehr, der stand doch nur herum. Da wird man also einen passenden Karton besorgen müssen oder aber den des bald kommenden neuen Gerätes nehmen, so dass dann später wieder dieser fehlen wird. Es klingt ein wenig nach einer geeigneten Vorlage für Kishon, aber der lebte vor dem Retourenzeitalter. Was ein wenig schade ist, er hätte dermaßen viel daraus machen können.

Abends erzähle ich der Herzdame von meinen Abenteuern und frage mich dabei, wieso es nicht längst ein etablierter Beruf ist, Hilfsleistungen für so etwas anzubieten. Es haben doch nicht alle alten Menschen Kinder oder Enkel stets parat, um die Ecke und mit viel Zeit. Ist das kein Markt, wenn auch kein besonders lukrativ wirkender, um es betriebswirtschaftlich eiskalt auszudrücken, so dass man sich die gefühlte soziale Wärme mühsam dazudenken muss?

Die Herzdame sagt, dass ein junger, ein sogar sehr junger Mensch aus unserem weiteren Bekanntenkreis gerade damit angefangen habe. Erste Inserate habe der geschaltet, und es liefe wie sonst etwas. Ein Auftrag nach dem anderen. Updates, und Technikklimbim, so etwas mache der. Da gäbe es nämlich Anforderungen ohne Ende.

Wer weiß, wann auch meine Altersgruppe Bedarf daran entdeckt, denke ich und vermeide bemüht jede Arroganz. Man wird vermutlich in solchen Situationen enden, verzweifelt vor irgendeinem kleinteiligen Technikhorror und als treuer Kunde solcher Dienste, da habe ich wenig Zweifel. Wenn man so etwas später überhaupt bezahlen kann, versteht sich.

Aber früher, sage ich noch, denn es steht mir qua Geburtsjahr zu, dass zu sagen, und es ist vielleicht sogar eine Art Beitragspflicht, früher kam der Mann von dem einen Elektrogeschäft im Ort und hat das alles für einen gemacht und gerichtet. Und das war auch gut so, im Nachhinein betrachtet, und wie herrlich einfach war es.

Im Heimatdorf der Herzdame kann man sogar noch die letzten Ausläufer dieser Zeit erleben, es ist überaus faszinierend. Ein Gerät geht nicht mehr, dann ruft man im Fachgeschäft an, in dem man es gekauft hat. Man erklärt das Problem, vielleicht sogar auf Platt, und kurz darauf kommt der Chef vorbei, regelt das entspannt und trinkt ein Bierchen. Wie vorabendserienmäßig klingt das denn, „Das Fachgeschäft auf dem Land.“

Immerhin kommt der neue Fernseher für meine Mutter dann in Rekordzeit an. Immerhin gelingt mir auch die Einrichtung, immerhin geht jetzt alles wieder. Und es wird am Ende auf diese Art mehr, deutlich Greifbareres und mit viel höherer Kundenzufriedenheit erreicht als bei den endlosen Meetings im Büro.

Das gilt es immerhin auch zu beachten, um die Motivation und den letzten Rest Schwung noch hinüberzuretten. In eine weitere Woche dieser Art.

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Im Bild Tauben in Hammerbrook. Warum auch nicht.

Tauben in einem Busch am Ufer des Mittelkanals im Hammerbrook, man sieht nur die Silhouetten.

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Im Frühstücksraum am Abend

Ab und zu sollte man vielleicht auch einmal hören oder sonstwie zur Kenntnis nehmen, wozu man gar keinen rechten Bezug hat. Weil Tellerrand, weil Horizont, weil Komfortzone etc., Sie kennen das.

Daher weiß ich jetzt, was Scrunch-Leggings sind. Und ich würde sie nun im Alltag erkennen können, bisher kannte ich aber nicht einmal den Begriff. Ob mir das Wissen etwas nützt, das weiß ich nicht, aber immerhin habe ich gelacht, als der wunderschöne und bei diesem Thema unvermutete Satz fiel: „Am Ende frohlockt der Kapitalismus.“

Wie lange ich das Wort Frohlocken wohl schon nicht mehr wahrgenommen habe. In meinem Abreißkalender mit alten Begriffen standen gestern und vorgestern Spompanadeln und Menkenke, fällt mir dabei noch ein. Sprache ist doch ein besonders schönes Spielzeug.

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Außerdem habe ich heute einige Kurzgeschichtenzutaten für Sie. Aber es ist wie bei Ikea, sie müssen Sie schon nach Bildvorlage selbst zusammenbauen.

Das Bild sieht so aus: Ich gehe am Abend an einem Hotel vorbei. Was in diesem Stadtteil bei jedem Gang vor die Tür unvermeidlich ist, denn gefühlt ist jedes zweite Haus ein Hotel. Und wenn irgendetwas neu gebaut wird, dann wird es auch ein Hotel, man muss da nicht lange vor dem Bauzaun herumraten. Der Stadtteil ist winzig, aber nach den Übernachtungszahlen ist er ein Hamburger Riese.

