Vor vielen Jahren, in vielen Jahren

Sie kennen vermutlich dieses Gefühl, wenn Sie auf einer Reise waren, vielleicht ein paar Tage nicht in der eigenen Wohnung, wenn Sie sich zum ersten Mal wieder wohlig aufseufzend in den eigenen Sessel setzen. Wenn Sie sich auf das vertraute Sofa oder in das eigene Bett legen. Dieses außerordentlich schöne, auch auf eine ruhige Art lebensbejahende, angenehme Gefühl, dass da gerade etwas richtig, gewohnt und verdammt gut ist. Und seien es nur die eigenen vier Wände, das gut zugerittene Möbelstück darin. Es ist doch wichtig, merkt man, es ist ein Grundbedürfnis, ein Teil der seelischen Heimat. Und es ist körperlich und seelisch spürbar, man kann es kaum trennen.

Dieses Gefühl hatte ich in letzter Zeit mehrfach in anders gelagertem Zusammenhang, und der emotionale Gleichklang fiel mir markant auf. Nämlich einerseits etwa, als ich die alten Maigret-Folgen mit Bruno Cremer weitersah, die in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts spielen. Andererseits zum Beispiel, als ich ein Hörbuch anfing, dass ich schon einmal gelesen habe: „Unterm Birnbaum“ von Theodor Fontane, gelesen von Joachim Höppner.

Das Buch, eine Kriminalgeschichte, beginnt eher unspektakulär. Ich zitiere den ersten Absatz nach Projekt Gutenberg, er fällt im Grunde nicht weiter auf. Michaeli ist Ende September, dann kann man es zeitlich einsortieren:

„Vor dem in dem großen und reichen Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 20 eröffneten Gasthaus und Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck (so stand auf einem über der Tür angebrachten Schild) wurden Säcke, vom Hausflur her, auf einen mit zwei magern Schimmeln bespannten Bauerwagen geladen. Einige von den Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen, und so sah man denn an dem, was herausfiel, daß es Rapssäcke waren. Auf der Straße neben dem Wagen aber stand Abel Hradscheck selbst und sagte zu dem eben vom Rad her auf die Deichsel steigenden Knecht: »Und nun vorwärts, Jakob, und grüße mir Ölmüller Quaas. Und sag ihm, bis Ende der Woche müßt ich das Öl haben, Leist in Wrietzen warte schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so bestelle der Frau meinen Gruß und sei hübsch manierlich. Du weißt ja Bescheid. Und weißt auch, Kätzchen hält auf Komplimente.«

Im Maigret wiederum hat der Hauptdarsteller Bruno Cremer für heutige Verhältnisse enorm viel Zeit, unaufgeregt vor der Kamera zu stehen und gar nichts zu machen. Außer an seiner Pfeife zu ziehen und freundlich bis skeptisch andere Menschen anzusehen, die ebenfalls nichts oder kaum etwas machen und wenig reden. Dann fährt vielleicht ein Zug am Bahnhof im Hintergrund ein. Man sieht die Einfahrt dieses Zuges, die sich vermindernde Geschwindigkeit, das langsame Ausrollen, das Ankommen, das Aussteigen, das Koffertragen, das Begrüßen etc. Und alles ist eine einzige Einstellung. Wie gesagt, mit dem Maßstab heutiger Serien gemessen, ist die Länge der Szenen und die Ruhe der Personen geradezu grotesk überstreckt. Ich finde es herrlich, und das will dann wohl etwas bedeuten.

Man weiß als Mensch aus den Zeiten vor dem Internet, dass da etwas dran ist. Die Momente waren früher länger, auch wenn es seltsam klingt. Wir haben Züge noch einfahren sehen, könnte man in meiner Generation sagen. Und zwar von dem Moment an, in dem sie am Horizont kaum erkennbar auftauchten, bis zum durchdringenden Quietschen der Bremsen direkt vor uns. Wir haben uns das manchmal die ganze Zeit so gebannt angesehen, als hätten wir es interessant gefunden. Was nicht der Fall war, es gab nur nichts anderes anzusehen. Und wir hatten vielleicht, das kam häufiger vor, die Zeitung schon gelesen hatten und dummerweise kein Buch dabei.

