Usedom-Bemerknisse (2)

Wir hatten also, wo war ich denn bei dieser Reise überhaupt stehengeblieben, noch etwa eine Stunde Zeit vor meiner Lesung in Heringsdorf und gingen strandwärts um etwas zu essen, denn strandwärts ist in allen Küstenorten prinzipiell erst einmal richtig. Dort sollte es irgendwo direkt an der Ostsee einen brauchbaren Imbiss geben, hatten wir gehört. Der Imbiss hatte aber zu, geschlossene Fensterläden und zusammengestapelte Plastikstühle, wie es in der Vorsaison an der Küste eben so ist, und zwar an jeder Küste, vermutlich weltweit. Wir wanderten also planlos herum, von geschlossenem Restaurant zu geschlossenem Imbiss und geschlossener Bar und so weiter, Bewohner von Ferienregionen kennen das. Man braucht immer eine Weile, um die auch in der Nebensaison halbwegs verlässliche Struktur eines typischen Ferienortes zu erfassen.

Wir landeten schließlich in einem der wenigen geöffneten Restaurants. Am Tag danach merkten wir natürlich, dass es ein paar Schritte weiter noch wesentlich mehr Auswahl gegeben hätte, das ist ja immer so, wenn man zum ersten Mal durch eine fremde Gegend läuft. Ein deutsches Restaurant war das, mit all dem, was man an der norddeutschen Küste erwartet, Fisch und Schnitzel, Kinderteller, Bauernfrühstück, Bratkartoffeln, das ganz normale Programm, und was die anderen Gäste auf ihren Tellern hatten, das sah sogar recht gut aus. Wie übrigens überhaupt eine einfache Regel gilt – wenn man Fisch essen will, ist Usedom generell goldrichtig. Das gilt sogar für Fischbrötchen, ich hatte dort am nächsten Tag die besten Fischbrötchen seit langer Zeit, wenn nicht sogar überhaupt die besten, die ich je hatte, aber ich schweife ab.

Und dort jedenfalls, wir werden daran noch sehr lange zurückdenken, im Buchen-Eck in Heringsdorf, wobei ich für den Namen des Restaurants allerdings nicht garantiere, ich habe mir nämlich keine Notizen gemacht, warum eigentlich nicht, Herr Buddenbohm? Schlimm. Dort jedenfalls geschah das Restaurantwunder, wir erreichten erstmals überhaupt die volle mögliche Punktzahl im bekannten Spiel “Eine Familie geht in ein Restaurant”:

  1. Beide Söhne haben sich unabhängig voneinander zwei verschiedene, aber doch passend erscheinende Kinderteller bestellt, die noch vor dem Nachtisch-Abschnitt der Speisekarte zu finden waren
  2. Sie haben sich dabei ob der selbstverständlich unfassbar dämlichen Auswahl des jeweils anderen Kindes nicht in die Haare bekommen, sondern sich gegenseitig großmütig einfach mal machen lassen
  3. Sie haben keine seltsamen Sonderwünsche à la “Kann ich bitte nur genau fünf Pommes mit Soße haben” geäußert
  4. Sie haben keine Gerichte haben wollen, von denen wir vorher wussten, dass sie sie garantiert nicht essen werden à la “Doch, heute mag ich ganz bestimmt Schnecken”
  5. Sie haben sich zwei verschiedene und auch noch kinderkompatible Getränke bestellt, ohne sich siehe Punkt 2
  6. Sie haben diese Getränke sogar bestellt, ohne das bekannte halbstündige Drama “Coca-Cola für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht ” aufzuführen
  7. Sie haben sich beide auf ihre Stühle gesetzt und blieben dort, ich staune beim Schreiben immer noch darüber, die ganze Zeit sitzen
  8. Sie haben es mit buddhistischer Gelassenheit hingenommen, dass einer von ihnen am Fenster saß und der andere nicht
  9. Es war ihnen auch seltsam egal, wer neben Mama und wer neben Papa saß, wofür es allerdings ohnehin keine feste Regel gibt, abgesehen davon, dass es normalerweise immer falsch ist, wie es ist
  10. Sie haben die Wartezeit bis zum Essen nicht genutzt, um das Restaurant zu zerlegen, Tischdeko umherzuwerfen, Speisekarten anzunagen, sämtliche Kerzen im Raum auszupusten und mit geklauten Streichhölzern wieder anzumachen oder auch nur andere Gäste zu behelligen
  11. Sie haben uns nicht einmal lauthals nach den äußerlichen Auffälligkeiten dieser anderen Gäste gefragt
  12. Sie haben die Wartezeit im Gegenteil total sinnvoll für ein feines Konzentrationsspiel genutzt und Kartenhäuser aus Bierdeckeln gebaut, wie wir es früher alle dauernd gemacht haben, als unsere Eltern noch keine iPads oder andere Bespaßungstechnologien dabei hatten, um den Nachwuchs für etwa eine Stunde zu sedieren
  13. Sie haben keines der immerhin vier Getränke auf dem Tisch umgeworfen
  14. Sie haben auch die ganze Zeit über kein Besteck, keinen Teller, keinen Bruder, nicht einmal einen Salzstreuer auf den Boden geworfen
  15. Sie haben tatsächlich das gegessen, was sie bestellt haben
  16. Sie haben es sogar komplett aufgegessen, inklusive ungefragt mitgelieferter Salatblätter
  17. Sie haben sich interessant aussehende Bestandteile der Gerichte ihrer Eltern nicht einfach zur näheren Inspektion und anschließenden Verkostung von deren Tellern gegrapscht, sondern haben geradezu höflich danach gefragt
  18. Sie haben auch das andere bekannte Drama “Nachtisch für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht und in der Regel als Eis auszuliefern” unbegreiflicherweise nicht aufgeführt
  19. Sie blieben nach dem Essen noch etwas sitzen und haben nicht unter Absingen heiterer Lieder von zweifelhaften Deutschrappern die Bude gerockt, Fangen gespielt oder Rückwärtsrollen im Gang geübt
  20. Sie haben abschließend die Restauranttoilette aufgesucht ohne diese großflächig zu fluten, ohne alle Papierhandtücher auf dem Boden zu verteilen, ohne den Seifenspender aus reiner Neugier auf sein Fassungsvermögen komplett zu leeren und auch ohne sinnlos zu probieren, ob man ein viel zu hoch montiertes Pissoir nicht vielleicht doch in einem besonders hohen Bogen …

Das war schön. Es wirkte komplett unwirklich, es hat sich natürlich bisher nicht wiederholt, aber es war doch sehr schön. Und wir haben auch nur acht Jahre darauf gewartet, dass so etwas wenigstens einmal passiert. Nur acht Jahre, das geht doch eigentlich. Vielleicht wiederholt es sich schon in acht Jahren? Dazu spielen wir Johnny Logans “What’s another year” und summen leise mit. In seliger Erinnerung ans Buchen-Eck in Heringsdorf. Wenn es denn so hieß.

Gelesen – Arno Gruen: Wider den Gehorsam

Gekauft wegen einer Empfehlung von Johannes Korten, Arno Gruen war mir gar kein Begriff – hier mehr zu ihm. “Wider den Gehorsam” ist schmaler Band, dicht und konzentriert, dabei gut lesbar geschrieben, ohne jede Verschwurbelung. Besonders interessant sind zur Zeit sicherlich die Stellen, in denen Gruen auf den Hass der Rechtsradikalen eingeht, diesen etwas deutet und ergründet, da geht es auch um den Zusammenhang zwischen Gehorsam und Faschismus. „Die Angst, ungehorsam zu sein, führt dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen. Indem man sich mit dem Unterdrücker verbündet, kehrt man seine Verachtung und Gewalt in Liebe um. Rechtsradikale Führer gelangen deswegen besonders häufig in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche an die Macht.“

Ganz kurz, vermutlich treffend und wie nebenbei. Von Gruen kann man ruhig noch mehr lesen.

Usedom-Bemerknisse

Eine etwas gewagte Überschrift, weil ich in diesem Text vermutlich nicht einmal auf Usedom ankommen werde, ich habe nur etwa eine halbe Stunde Zeit.  Morgen früh geht es schon nach Helgoland, es muss dafür noch gepackt und etwas organisiert werden, das ist das anstrengende Leben der Inselhopper zwischen Ost- und Nordsee, Sie kennen das.