Ich sehe im Vorbeigehen in das Fenster eines Frühstücksraumes. Es ist ein betont mittelmäßiger Frühstücksraum, und in der Mitte ist es einer vom unteren Rand, wie man sofort sieht. Günstig und zweckmäßig eingerichtet ist er, aber immerhin auch nicht schäbig. Man kann sich, wenn man nur diese Tische und Stühle sieht, das Frühstückbuffet am nächsten Morgen schon vollständig vorstellen und wird dabei kaum falsch liegen können.

Discounterware manierlich angerichtet, der eine Petersilienschnipsel auf den Käsescheiben (Gouda, jung), man könnte das auch zuhause so inszenieren. Also ich jedenfalls.

So kalte Beleuchtung, dass ein Maler wie Hopper seine Freude daran gehabt hätte. Die Nacht in den Straßen, in denen es nach Winterregen riecht, der, was sagt die App, in sieben Minuten beginnen wird. Und in der Februarnacht der Schein aus diesem Fenster.

Es ist kurz vor acht Uhr am Abend, und da wir in einen Frühstücksraum sehen, sind keine Gäste darin. Es gibt jetzt kein Frühstück. Alles ist aufgeräumt, zurechtgerückt und sieht einsatzbereit aus, Der Boden glänzt noch etwas feucht. In der einen Ecke des Raumes sitzt eine Frau vom Reinigungspersonal und trinkt eine Tasse Kaffee, vielleicht zum Feierabendbeginn. Betont gerade sitzt sie da, es sieht keineswegs entspannt aus. In etwa so sitzt sie da, als sei es nur eine weitere ihrer Aufgaben an diesem Tag, eine Tasse Kaffee an genau diesem Platz zu trinken.

In der anderen Ecke des Raumes, und zwar so weit entfernt, wie der Raum es eben hergibt, sitzt einer vom Sicherheitspersonal. Mit dem Wort Security erläuternd auf der Weste. Manchmal werden seit einigen Jahren in der Wirklichkeit Bilder durch gutlesbar beschriftete Menschen verdeutlicht, das vereinfacht das Beschreiben recht angenehm. Dieser Mann trinkt keinen Kaffee. Der sitzt da nur und guckt, knapp an der Frau vorbei. Also soweit man das im Vorbeigehen eben erkennen kann. Sein Gesichtsausdruck ist unbestimmt. Die Herzdame sagte neulich zu mir, als es um ein Foto ging: „Guck mal normal, also ins Leere“, und in etwa so sieht wirkt der Blick des Mannes.

Sie reden nicht miteinander, sie sehen sich auch nicht an. Sie sind etwa gleich alt. Denken Sie sich etwas, irgendetwas über die Herkunft und das Aussehen der beiden. Hier ist vieles möglich, denn es ist die Mitte einer Millionenstadt, in der die Szene stattfindet, es ist daher nahezu alles denkbar. Casten Sie geeignetes Personal, kombinieren Sie herum und schreiben Sie die nächste Regieanweisung.

Es liegt ja auf der Hand, dass etwas passieren muss, geben Sie dem Stück eine Richtung. Vielleicht aber besser ohne den Typen draußen vor dem Fenster einzubeziehen, der so merkwürdig interessiert hineinsieht, ich habe heute schon etwas anderes vor.

Das sind jedenfalls die Geschichten, an denen ich hier vorbeigehe. Auf einer Linie zwischen Edward Hopper und Aki Kaurismäki liege sie vielleicht, Fassbinder ist auch nicht weit weg. Die Namen passen etwas aufdringlich gut zu diesem Bild im Frühstücksraum am Abend. Ein wenig zu gut passen sie vielleicht, wie ich sofort einsehe und den Betrachtenden zugestehe. Es macht schon wieder misstrauisch und will womöglich auf die eine oder andere Art gebrochen werden, möchte man annehmen, vielleicht aber ist die Erwartung des Bruchs auch schon wieder zu vorhersehbar …

Und womöglich ist es alles ganz anders. Das liegt bei Ihnen.

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The words of the prophets

Wenn man sich Meldungen der Auslandspresse automatisiert übersetzen lässt, was ich oft mache, weil ich verblüffend viele Sprachen aus aller Welt nicht perfekt beherrsche, ist der Bundeskanzler erstaunlich oft eine Bundeskanzlerin, es fiel mir gerade wieder auf. Sicher ist da so, weil sie das in den Trainingsdaten aus den letzten Jahrzehnten eben stets war.

Es ist etwas deeper als man zunächst denkt, nicht wahr. Man könnte schon wieder ganze Seminarthemen daraus ableiten.