Ich schreibe es ohne Wertung. Es ist nur eine geschichtliche Tatsache, siehe auch das Aussterben der Langeweile. Da könnten Kinderpsychiater ebenfalls viel dazu sagen. Sie kennen das vermutlich, zumindest wenn Sie auch Kinder haben. Es wurde in den letzten zehn Jahren viel und zu Recht diskutiert.

Aber keine nostalgische Verklärung, nein. Es ist wie es ist, und damals war es eben etwas anders. Eine übermäßig spannende Erkenntnis ist das kaum. Kein Mensch fand damals Langeweile schön, das wäre ein vollkommen abwegiger Irrglaube. Das wäre Verklärung, von der ich manchmal allerdings auch lese.

Nein, gelitten haben wir in Wahrheit unter dieser Langeweile. Häufig, intensiv, vor allem über Stunden und Tage hinweg. In einer Art, die ich etwa meinen Söhnen nicht mehr erklären kann. Weil ihnen jeder Bezug zum Thema fehlt, Langeweile kennen sie nicht. Oder jedenfalls nicht in dieser Dimension. Sohn I ist so alt wie das erste iPhone, das ist leicht zu merken und erklärt erstaunlich viel. Aber das nur am Rande.

Als älterer Mensch jedenfalls, wenn man aus der Perspektive eines Menschen auf Szenen und Geschehen oder überhaupt auf irgendwas sieht, der nicht mehr primär an Action und Erlebnis interessiert ist, sondern vielleicht allmählich etwas mehr an Ruhe und Kontemplation, ohne damit allzu ambitioniert klingen zu wollen, aus dieser Perspektive, so glaube ich, wirkt die damalige Zeit naheliegenderweise anziehend.

Und bietet, so empfinde ich es, ein immerhin vermeintliches Potential der Ruhe. Welches ich im unruhig zersplitterten Alltag der Gegenwart kaum so wahrnehmen kann. Was also heißt, dass ich abseits von Nostalgie, die meinetwegen auch eine Rolle spielen darf, denn so schlimm ist sie nun auch nicht, die Belebung der Erinnerung an analoge Zeiten als eine Art Wellness-Maßnahme zu empfinden scheine. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so. Wie bekanntlich alle Fragen, die mit „Bin ich eigentlich der oder die Einzige …“ beginnen, kategorisch verneint werden können.

Eine der wenigen goldenen Lebensregeln, die stimmen und die ich für wichtig halte.

Wenn ich also, das wollte ich nur eben sagen, bei Fontane oder bei Maigret ein fast seltsam deutliches seelisches Heimatgefühl habe, das sich derart in wohligem Seufzen ausdrückt, dass ich selbst darüber staune – dann ist das vermutlich passend für wenigstens einen Teil meiner Altersgruppe.

Verrsuche ich aber, nach vorne zu sehen, merke ich, dass ich mir kaum vorstellen kann, worauf sich die Jahrgänge meiner Söhne eines Tages rückblickend wohlig seufzend besinnen werden. Wenn die etwa auf die Sechzig zugehen werden.

Ob das auf mich so hektische wirkende Tiktok dann für ihr gechilltes Herumliegen in der Jugend stehen und also diesen Wellness-Aspekt gewinnen wird, den ich bei den kulturellen Produkten aus der Zeit habe, in der es noch kein Online gab?

Na, ich werde es vermutlich nicht mehr mitbekommen. Aber interessant finde ich es doch.

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Der Brunnen im Innenhof des Hamburger Rathauses, eine der Figuren in Nahaufnahme und von hinten

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Mosaikstücknotizen

Vorweg herzlichen Dank für die freundliche Zusendung von Kurt Vonneguts „Mann ohne Land“ (Perlentaucherlink), Deutsch von Harry Rowohlt. Eine willkommene Ergänzung für den SUB auf dem Nachttisch. Außerdem kam als Geschenksendung die Thomas-Mann-Playmobilfigur, welche auf diese Bücher künftig aufpassen wird.

Vielen Dank, sehr schön!