Nach Usedom jedenfalls, so war der Plan, wollten die Herzdame und ich zu zweit. Eine verlängertes Wochenende ohne Kinder, was bei uns bekanntlich ziemlich selten vorkommt und entsprechende Begeisterung bereits weit vor dem Termin auslöste. Was man da alles machen kann, ohne Kinder! Zum Beispiel überhaupt nichts, um einmal mit dem naheliegendsten Aspekt zu beginnen. Man kann aber auch vollkommen abgefahrene Dinge tun, man kann sich etwa mit einem Roman ins Bett legen und diesen komplett durchlesen. Am Stück. Das ist für kinderlose Menschen evtl. vollkommen normal, für Eltern ist das eine ganz außerordentlliche Erfahrung. Und wenn man schon so ungestört stundenlang im Bett liegt, dann kann man auch, nicht wahr, und was ist schon dabei, Nickerchen und andere Späße machen, es sind also geradezu paradiesische Vorstellungen, die man da hat, wenn man an solche Wochenenden denkt. Weit, weit vorher verdrängt schon man alle Ärgernisse des Alltags mit einem milde gemurmelten “Ach was, wir haben ja bald dieses Wochenende, Schatz.” Und man spricht es mit einem tiefen Blick in die Augen, das Vorbild für die Gefühlslage dazu findet man bei Casablanca, “Uns bleibt immer Paris”, nur ist es hier eben prognostisch gemeint.

Knapp vor diesem Wochenende wurden dann mehrere Familienmitglieder der Großelterngeneration gleichzeitig krank, weswegen wir erstens die Kinder ungeplant und schnell doch wieder aus Nordostwestfalen abholen mussten, wo sie ansonsten grandiose Ferien verbracht haben. Weswegen ich außerdem ungeplant und schnell noch mal eben nach Lübeck musste, weswegen die Herzdame und ich in verschiedenen Richtungen durch die Gegend fuhren, statt dicke Romane für das Wochenende einzupacken. So etwas kann vorkommen, und manchmal ist es eben komplizierter als sonst.

Weswegen ich außerdem beim Quartier und Lesungsort in Heringsdorf die Übernachtungsmöglichkeit neu regeln musste, nun doch mit Kindern, es war einfach nicht anders zu machen. Das führte zu diesem denkwürdigen Dialog:

 

Ich: “Wir kommen nun doch mit Kindern, geht das?”

Hotel: “Okay, dann buche ich Sie einfach von Liebeslaube auf Ferienwohnung um.”

 

Das klingt lustig, gar keine Frage, und ich habe auch gelacht. Kurz. Sehr, sehr kurz. Am gleichen Tag gab es dann Stunden später und eine Stadt weiter einen anderen denkwürdigen Dialog, und zwar zwischen meinem Vater und mir.

 

Ich: “Morgen fahre ich nach Usedom.”

Mein Vater: “Da habe ich mich auch schon mal übergeben.”

 

Das beschreibt in bemerkenswerter Kürze ein Detail meiner Familie, die natürlich, wie alle Familien, eine seltsame Familie ist. Und zwar beschreibt es gewisse Erzähl- und Erinnerungsweisen in Familien mit langer Migränetradition. Das wäre eigentlich auch einmal einen Familienroman wert, wie sich diese Krankheit durch Generationen fortsetzt, wie Männer und Frauen in verschiedenen Jahrzehnten damit umgehen, wie Einzelne ihr manchmal für Jahre entkommen, dann doch wieder Opfer werden, sich arrangieren, verzweifeln, neue Therapien versuchen, obskure Heilmethoden anwenden, die Krankheit manchmal einfach vergessen und nach Monaten verblüfft daran zurückdenken … Doch, das wäre vermutlich interessant, so etwas beispielhaft zu erzählen. Aber man kommt ja zu nix.

So fuhren wir mit den Kindern in einem etwas gewagten Timing nach Heringsdorf auf Usedom, wo wir vor der Lesung noch etwa eine Stunde Zeit hatten, um einen schnellen Blick auf die charmant besonnte Ostsee zu werfen und in ein Restaurant zu gehen, was dann auch ein bemerkenswertes Event für die Familienchronik war. Dazu in Kürze mehr.

St. Georg hilft: Zum Beispiel Zia vom Bieberhaus

Ich bin Zia. Ich komme aus Afghanistan und bin neunzehn Jahre alt. Ich bin seit August 2012 in Deutschland. Ich habe hier erst ein Jahr Sprachkurse besucht, dann habe ich in Lüneburg meinen Hauptschulabschluss gemacht. Jetzt bin ich in Hamburg und mache meinen Realschulabschluss, danach möchte ich gerne Erzieher lernen. Und wenn ich die Chance bekomme, mache ich auch noch Abitur in einer Abendschule. Ich bin seit September hier am Hauptbahnhof bei der Flüchtlingshilfe dabei. Ich bin oft ab 14 Uhr hier. Manchmal bis neun Uhr abends. Als die Hilfe noch draußen auf dem Platz war, war ich manchmal auch noch länger hier. Jetzt findet alles im Bieberhaus statt, das schließt um neun Uhr abends.