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Nach der Mittwochsarbeit in dirty old Hammerbrook sah ich auf dem Heimweg eine bunte Kreideschrift auf dem Fußweg. „Zivilisationsfette abbauen!“, das stand da. Recht groß sogar, in beachtlich ordentlicher Handschrift und auf gerader Linie. Was war damit nun genau gemeint, überlegte ich im Vorübergehen, und hatte dieser Fußweg mich gerade dick genannt. Aber man kann sich nicht immer alle Fragen des Tages zufriedenstellend beantworten. Schlimm.

Später sah ich auf der Abendrunde, dass es noch mehr neue Kreideschriften im Stadtteil gab, da muss jemand beachtlich fleißig gewesen sein. Man kann sich durch den folgenden Text, den ich für Sie fotografiert habe, direkt angesprochen oder sogar mit einem To-Do, einem Heldenreiseauftrag gar versehen fühlen. Wenn man denn bereit ist, dabei die vorangestellte Beleidigung hinzunehmen. Aber irgendwas ist ja immer.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Die Loser retten die Welt

Die signs of the prophets allerdings, das wissen wir ohnehin und auch schon seit langer Zeit, sie stehen gar nicht auf dem Fußweg, sondern selbstverständlich korrekt nur on the subway walls and tenement halls.

Und man muss das Internet übrigens auf eine altmodische, fast schon vergessene, längst in den Hintergrund gedrängte Art lieben, weil es auch zu Zeilen wie diesen spärlichen Zitatbrocken im letzten Absatz mit großer Selbstverständlichkeit ausufernde Diskussionen gibt. Wie etwa diese hier, ein beliebig herausgegriffenes Beispiel. Diskussionen, in denen Menschen mit Feuereifer Gedanken und Kenntnisse zusammenwerfen, wir sehen das oft auch unter Youtube-Videos.

Es ist doch ein Wert, dass es so etwas gibt. Es kommt mir tatsächlich wertvoll vor, dass Neugierige und Lernende auf derart kurzem Weg von Paul Simon zum Buch Daniel und bis zu zu Bob Dylan finden können. Man muss hoffen, dass uns so etwas noch lange erhalten bleibt.

Und ich bin natürlich so altmodisch sozialisiert, dass ich es auch deutlich netter finde, Wissenshäppchen und interessante Verzweigungen in solchen Diskussionssträngen zu finden, als mir alles von AI aufbereiten zu lassen, was heute auch eine Möglichkeit wäre.

Fehler im Denken und auch Halluzinationen wird es gewiss auf beiden Wegen geben, wie wir wissen. Aber die Fehler der Menschen sind mir doch noch etwas sympathischer.

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„Die Glücklichen“ von Kristine Bilkau habe ich nunmehr komplett durchgehört (Sandra Hüller las in der ARD-Audiothek), und es gefiel mir gut, es war auf die beste Art entspannend und ansprechend. Außerdem war angenehm unpolitisch, was mir in diesen Wochen eine besondere Freude ist. Keine Partei wurde erwähnt, keine Strömung, kein Rechtsausleger. Aber wenn man ganz doll möchte, kann man selbstredend auch den Inhalt dieses Romans politisch oder soziologisch verstehen, und so gefällt es mir gerade.

Jetzt höre ich das Buch, nein, eher Hörspiel, von Annie Ernaux über ihren Vater. Was nur konsequent ist, da ich das Buch über ihre Mutter „Eine Frau“ neulich schon gehört habe (hier kurz erwähnt). „Der Platz“, so heißt das Vaterbuch, gelesen von Stephanie Eidt. Ein arg kurzes Buch, ein Büchlein nur, das reicht gerade für einen längeren Spaziergang.

Dann muss man schon wieder weitersuchen, irren und streben.

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Jemand hat gut geschlafen

Seit vier oder fünf Tagen finde ich jeden Morgen irgendwo eine Schlagzeile, die mir berichtet, dass der Papst eine gute Nacht gehabt habe. Wie besinnlich und wie immerhin ist das denn. Da ruhig mal einen Moment innehalten und es erfreut zur Kenntnis nehmen, was offensichtlich auch eine Nachricht sein kann: Jemand hat gut geschlafen. Und also überlebt, das auch.

Es wirkt ausgesprochen skurril, solche Sätze in unserer aktuellen Nachrichtenumgebung zu lesen. Aber es hat auch etwas in seiner verblüffenden Rückwärtsgewandtheit. Neofeudalismus in nett, was es alles gibt.

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Nach der wiederum etwas marathonmäßigen Montagsarbeit fuhr ich spontan mit der U-Bahn runter zu den Elbbrücken, um von dort einige Minuten auf die Elbe zu sehen und den Tag zu veratmen. Flussabwärts sah ich dabei, versteht sich, denn flussaufwärts wirkt an dieser Stelle irgendwie nicht sinnvoll. Wenn es überhaupt irgendwo sinnvoll wirkt, flussaufwärts zu sehen, ich bin mir gerade nicht sicher.