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Es ist ein weiteres Mosaikstück weltweiter Alltagskultur, das ich auf dem Weg zum Discounter sehe, und zwar zum ersten Mal. Es gibt immer noch erste Male, auch nach vielen Jahren in einem betont globalisierten Stadtteil, in einem melting pot also, jedenfalls für Hamburger Verhältnisse. So wie ich auch in den Läden immer noch ab und zu Gemüse sehe, von dem ich denke: Nie gesehen, was mag das nun wieder sein. Manchmal sehe ich dann Menschen aus bestimmten Gruppen, mit vielleicht verbindenden Merkmalen in der Kleidung und dergleichen, die das reihenweise kaufen, dann kann ich schließen: Ah, das wird wohl aus Indien sein. Oder woher auch immer.

Ab und zu sehe ich auch besonders prächtige Festtagsgewänder, bei denen ich denke, dass sie mir noch nie vorher begegnet sind. Ich berichtete bereits von solchen Sichtungen in Parks an Sonntagen. Die beobachteten Menschen können auch etwa ein Musikinstrument dabeihaben, das mir nichts sagt, das ich nicht einmal aus Dokus kenne. Wenn Menschen aus mehreren Nationen und Gegenden zusammenkommen, hört das Neue so leicht nicht auf.

Und diesmal also eine Frau, welche offensichtlich mit Traditionen von einem Kontinent weiter im Süden lebhaft verbunden ist. Sie trägt ein Sixpack mit großen Wasserflaschen, aber nicht so, wie Sie und ich das vermutlich machen würden, sondern auf dem Kopf.

Ohne es festzuhalten, versteht sich. Und in einer kerzengeraden Haltung, die erstaunlich deutlich so wirkt, als sei sie nennenswert aufrechter als alle Menschen um sie herum. Die sich im Vergleich mit ihr alle eher unbemüht hängenlassen, besonders um die Schultern herum. Wir gehen hier, es fällt einem in solchen Momenten doch auf, tendenziell etwas gebückt. Im Vergleich mit dieser Wasserträgerin schleichen wir kollektiv etwas eingestaucht herum.

Außerdem geht sie da mit einem Gesichtsausdruck entlang, mit einer gesamten Ausstrahlung und ruhigen Selbstverständlichkeit, als sei dies eben die Art, wie Menschen Wasser oder andere Waren nach Hause tragen. So macht man das. Und was ist schon dabei.

Die anderen Menschen um sie herum aber, die routinierten Tütenträger, Rucksackschlepper und Einkaufstrolleyrollerinnen, die schon bei dem Versuch, Wasser auf ihre Art zu tragen, mit großer Sicherheit albern scheiternd herumhampeln würden, sie sehen ihr etwas irritiert nach. Staunend auch, bewundernd, begeistert, teils amüsiert.

Und ein kleines Kind zeigt tatsächlich mit dem Finger auf sie. Damit unbedingt alles so ist, wie man sich solche Szenen eben vorzustellen hat. Vielleicht auch, weil solche Szenen anders gar nicht vorkommen können. Es passt schon.

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Gehört: Ein WDR-Zeitzeichen über den Zauberer von Oz, über das Buch, die Bedeutungsebenen und den Film: Ein amerikanisches Märchen.

Außerdem wieder etwas für den Freundeskreis Geschichte, ein Zeitzeichen über das Wunder von Dünkirchen (1940). Ferner eines über den Roten Baron, ein paar Jahrzehnte vorher. Es kam auch Snoopy vor, sie haben also alles richtig gemacht.

Und dann noch, diesmal ein paar Jahrhunderte weiter zurück, eines über den Wiener Kongress und abschließend eines über die Vandalen in Rom: Gesittet plündern.

Und mit dieser Absicht, gesittet zu plündern, schreite ich jetzt in möglichst aufrechter Haltung zum Kühlschrank, es gibt Frühstück.

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Die Figur des Sankt Ansgar an der Trostbrücke

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Buden in der Geschichte

Zwischendurch unbedingt auch die kleinen und aufmunternden Hinweise aus den USA beachten, die winzigen Hinweise, die man etwa in Blogs findet, so wie diesen hier.

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Für die geschichtlichen und erweiterten Zusammenhänge dann wieder Orientierung im Rundfunk finden. Um diesen schönen, alten und so eindeutig boomerhaften Begriff noch einmal zu beleben. Etwa in der Zeitzeichen-Sendung über den anderen populistischen und bei uns kaum bekannten Präsidenten der USA, über Andrew Jackson. Wieder etwas gelernt dabei.