Zia vom Bieberhaus
Zia vom Bieberhaus

Ich habe in Hamburg viele Leute kennengelernt, viele Afghanen, viele Deutsche. Wir haben hier sehr viel geholfen, wirklich sehr viel. Wenn wir nicht da wären, die Stadt müsste ganz viele Leute einsetzen, um hier zu helfen. Ich helfe hier, weil ich selber in so einer Situation war. Ich kann die Leute, die hier kommen, gut verstehen. Auch wenn sie traurig sind, auch wenn sie einmal unfreundlich sind. Ich verstehe alle ihre Probleme, ich habe alles selber erlebt. Hier im Bieberhaus am Hauptbahnhof können Kinder betreut werden, es gibt Essen und Getränke und die Menschen können beraten werden.

Ich bin nach Hamburg gezogen, weil es hier viele verschiedene Kulturen gibt. Ich mag Hamburg sehr. Es gibt viele nette Menschen hier und man kann sehr viel unternehmen.

Für die Hilfsinitiativen hier im kleinen Bahnhofsviertel kann man weiterhin spenden. Es kommen jetzt deutlich weniger Geflüchtete, aber Hilfe ist weiterhin nötig. Für die Suppe, die den Geflüchteten am Bahnhof gereicht wird, die Nachtquartiere, für etwas Hilfe auf dem Weg. Spendenbescheinigung auf Wunsch möglich! Vielen Dank.

Gelesen: Christoph Peters – Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln

Der Herr Peters ist mir bisher noch gar nicht über den Weg gelaufen, obwohl der recht produktiv ist. Das war ein reiner Zufallskauf am Bahnhof, da war noch etwas Zeit über bis der Zug kam und zack, hat man noch ein Buch mehr, Sie kennen das.

Das Buch habe ich auf einer Zugfahrt in Richtung Ostsee gelesen, und das war situativ bemerkenswert gut eingerichtet, denn an selbigem Gewässer spielt die Handlung des Romans. Ein japanischer Meister der altehrwürdigen Töpferofenbaukunst besucht ein winziges Kaff an der provinziellen holsteinischen Küste, um für einen deutschen Keramikkünstler einen Anagama-Holzbrandofen nach uralten Regeln zu bauen, damit eine bestimmte Traditionslinie japanischer Töpferei dort fortgesetzt werden kann. Weder hat der Meister Ahnung von Europa oder Deutschland, noch haben die Nachbarn der Baustelle oder das begleitende deutsche Filmteam irgendeine Ahnung von japanischen Riten oder japanischer Handwerkskunst, es stoßen also Welten zusammen. Das wird aber kein banaler Slapstick, obwohl der Meister zum Entsetzen seiner Gefolgschaft bald eine absonderliche Vorliebe für Mettbrötchen und Schnaps entwickelt und die Kneipenwirtin des Ortes sich so gar nicht an die japanische Etikette hält. Es ist auch kein schwiemeliger Esoterikklimbim, obwohl geisterhafte Folgen lang vergangener Ereignisse auch eine gar nicht so kleine Rolle spielen. Auf dem Cover steht “Humoreske”, ich finde, es ist eine gut erzählte, sehr fachkundig wirkende und auch amüsante Auseinandersetzung mit zwei höchst unterschiedlichen Auffassungen von Regeln, Handwerk, Handlungen, Tradition und Kunst.

Und da geschieht dann noch etwas ziemlich Wundersames bei der Lektüre, wie es bei guten Büchern manchmal vorkommt: Die Sache mit der Keramik, die wird dann doch sehr interessant, geradezu spannend. Obwohl das sonst ein Weglaufthema erster Klasse für mich ist, geh mir bloß weg mit Töpferei, das ist doch alles komatös langweiliges Kunsthandwerk, das geht wirklich gar nicht. Aber in diesem Roman: ach guck, das ist ja interessant! Schon nett, was Literatur so kann. Von Christoph Peters dann demnächst noch mehr .

Eine Empfehlung übrigens auch für Menschen, die mit der Hand arbeiten, selbst wenn es dabei nicht um Töpferei geht. Einige Passagen, besonders zur Ausbildung im Handwerk, dürften auf jeden Fall interessant sein.