Dahin jedenfalls sah ich, wo der Hafen ins Bild rückt. Wo später, also viel später, Blankenese kommt, irgendwann Cuxhaven, wo die Elbe schließlich mündet, wo Helgoland liegt, England, Schottland und alles. Und dann leise La Paloma pfeifen, ein alter Hamburger Trick zur zuverlässigen Befindlichkeitsverbesserung.

Die Elbe am Abend von der Station Elbbrücken aus

Eine Art Rettungsblick war das für mich. Denn es kann einem wieder ein wenig Richtung und Ziel vermitteln, an einem gut orientierten Strom zu stehen, der eindeutig weiß, wo er hinwill. Das fühlt sich manchmal gut und innerlich ordnend an. Besonders dann, wenn man stundenlang eher wild und verworren an einem Bildschirm gearbeitet hat. Ohne rechten Bezug zur greifbaren Wirklichkeit und ohne rechte Aussicht auf Erlösung oder auch nur auf finale Verfertigung.

Was man in einem Büro so macht, Sie kennen das.

Zwei junge Frauen gingen an mir vorbei, während ich an dieser Station stand und die Flusslandschaft mit Schiffen und Stadt vor mir einen Moment bestaunte, ich hörte einen ihrer Sätze: „Bei uns gehen jetzt die ganzen Boomer in Rente, das ist ja auch so ein Problem, meine Güte.“

Es wirkte wieder ein wenig dokumäßig, dass eine der Frauen dies so ausgesprochen passend und auch gut verständlich aufsagte, als sie an mir vorbeiging, etwas theaterhaft wirkte es vielleicht auch. Aber man sucht es sich nicht aus, und so geht es da draußen eben zu. Dieses in den Medien oft erörterte Problem spiegelt sich tatsächlich vielfach in der Wirklichkeit, q.e.d.

Verbuchen wir es einfach unter Bestätigungsbloggerei, wofür man vielleicht eine neue Rubrik einführen und ein Format erfinden müsste.

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Herfried Münkler kam hier in letzter Zeit öfter vor und nun schon wieder, denn ich empfehle gerne, sogar besonders gerne seine Wahlnachlese und Lagebeurteilung im Politikteilpodcast der Zeit. 46 Minuten, die ich ausdrücklich auch wegen der Sprache weiterreiche.

Denn der Herr Münkler ist ein gebildeter Mensch, der sehr viel von dem versteht, was er da beurteilt. Und er würdigt auf die denkbar angenehmste und niveauvollste Art einige Gestalten der aktuellen Politik wunderbar herab, es war mir ein wahres Fest. Zumal ich die Meinungen glücklicherweise fast durchweg teilte, das fügte sich ebenfalls angenehm.

Auf dieser Ebene zu diskutieren – es ist doch etwas anderes als das, was wir in den Nachrichten meist als Wortmeldungen aus den Parlamenten etc. lesen.

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Frau Novemberregen dagegen wird lästige Bürgerin, und das halte ich auch für eine ausgesprochen respektable Entscheidung.

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Edward Zitron schließlich ist wieder lesenswert, wenn Sie sich für AI oder für den AI-Markt interessieren. Auch wenn der Text wieder betont länglich daherkommt: There is no AI revolution. Keine der Firmen im AI-Kontext verdient Geld, und er hat sicher Recht damit, dass man es nicht oft genug sagen kann.

Kein Gewinn, nirgends. Aber wir nehmen es nicht als Tagesmotto, nur als Nachricht.

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Nur drei, vier Links

Ich höre am Morgen sehr früh eine Radionsendung. In der wird mir berichtet, dass die unerträgliche Kandidatin der extremrechten Partei am gestrigen Morgen einen Anruf des sehr reichen Typen von DOGE verpasst habe. So also beginnen nun die Tage in diesen Zeiten. Was auch immer man medial zur Kenntnis nimmt, es ist mit großer Sicherheit TMI. Bezogen auf die Stimmung am Tagesanfang, bezogen auf die Motivation und auf die Gelassenheit. Was auch immer das noch einmal genau war.

Nun. Immer wieder habe ich in diesen Wochen das schon mehrfach aufgeführte Knef-Zitat im Sinn: „Dass es gut war, wie es war, das weiß man hinterher, dass es schlecht ist, wie es ist, weiß man gleich.“ Es ist so ein Satz, der bei einem Rückblick auf die letzten Jahrzehnte Romane gebären kann.

Ein anderes Thema, das gerade in der Luft zu liegen scheint, da es an so vielen Stellen gleichzeitig vorkommt: I’m tired of pretending tech is making the world better. Diese Geschichte mit der Speisekarte trifft es sehr gut, denke ich, man könnte etliche Beispiele dieser Art sammeln.

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Ein Besinnungsaufsatz von Dan Sinker (Wikipedia über ihn) zum schönen Thema „Fascism always fails.“ Mit viel Geschichtswissen über den Ku-Klux-Klan, denn es gibt keinen Mangel an unerfreulichen Themen aus Vergangenheit und Gegenwart, wir sind reich versorgt.