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Im Hamburger Obdachlosen-Magazin sah ich einen Artikel zu einem weiteren Randaspekt der diesmal deutschen Geschichte, über den ich zufällig sogar ein wenig mehr weiß, ebenso wie die Herzdame: Über Ley-Buden.

Denn unser Schrebergarten ist in einer Siedlung, die noch von diesen heute seltsam anmutenden Behelfsheimen geprägt ist, es kam hier auch im Blog öfter vor. Wir haben mehrfach zugesehen, wie sie nach und nach abgerissen wurden, diese hundertfach umgebauten, ausgebauten, geflickten und wild zusammengestückelten, manchmal etwas slum-mäßig anmutenden Buden.

Wir haben im Garten auch Menschen kennengelernt, die in diesen Buden dort geboren worden sind, es waren die letzten ihrer Art. Langsam verschwindende Geschichte ist das.

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Ich überflog in einer Arbeitspause im Home-Office die Nachrichten. Ich sah beim Scrollen und nur aus dem Augenwinkel noch knapp das Wort „Hitlerresidenz“. Genauer nahm ich das zunächst nicht wahr. Irgendeine Story zur Geschichte oder zu den Folgen des Dritten Reichs und seiner elenden Hauptfigur wird es gewesen sein. Besonderen Mangel an dergleichen habe ich momentan eher nicht, und man muss auch nicht alles lesen.

Abendstimmung am Alten Wall

Dann fiel mir noch auf, während sich das Wort schon zum Rand meines Blickfeldes bewegte, schon fast komplett verschwunden war, dass da gar nicht Hitlerresidenz stand. Ich sah etwas genauer hin, es hieß Hitzeresilienz. Das ist ein doch etwas anders gelagertes Thema, aber egal. Hitler oder Hitze, Hauptsache Problem.

Mir wäre ohnehin gerade deutlich mehr nach dem, was Herman Dune hier gleich besingt, nach „to tune out for a little bit“. Aber wem wäre in unseren seltsamen Zeiten nicht danach. Während die Medien jeden Morgen neu berichten, wer gerade wen angreift und wer wem und wie Rache schwört.

Als würde man Abenteuerbücher auf dem Niveau für etwa Zwölfjährige lesen. Mit ordentlich Action drin.


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Weller, Springsteen, Taylor and Prine, Songs and meanings

Auch einmal neue Musik hören und sehen, etwa von Bruce Springsteen und Paul Weller. Aber okay, die Sänger sind alt, auch der Song vom Weller ist alt und der vom Springsteen klingt alt. Und gerade deswegen gut.

(Youtube-Link zum Video)

Aus dem umfangreichen Erbe der Bee Gees ist das auf jeden Fall der Song, der mir am liebsten ist. Und den Robin Gibb natürlich im Jahr 1968 mit erheblich mehr Leid in der Stimme gesungen hat. Aber auch Cover haben ihre Berechtigung.

Barry Gibb hat laut Wikipedia im Zusammenhang mit diesem Song gesagt: „There was a lot of psychedelia and the idea that if you wrote something, even if it sounded ridiculous, somebody would find the meaning for it, and that was the truth.“

Wozu mir spontan einfällt, dass die beiden von mir verehrten Songwriting-Giganten John Prine und Chip Taylor gemeinsam einmal eine Art Liedspaß mit dem Titel „Sixteen angels dancing cross the moon“ aufgenommen haben. Eine kleine Perle, die sie betont lässig ausgestreut haben. Und weil es so schön ist, hier ein Interview-Ausschnitt aus einem Gespräch mit Chip Taylor zum Song (Hervorhebung von mir):

“It was wonderful. It’s a little story that encompasses all of who John was. It was eight years ago. I was just off the road from touring Sweden. I met John and his band by chance at Grand Central Station. I was at this little oyster bar there. We started talking about the music in Sweden and one of the top female singers there. Her name is Jill Johnson. In recent years she had huge hits with “Angel of the Morning” and “Angel from Montgomery.”