Gelesen: Rolf Lappert – Über den Winter

Wie einige vielleicht gemerkt haben, ist Ende Februars gar kein”Gelesen, gesehen, gehört” erschienen, ich habe es einfach nicht geschafft. Zunächst dachte ich, das macht ja nichts, dann erscheint der Kleckerkram aus dem ohnehin mickrigen Februar eben Ende März. Aber ich merke, das wird mir doch zu lang. Also mache ich es ganz anders, ich bin ja ein Flexibelchen ersten Grades, jedenfalls wenn es um meine Bloginhalte geht. Ich streue hier jetzt einfach die Bücher, Songs, Filme (als ob ich je welche gucken würde) etc. bröckchenweise ein, bis es endlich April wird, an dessen Ende dann wieder die reguläre Liste erscheint. So der Plan, wobei mir Pläne bezüglich noch zu verfertigender Artikel letztendlich herzlich egal sind, aber was soll’s.

Rolf Lappert also, von dem ich bisher vermutlich noch nichts gelesen habe. Ein Mann um die Fünfzig kehrt in diesem Roman nach langem Auslandsaufenthalt zur Beerdigung einer Schwester in die Hamburger Heimat zurück und fällt während dieses Besuchs aus seinem Beruf, vielleicht fällt der Beruf auch einfach von ihm ab, das weiß man nicht genau. Der Mann ist oder war Künstler und verliert den Sinn dieses Brotjobs einfach aus den Augen, die Lust ist weg, das Ziel, die Neigung, überhaupt weiß er nicht recht weiter im Leben, was soll ich sagen, das sprach mich an. Wenn man selbst gerade ein Mann um die Fünfzig ist, erkennt man die gemeinte Sollbruchstelle. Einerseits sein Atelier in New York und seine Projektarbeit an südlichen Küsten, andererseits die ärmliche Verwandtschaft im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, auf die er sich zögerlich und voller Abwehr doch wieder einlässt, bei denen er dann sogar wieder einzieht. Zwischendurch wird zur Erklärung der Lage aus dem Krisen- ein Familienroman, und das ist nicht die schlechteste Wendung des Buchs.

Das alles passiert in wenigen Tagen und ist enorm detailgenau beschrieben, das hat einige Rezensenten gestört. Und tatsächlich ist es etwas befremdlich, was da alles ganz genau beschrieben wird, es findet sich kein Pullover, kein Anzug, kein Schal, der nicht irgendeine Farbe und Textur hat, keine Nebenfigur, die nicht vom Scheitel bis zur Sohle vorgestellt wird, kein Hotelzimmer ohne detailliertes Tapetenmuster usw. Manchmal kann man Details auch seltsam finden, wenn etwa jemand auf die Toilette geht, dann kann ich mir schon alleine vorstellen, dass er danach auch spült, ich muss es wirklich nicht zwingend lesen. Andererseits steht dieses so dermaßen en detail geschilderte Wilhelmsburg dafür auch außerordentlich plastisch vor einem. Ich habe das Buch dann doch gerne durchgelesen und mochte auch das Ende, das wiederum einige Rezensenten ganz furchtbar fanden. Ich werde es hier nicht verraten, aber zurück in seinen Beruf findet der Mann nicht, so viel wird nicht überraschen, ein Krisenroman eben. Im ganzen Buch ist es sehr, sehr kalt, es ist ein Winterbuch par excelllence, die Alster friert sogar zu, es fällt Schnee, es weht ein eisiger Wind durch die Stadt, man möchte mit Handschuhen lesen. Oder auf Usedom, wo es auch gerade so kalt war, meine Güte,war es da kalt.

Entweder man liest den Roman also noch schnell in den nächsten drei Tagen durch, bevor der Frühling uns überrollt, oder man merkt es vor für den nächsten Januar, das Buch wäre im Warmen wirklich einigermaßen verfehlt. Ein gutes Buch für Hamburger und Wilhelmsburger Lokalpatrioten, auch für angezählte Fünfzigjährige, für unwillige Künstler und für Menschen mit schwierigen Familien, das sollen ja ein paar mehr sein. Ein Pferd kommt auch vor, Tierfreunde dürfen sich daher ebenfalls angesprochen fühlen. Auch wenn das Pferd nicht viel macht, außer in einem behelfsmäßigen Stall zu stehen. Es ist immerhin ein ziemlich typisches Großstadtpferd. Etwas verloren, etwas fremd, es ist ein Großstadtpferd wie Du und ich.