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Frau Novemberregen schreibt über das Wahlergebnis: Wie soll ich da irgendwas verstehen. Die Kaltmamsell weist darauf hin, was noch ein Glück ist, Wolfgang erläutert die Gedanken böser Menschen und Sven bloggt (manchmal kommen sie wieder!) über seinen Einsatz als Wahlleiter.

Ein Aufkleber an einem Ampelmast: Sei kein Arschloch

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Wir winken schließlich Roberta Flack, mit herzlichem Dank für die Musik. Im Plattenschrank meiner Mutter stand damals in den Achtzigern das Album „Killing me softly“, auf dem man vorne den Deckel des Flügels aufklappen konnte. Das war lange bevor die heute allfälligen Pop-Up-Effekte bei Karten etc. weit verbreitet waren, es war noch originell. Und es war überhaupt das einzige Cover, das von der Gestaltung her derart herausragte und anders als die anderen war.

So wie das Doppel-Album von Elvis das einzige war, welches farbige Schallplatten enthielt (in poppigem Pink).


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Im bunten Gewimmel II

Um achtzehn Uhr habe ich einen schnellen Blick auf die Hochrechnungen geworfen. Hätte ich vorher auf gewisse Ergebnisse gewettet, ich hätte diesmal ordentlich abgeräumt. Aber es gab auch schon andere Wahlabende in den letzten Jahrzehnten, das ist also leider keine besonders verlässliche Begabung, die ich gewinnbringend umsetzen könnte. Und es bringt einem auch nichts, bei so etwas richtig zu liegen, es macht einen nicht glücklicher. Vielleicht im Gegenteil. Wie die Herzdame gerade sagte, während ich schrieb: „Wir liegen richtig, aber gut ist das nicht.“

Ich prüfte dann noch kurz, ob die geschätzten Kolleginnen aus den diversen Wahlforschungsabteilungen meiner Brotberufbranche halbwegs richtig gelegen haben. Eine gewisse Verbundenheit mit dem Thema fühle ich doch stets mit. Auch wenn es über 25 Jahre her ist, dass ich mit Wahlforschung direkt etwas zu tun hatte und ich seitdem nur im administrativen Bereich tätig, also verlässlich vollkommen unschuldig an veröffentlichten Ergebnissen bin. Es ist mir dennoch wohler, wenn es nicht katastrophal danebengeht.

Zehn Minuten später konnte ich es alles auf einmal nicht mehr sehen und brauchte dringend eine Politikpause, sofort, unverzüglich. Ich habe das Notebook fast ruckartig zugeklappt und bin rausgegangen. Wo viele andere Menschen auch gerade mit Spaziergängen beschäftigt waren, enorm viele sogar, und wo das ganze Nachrichtenelend nicht stattfand. Wo alles normal aussah, urban as usual.

Im Hauptbahnhof stand ich eine Weile oben auf der Galerie in der Wandelhalle und sah planlos zu, wie sie da unter mir durcheinandergingen. Die Hunderte, Tausende von Leuten aus zehn, zwanzig, dreißig und sicher noch mehr Nationen, Herkunftsländern, Hintergründen etc. Wie sie da alle durchreisten, ankamen, abreisten, sich begrüßten, verabschiedeten, zu Zügen eilten, einkauften, aßen, tranken und redeten, sich umarmten, küssten und einander zuwinkten. Und es war alles ganz normal.

Was man sich ab und zu einmal klarmachen sollte, was sich vermutlich viel mehr viel öfter klarmachen sollten. Dass das alles läuft. Dass das längst so ist, dass es vollkommen normal ist. Ohne Aufregung, ohne Krawall, ohne dass sich alle an die Gurgel gehen. Die Menschen wimmeln ameisenhaft gekonnt durcheinander, sie stoßen keineswegs dauernd zusammen, sie kollidieren dabei nicht alle paar Schritte. Und eine überwältigende Mehrheit, wie man im Wahlkontext immer sagen muss, eine überwältigende Mehrheit benimmt sich normal, unverdächtig, unauffällig, alltagskonform. Sie gucken dabei nicht einmal aufs Smartphone, sie lesen dabei nicht einmal die sich überschlagenden Politiknachrichten mit. Sie machen einfach ihr Ding.

Eine Stunde Hauptbahnhof, das kann auch lehrreich sein. In den Nachrichten, lokal und auch bundesweit, ist dieser Bahnhof oft wegen der Vorfälle, wegen der Kriminalität, Drogen, Elend etc. Aber wenn man sich nur auf diese Meldungen verlässt, verkennt man eindeutig die Normalität. Man verkennt die 99% der Tage und Stunden. Wieder fällt mir das neulich erwähnte und weiterhin bedenkenswerte Zitat von Anne Tyler wieder ein (hier war es): „… and on the whole they behave, they behave very well.“

Es ist ein Satz, mit dem man sich, so banal er klingt, noch etwas beschäftigen kann.