I started kidding John that we’d have to write another angel song for Jill. That was it. We let it go. One day later I was in my apartment writing words down and playing guitar. This feeling came out with these words, 

“Two old friends trying to write a song
Trying to write a song about some angels
angels on the mountain, angels left in June
sixteen angels dancing ‘cross the moon.”  

I didn’t know what the hell it meant. But it had such a nice feeling to it, I got chills. 

 So how did John enter the picture? 

I decided to call John to see what he thought. He was driving home. I played the song for him. And he said when he heard the title line he said,” What the hell does that mean?”  I told him, “I don’t know. We’re songwriters. We don’t have to know this stuff.” That was exactly the start of the song. We started laughing going back and forth. He’d say a line and I’d say a line, then I’d write it down. Before we knew it, in half an hour, we had the song finished. But the most important thing is writing. It made us so happy. We had so much fun. I had never had the experience of writing with somebody out of town on the phone. 

I asked him, “John, are in your driveway?” He said, “No. I kept driving around the circle on Music Row.” That circle only takes twenty-five seconds, so he must have gone around a lot of times.  I could picture him in his Cadillac slinking down in his chair cruisin’ along on the phone, trying to write a song.

(Quelle)

(Youtube-Link zum Video)

Außerdem er hier (Youtube-Link):

Alte Männer der milden Sorte machen Musik, es ist am Ende auch eine Gattung für sich.

Zu Springsteen gibt es außerdem gerade eine mir empfehlenswert vorkommende arte-Doku (hier entlang), die auch das schöne Obama-Zitat enthält: „I am the president, but he is the boss.“

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Eine der Löwenfiguren am Hamburger Rathaus

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A man of constant sorrow

I am a man of constant sorrow, wie einmal gesungen wurde. Die Wikipedia zum Song ist auch wieder interessant, stelle ich nebenbei fest und lese die Lyrics ebenfalls noch einmal nach. Es gibt von diesem Song selbstverständlich etliche Versionen, mein Favorit bleibt die von Tia Blake, die allerdings auch als Person wieder nachlesenswert ist – wie leicht man immer von allem abkommt. Kaninchenlöcher überall.

Constant sorrow jedenfalls, ich zähle mir meine Probleme auf. Ich überlege deren Verlauf und die Möglichkeiten der Entwicklung. Und schön ist das dann nicht, worauf ich dabei komme. Nicht einmal öffentlich beschreibbar ist das alles zu meinem großen Ärger, was doch womöglich auch eine Hilfe sein könnte. Ich denke mir also, es muss etwas anders werden.

Ich weiß mir aber gerade keinen Rat, was nun zu tun sein könnte. Da hilft mir das bemühte Overthinking nicht mehr weiter. Ich sehe die Optionen für den günstigeren Verlauf im Moment nicht. Das ist mir erstens unangenehm und zweitens ist es vielleicht, noch schlimmer, ein Hinweis auf einen Mangel an Kreativität. Und den möchte ich mir nun nicht nachsagen lassen. Nicht einmal von mir selbst.

Ich denke also weiter über Strategien für dieses und jenes nach. Ich komme auf keine.

Vielleicht gibt es auch tatsächlich keine passende. Was immerhin eine Option ist, die man nur in völliger Verblendung ignorieren sollte. Bei mir ist der Optimismus nicht das, was er so vielen ist, also volkstümlicher Religionsersatz.

Egal. Ich gehe ins Badezimmer, ich sehe in den Spiegel. Dort steht der Mensch, bei dem, mit dem, um den herum etwas anders werden muss. Ich rasiere mir kurzentschlossen den Bart komplett ab. Sensationell verändert sehe ich nun auf einmal aus, es ist überaus faszinierend. Ich starre den seltsam fremd wirkenden Menschen im Spiegel lange grübelnd an.

Neues Gesicht, neues Glück, denke ich mir schließlich, wo ich schon beim volkstümlichen Religionsersatz bin. Magisches Denken kann ich immerhin auch. Und wie gut ich das kann! Vielleicht kann ich es besser als andere. Umschulen auf Voodoo und Schamanismus, am Ende gibt es mehr Optionen, als man zunächst parat hat.