Doch, ich mochte das Buch.

Heringsdorf/Usedom

Ich habe auf Usedom tatsächlich einmal darauf verzichtet, meinen Computer auch nur auszupacken, das ist eine seltsame Erfahrung. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt einen Tag ohne Notebook verbracht habe, das ist womöglich gar nicht richtig so. Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, das öfter so zu machen. Dumm nur, dass man dann hinterher noch mehr Arbeit hat, es bleibt doch kompliziert.

Es gab eine sehr nette Lesung und eine äußerst nette Unterkunft, dazu in Kürze noch mehr.

Vorweg schnell die Inselkurzfassung in Bildern:

Kinderhand mit Muschel

 

Möwen im Flug

Boot am Strand

Raum für Notizen

Nachdem ich gelesen habe, dass kreative Menschen sich unbedingt sofort Notizen machen sollten, wann immer ihnen etwas einfällt, habe ich das natürlich probiert. Man soll bei so etwas neugierig und aufgeschlossen bleiben, das ist wichtig, wenn man sich weiterentwickeln möchte. Und weiterentwickeln muss man sich, das steht auch überall. In der Theorie sammelt man durch diese permanenten und unbedingt handgeschriebenen Notizen viel mehr Ideen, die man später verarbeiten kann, ohne Notizen verliert man die Hälfte der guten Gedanken, wenn nicht mehr, wenn nicht sogar fast alle. Ich habe jetzt also immer, immer ein Notizbuch dabei. Und wenn ich etwas denke, das kommt ja ab und zu vor, stürze mich sofort auf den ersten halbwegs brauchbaren Gedanken. Und schreibe den auf. Egal, wo ich bin, egal, was ich gerade mache und mit wem. Ich rufe Gesprächspartnern ein hektisches “Oh, Moment!” zu und fange an zu schreiben.

Das ist tatsächlich spannend! Wenn man denn etwas denkt. Wenn man anfängt, sich bei dem Spiel zu langweilen, denkt man wohl nicht genug, das ist leider etwas ernüchternd. Umso kostbarer also die paar Perlen, die man sich wirklich erfolgreich notiert. Die man erwischt und konserviert, so dass man sie später in aller Ruhe ansehen und zu noch feineren Gedankengebilden weiterverarbeiten kann.

Es gibt nur ein Problem: Ich weiß schon nach kurzer Zeit nicht mehr, was ich da gemeint habe, mit dem ach so goldenen Satz. Dafür weiß ich jetzt recht sicher, dass ich weitgehend wirres Zeug denke und das auch noch erschreckend unleserlich aufschreibe. Ich möchte mich beim Nachlesen dauernd selbst beschimpfen, gefälligst präziser zu denken und ordentlicher zu schreiben, also wirklich.

Man wird also weder kreativer noch produktiver durch diese Methode, nein, man hält sich nach einer Weile eher für einen Trottel. Und man kommt auch nicht auf neue Ideen, schon gar nicht für Kolumnen. Oh, Moment!

Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten

Terminhinweis

Ich lese am 17.03, das ist Donnerstag, auf Usedom. Und zwar in der Villa Dorothea in Heringsdorf, es beginnt um 19:30 und der Eintritt ist frei.

Der Ankündigung entnehme ich gerade, dass ich über meine Jugend an der Ostsee, über Hamburg und meine Familie lese, dann bereite ich das mal genau so vor. Wenn ich dort jemanden treffe, den ich von Twitter, Facebook oder Kommentaren hier kenne, freue ich mich natürlich sehr!

Ein Update bei „Was machen die da“

Hervé Kerourédan

 

Man rechnet gar nicht mehr damit, aber Isa und ich haben tatsächlich einen neuen Artikel drüben bei “Was machen die da” online. Das Interview haben wir bereits im letzten Jahr geführt, weil wir eine Kurzfassung des Gesprächs an die Firma Outdoorchef verkauft haben. Diese kurze Fassung erschien soeben im aktuellen Katalog der Firma, nun kann auch die Langversion erscheinen, die sich in gar nichts von den anderen Interviews der Reihe unterscheidet.

Ein Interview mit Hervé Kerourédan. Das ist ein bretonischer Name, der Mann ist dafür verantwortlich, dass mittlerweile ziemlich viele in Hamburg wissen, was Galettes sind.

Bitte hier entlang.