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Beeindruckend fand ich außerdem dieses Interview beim Deutschlandfunk mit der ukrainischen Autorin Tanka Maljartschuk, der „kämpferischen Pessimistin“, wie es im Titel heißt. Nachvollziehbare, wenn auch vermutlich nicht überall willkommene Gedanken zum Thema Hoffnung und zum unerbittlichen, vorwärtstreibenden Dennoch. Den Blauwal der Erinnerung habe ich einmal von ihr gelesen, weiß ich noch, ihren Essayband merke ich jetzt vor.

Außerdem gehört, einigermaßen unpassend ist es hinter der erstgenannten Sendung: Ein Kalenderblatt zu Clarence Nash, der Stimme von Donald Duck. Na, es gab Propagandafilme gegen die Nazis von Disney, auch mit Donald. Dann ist man erneut beim Widerstand, dann passt es wieder.

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Wir winken schließlich Bill Fay. Im Guardian gibt es einen Nachruf mit eingebettetem Video zum einzigen Live-Auftritt in den späten Jahren, mit dem wunderbaren „Never ending happening.“ Den Titel eines seiner Alben, „Life is people“, habe ich in der letzten Woche erst als Appell in einem Gespräch gehört, fällt mir ein. So läuft das hier nämlich wieder ab mit den Zufällen. Dachte er und guckte skeptisch.

Und damit ab in den Tunnel der Woche.

Tunnel der U2 im Hamburger Haupptbahnhof

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Im bunten Gewimmel

Noch einmal habe ich, nein, haben die Herzdame und ich demonstriert. Und zwar, weil ich ja, wie ein leider allzu bekannter Herr von der CDU sagen würde, nicht alle Tassen im Schrank habe, aus linker, bunter und grüner Richtung gegen Rechts und Braun und politische Dunkelheit, wenn nicht Finsternis. Bei Carolin Emcke übrigens, in dieser Woche schreibe ich sie richtig, ist Miriam Rürup (Wikipedia-Link zu ihr) Gast im Podcast, da wird das Wirken jenes Herrn auch thematisiert.

Rund 40.000 Menschen liefen bei den Demos in Hamburg mit, acht davon erkannte ich im Laufe der Stunden. Acht grüßte ich also, na, Du auch hier, wie schön. Nachbarinnen, Kolleginnen, Bekannte etc. Und es war dann gar nicht nur nebenbei gefühlt, dass es schön war, sie alle dort zu treffen, es war eher elementar.

Denn sie sind doch tatsächlich ungemein trostreich, diese Demos, diese marschierende, fordernde Gesellschaft. Es tut gut, dabei zu sein. Es ist immerhin gut, dabei zu sein. Und das ist auch nicht nichts, in dieser Lage.

„Alerta, alerta, wir Omas, wir sind härter“, skandierten die „Omas gegen Rechts“ mit geradezu jugendlicher Verve, ich lief eine Weile hinter der sympathischen Truppe her. Vorne am Zug spielte die Meute, was der Stimmung selbstverständlich besonders guttat. Wie auch das Wetter, es war eine fast volksfesthafte, ausgesprochen frühlingsvergnügte Protestaktion, manche tanzten schon in T-Shirts und kurzen Hosen. Es demonstriert sich doch etwas entspannter, wenn man nicht friert dabei.

Man hätte es alles von weiter oben fotografieren sollen, den ganzen quirligen Aufmarsch:

„Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dring ein buntes Gewimmel hervor.“

Ein saisonal etwas verfrühter Goethe ist das heute, aber gut. In unseren Zeiten gerät gerade so manches aus dem Takt, da ist dies noch das kleinste Problem. Auf dem Wagen des Thalia-Theaters saß ein weiterer ehrwürdiger Dichter aus dem Regal mit den Klassik-Ausgaben. Die Kopie des Denkmals am Gänsemarkt war es, sicherheitshalber mit einem erklärenden Schild um den Hals.

Eine Kopie des Lessing-Denkmals am Gänsemarkt auf einem Demowagen

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Pia Ziefle schreibt über die Wahl und die Geschichte.

Und hier, passend angelegt, die Gedanken von Mely Kiyak in der Schweizer Republik und auch noch die von Nils Minkmar.

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Schließlich das wöchentliche Update zur Situation in den USA von Garrett Graff alias William Boot. Es ist wieder recht schwer zu ertragen, wofür der Autor allerdings nichts kann. Wie Pia Ziefle im Link weiter oben schrieb: „… das Treiben der Amerikaner bricht alle Verzweiflungsrekorde.“

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Im Dauerdrostenmodus

Vorweg wieder ein Dank an eine Leserin für das freundliche Zusenden eines Buches vom Wunschzettel, nämlich Gene Sharp: Von der Diktatur zur Demokratie – ein Leitfaden für die Befreiung. Deutsch von Andreas Wirthenson. Es wird Literatur zur Lage in den USA sein, wie man wohl sagen muss.