Den Söhnen fällt der fehlende Bart dann allerdings gar nicht auf. Den Kolleginnen auch nicht. Den Kollegen nicht, den Nachbarn nicht, auch der Herzdame und meiner Mutter nicht. Wieder so ein Selbstbild/Fremdbild-Ding, denke ich mir, die bekannte Sollbruchstelle im Denken. Oder aber ich bin dermaßen uninteressant – wie gesagt, man muss die negativen Varianten mitdenken, zumindest versuchsweise.

Ich habe kein Rasierwasser, daran bestand jahrelang kein Bedarf. Ich gehe welches kaufen. In einem echten Laden in der Innenstadt. Shopping wie früher. Die Düfte, an die ich mich noch erinnere, gibt es allerdings nicht mehr. Was sind das alles für kurzlebige Produktzyklen, und welches absurdes Alter habe ich denn schon erreicht.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragt mich eine rabiat überschminkte Verkäuferin. „Ja, wenn’s mal so wäre!“, sage ich knurrend, und sie guckt verständlicherweise leicht irritiert. Pardon. Ich sage ihr, was ich früher genommen habe, am Ende kann sie wirklich helfen. Sich wie ein normaler Mensch verhalten, auch einmal mitspielen, Regeln einhalten. Sie kennen das.

Ich frage also noch, was denn so ähnlich sei wie das, was ich früher genommen habe. Ich zähle das auch noch einmal auf. Das wisse sie nicht, sagt sie ohne jede Bedenkzeit freundlich und guckt ebenso leer wie desinteressiert. Aber sie habe hier … und dann zeigt sie mir einfach irgendwas. Quasi blind ins Regal gegriffen, eine Art Glücksspiel, Rasierwasserroulette. Der Fachpersonalmangel, denke ich, das ist der Fachpersonalmangel.

Ich lehne dankend ab und rieche ohne weitere Hilfe an den Testflaschen in den endlosen Regalen. Ich rieche an diesen Flaschen, bis mir etwas blümerant wird und mein Kreislauf sachte kippelt. Es ist unfassbar warm in diesem Laden, die Luft aromenschwer und betäubend. Ich finde schließlich etwas, das knapp passen könnte. Diese Marke hat auch schon mein Vater geschätzt, fällt mir beim Blick auf die Verpackung wieder ein. Traditionen, denke ich, Traditionen sind ebenfalls wichtig. Auch einmal in einer Spur bleiben.

Wie hätte mein Vater wohl meine aktuellen Probleme gelöst? Mein Vater ist sämtlichen Problemen dadurch begegnet, dass er sich unermüdlich in Arbeit verbissen hat. Terrier nichts dagegen, aber eigentlich ein One-Trick-Pony, wenn ich schon bei Tiervergleichen lande. In jedem Familienroman, so überlege ich weiter, müsste ich aber auf eine andere Variante als er verfallen. Da findet der Wechsel in fast allen Aspekten doch so gerne von Generation zu Generation statt. Siehe auch Buddenbrooks etc., da kann ich sogar heimatverbunden weiter anlegen.

Ich gehe wieder nach Hause. Ich lege mich etwas hin, ich arbeite nicht, kein Stück. Das ist immerhin neu. Zumindest familiengeschichtlich gesehen. Also ist es vielleicht sogar richtig, ist es wenigstens im Sinne des Aufbaus einer guten oder passablen Geschichte.

Auch wenn man seine Probleme nicht zu lösen vermag, kann man sich dennoch weiterentwickeln, denke ich mir. Und im Einschlafen kommt mir dies sogar wie ein vergleichsweise guter Gedanke vor. Außerdem rieche ich gut. Wenn auch wildgemischt und etwas zu intensiv, von zu vielen Testsprühstößen direkt getroffen.

Aber immerhin: Ich habe etwas verändert.

Die gläserne Dachkonstruktion der U-Bahnstation Elbbrücken im Abendlicht

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Ein wenig Pferd und Wagen, ein wenig Dampf

Ich las im Bett und legte wieder weg: Die Kurzgeschichten von Miranda July, „Zehn Wahrheiten“ (Perlentaucherlink). Ich bin allerdings unsicher, ob sie mir tatsächlich nicht gefielen oder ob sie nur in denkbar ungünstigster Weise nicht zum gerade erst gehörten Thomas Mann passten. Wofür die Autorin dann überhaupt nichts könnte.