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Gehört: Ich bin noch mittendrin, aber schon die erste Hälfte gefällt mir gut und ist bereits eine Empfehlung an die geschätzte Buchbubble und auch für alle Interessierten an Exilliteratur wert: Eine Lange Nacht beim Deutschlandfunk über den Exilverlag Querido in Amsterdam (157 besonders fein gefüllte Minuten)

Außerdem gehört: Ein Kalenderblatt über Malcolm X. Das Thema Widerstand zieht sich hier erstens durch und zweitens Weiterbildung nach sich, wie es aussieht.

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Wobei, Widerstand … es verstehen tatsächlich nicht alle. In dieser Woche habe ich zweimal gehört, ohne dass ich allerdings direkt in die Gespräche involviert war, dass man beim neuen Präsidenten da drüben doch erst einmal abwarten müsse. Was wir doch schon in seiner ersten Amtsperiode fast unerträglich oft gehört und leider auch in einigen Medien wieder und wieder gelesen haben und was sich, wenn man etwas aufgepasst hat, damit längst erledigt haben sollte.

„Bilden Sie sich fort!“, möchte man da wieder Herrn Drosten zitieren. Von dem mir überhaupt nur zwei Zitate bekannt, dieses und das wunderbare, fast dremelhaft verwendbare „Ja, ist gut jetzt.“ Es ist schon erstaunlich, wie viele Anwendungsfälle für diese beiden Drostenslogans mir an jeglichem Tag auffallen. Ich könnte die Hälfte meiner Dialoge damit bestreiten, glaube ich manchmal, und ich bin dermaßen oft in Versuchung, auch meine Mailantworten in diesen Ausprägungen zu konkretisieren. Zwei Shortcuts, Auto-Repeat, alles erledigt. Schlimm.

In meinen Timelines zerlegen sich währenddessen nach altem Muster die im weitesten Sinne linksgerichteten Gruppen in giftigster Weise gegenseitig, statt sich um den gemeinsamen Gegner zu kümmern. Und meine Lust, an der Weltgeschichte auch nur beobachtend teilzunehmen sinkt und sinkt beim Nachlesen.

Aber es nützt ja nichts.

Ansonsten habe ich in den letzten Tagen wieder unanständig viel gearbeitet. Von der Arbeit gibt es aber dummerweise wie immer nichts zu berichten, das ist auch so ein nagendes Problem. Vorsicht bei der Berufswahl, wenn man zum öffentlichen Schreiben neigt, liebe Kinder.

Und was außerdem war – ich weiß es nicht recht. War etwas? Na, es wird schon etwas gewesen sein. Nachher jedenfalls gibt es wieder eine Demo fast vor der Haustür, vielleicht sieht man sich dort.

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1982, 1993, 2025

Und dann wurde es neulich noch schlimm, als ich über die Wahlbeteiligung im geschichtlichen Verlauf nachdachte, ich erwähnte es. Denn ich kam noch auf weitverzweigte nostalgische Abwege und las etliches über die speziell hanseatische Ausprägung der linksorientierten, westdeutschen Vergangenheit nach. Über Willy Brandt, über Helmut Schmidt. Und auch – da fiel mir dann etwas ein, über Björn Engholm. Es fiel mir nämlich ein, wie falsch 1993 die Geschichte für mich und für viele andere abgebogen ist.

Ich hätte die Jahreszahl nicht einmal mehr parat gehabt. Aber das war das Jahr, in dem Engholm abging, von allen Ämtern und Zukunftsaussichten. Und es geht mir nicht darum, ob er nun die Lichtgestalt war, für den ihn viele damals gerne gehalten haben. Im Zweifelsfalle müssen solche Fragen ohnehin stets verneint werden, wie die Geschichte uns gründlich und oft bewiesen hat. Es geht mir nur darum, was für eine grundsätzliche Enttäuschung es für uns war. Das hätte so nicht passieren dürfen, er hätte Kanzler werden müssen. Es war erwartbar geworden, und wie richtig wäre es gewesen, aus unserer Sicht.

Im Grunde war es eine Kränkung, dass es nicht so kam, eine Zumutung der politischen und geschichtlichen Entwicklung. Eine von recht vielen Kränkungen war es dann nur, wie wir mittlerweile wissen. Aber doch eine der schlimmeren.

Er hat später in Interviews gesagt, der Herr Engholm (interessant besonders dieses von 2007 beim Deutschlandfunk, ruhig mal trotz der Länge nachlesen, es ist erhellend), dass er es nie bereut habe, aus der Politik gegangen zu sein. Ich würde es ihm gönnen, dass es so stimmt, so viel Lübecker Verbundenheit muss schon sein.

Und wo ich gerade bei Engholm war und heute die News-Seiten sehe – man kann sich zwischendurch noch einmal klarmachen, dass es Zeiten gab, in denen ich nicht einen derartigen Ekel vor nahezu allen omnipräsenten Gesichtern aus der Politik hatte.

Die erste Zumutung in dieser Hinsicht und für meine Generation war Helmut Kohl. Es ist schwer zu beschreiben, wie sehr wir es als Zumutung und Belästigung empfunden haben, als er zum ersten Mal Kanzler wurde und fortan immer und überall war. Wie unterirdisch uns das vorkam, wie bedrückend und höchst peinlich. Wie das nicht wahr sein konnte und durfte.

Aus heutiger Sicht und im Vergleich zu den aktuellen Horror-Clowns der weltweiten Rechten, inklusive der deutschen Varianten, muss man allerdings sagen, dass Kohl geradezu ein Ehrenmann war.  Und es will etwas heißen, wenn man das so sagen muss.

Es wurde dann später auch wieder besser. Wobei ich da natürlich nur für mich sprechen kann. Aber die Merkeljahre zumindest waren bei mir eine Ekelpause.  Ich war mit ihr nie oder höchst selten einverstanden, aber auf diese besondere Art grässlich fand ich sie nie, dass ich mir große Mühe gegeben hätte, ihr Gesicht nicht zu sehen. Merkel war auszuhalten. Was geschichtlich auch eine interessante Wertung ist und tatsächlich erstaunlich viel erklärt, ich weiß.

Nun eine Gegenwart, in der ich mir dringend wie nie einen Filter für sämtliche Medien weltweit wünsche, damit ich diese feixenden, von zutiefst verdorbenen Persönlichkeiten und geradezu desaströsen Charakterdefiziten zeugenden Gesichter der Führer und Führerinnen der im weitesten Sinne rechten Bewegung nicht mehr dauernd ertragen muss.

Denn ich finde sie in einer Weise unerträglich, die ich mir 1982, als Kohl zum ersten Mal Kanzler wurde, noch nicht einmal vorstellen konnte.

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Manches ist schon so lange her

Neulich traf ich einige Menschen aus dem Internet, was schon wieder längere Zeit nicht vorkam. Kaum bemüht man sich um etwas nicht, schon passiert es einfach nicht mehr, siehe auch Demokratie, Kultur und verwandte Themen. Es ist ein wahres Elend, wie suboptimal das eingerichtet ist. Aber manchmal bemühen sich immerhin andere, und man darf dann vielleicht mitmachen. Da muss man auch dankbar sein, denn es ist gut und besonders löblich, wenn sich jemand um etwas kümmert.

Unweigerlich ist es nun aber so, dass Menschen aus dem Internet, die es nicht erst seit gestern benutzen, im Gespräch immer tief in der Vergangenheit landen. In unserem Fall also auch bei der Vergangenheit der diversen Dienste, bei denen wir einmal angemeldet waren oder manchmal immer noch sind. In den Zeiten der großen Zersplitterung der Timelines ist das ein überaus ergiebiges Thema, ein wahrlich weites Feld. Es fällt einem noch etwas und noch etwas ein. Wer ist eigentlich noch wo, wer macht gerade was auf welcher Seite, was wurde eigentlich aus, wie hieß denn bloß noch … und da gab es doch den Dings. Oder die?

„Und ein paar Namen fallen mir ein …“ singt Reinhard Mey in einem bekannten Lied über seine jungen Jahre: „Komm, gieß mein Glas noch einmal ein.“ Übrigens mittlerweile auch ein westdeutsches Geschichtsunterrichtslied. Eindeutig seminartauglich ist es im Laufe der Zeit geworden: Welche Rolle spielt die Erwähnung der Weltrevolution, erörtern Sie.

„Wir werden im Seniorenheim irgendwann Plattformnamen murmeln“, sagte ich. Was ein faszinierender Gedanke ist, denn er klingt nur wie ein Scherz. Bei Lichte betrachtet ist er doch etwas wahrer, als es uns vielleicht recht sein kann. Denn genau so wird es kommen. Wenn wir es denn bis dahin schaffen. Und wenn es dann überhaupt noch so etwas wie Seniorenheime und sogar Pflegepersonal gibt, wie man in unseren der Dystopie zugeneigten Zeiten des ausgeprägten Fatalismus gleich ergänzen möchte. Das Pflegepersonal wird sich dann gewiss über merkwürdige Bezeichnungen wie etwa “Flickr“ wundern. Das klingt wie ein Pferdename, was reden die Alten da heute wieder. Was sind eigentlich Plattformen, was für ein seltsames Wort ist das. Und warum lachen sie immer so seltsam, diese Alten, wenn jemand „Ello“ erwähnt.

Nun. Wir hatten damals jedenfalls diese Online-Zeit. Und sie war nun einmal so, wie sie war. Wir müssen den Mey-Text nur hier und da etwas umdichten, um ihn an unsere Erfahrungswelt anzupassen:

„Vieles ist schon so lange her
Kenn‘ ich nicht alle Nicknames mehr

So kenn ich die Avatare doch
Und ich erinnere mich noch…“

 

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