Aber egal, das Buch war aus dem öffentlichen Bücherschrank. Ich stelle es also dorthin zurück und wenn es noch einmal dort für mich erscheint, nachdem es einige weitere Runden durch fremde Hände gedreht hat, gibt es vielleicht einen weiteren Versuch. Was weiß ich denn, welche Bücher mir in ein paar Wochen oder Monaten gefallen werden. Meine abendlichen Urteile sind eher unverbindlich.

Ersatzweise habe ich etwas anderes angefangen, und es wird viel eher etwas: Terézia Mora, „Alle Tage“. Unterm Link wieder die Perlentaucherseite dazu. Lauter Bejubelungen gab es damals in den Feuilletons. Aber das war bei Miranda July auch der Fall und beweist oft wenig für die eigene Leselust.

In der „Königlichen Hoheit“ von Thomas Mann, ein Buch, das 1909 erschien, fragt man sich übrigens, ob es womöglich dem Klima schaden könnte, wenn man zu viel Wald rodet. Aber das nur am Rande.

Blick über das abendliche Alsterfleet zum Turm der Alten Post

Ich fange beim Wochenendspaziergang, während ich am ersten richtigen Hitzetag des Sommers durch den schmalen Schatten an den Hauwänden im kleinen Bahnhofsviertel schleiche, den „Tristan“ von Thomas Mann an. Eine Erzählung aus dem Jahr 1901, gelesen von Gert Westphal. Ich kann mich erstaunlich gut an den Text erinnern, den ich vermutlich zu Oberstufenzeiten gelesen habe. Was daran liegen mag, wie mir dann wieder einfällt, dass meine Mutter und ich etliche Wendungen daraus in die damalige Alltagssprache übernommen haben. Etwa wenn jemand aussah „wie ein verwester Säugling“ oder wenn jemand blass und apathisch aussah: „Sie hatte beim Husten ein wenig Blut aufgebracht.“ Oder beim Anblick der beleibteren Rentnter am Strand: „Reichtum und sitzende Lebeweise!

Die Herzdame, die gerade eine Woche auf Föhr war, reist währenddessen zurück zu uns. Sie braucht wegen des Generalversagens aller beteiligten Dienstleister länger, viel länger als eine wirklich große Menge Hörbuch dauert. Fast romanlang ist sie unterwegs. Sie braucht genau genommen so dermaßen lange für diese nicht eben weite Reise, dass die Wegzeit vermutlich in etwa der entspricht, die man auch zu Zeiten der Tristangeschichte gebraucht hätte. Ein wenig Pferd und Wagen, ein wenig Dampf – vielleicht war man damals auch schneller als heute. Ich wäre nicht überrascht.

Insofern ist es auch wieder alles stimmig, wenn ich nur lange genug nachdenke.

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Gesehen: Eine leider anlassbezogene Weiterbildung, „Die Beach Boys – Genie und Wahnsinn“ bei arte.

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Gehört: Eine Folge Radiowissen über Bruce Springsteen – Die Vermessung des amerikanischen Traums.

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Einige Anmerkungen an einer Ampel

Als ich vor etlichen Jahren, Jahrzehnten sogar, einmal beruflich in New York war, gab es etwas Verstimmung im Team, weil ein Teil der Gruppe sich strebsam reiseführerorientiert durch die Stadt bewegen wollte, mit Zeitplan, Etappen und allem, und ein anderer Teil, zu dem ich gehörte, einfach herumgehen, herumlungern und irgendwo stehenbleiben und gucken wollte. Etwa an irgendeiner Ampel am Broadway, an der wir nur zufällig vorbeikamen. Weil es so dermaßen interessant war, was da alles für verschiedene Menschen vorbeigingen.

All diese Styles, diese Gruppen, diese Richtungen und so leicht erkennbaren kulturellen Varianten, die man in dieser Mischung bisher nur aus dem Kino kannte. Da liefen sie nun herum und durcheinander, direkt vor uns. Ich stand und starrte, vermutlich war ich schon auf den ersten Blick durch und durch ein Tourist. Man ist nicht sicher davor, auch einmal zu dieser Ausprägung zu gehören. Ich nehme jedenfalls an, dass niemand sicher davor ist.

In der letzten Woche fiel es mir wieder ein, dieses Ampelerlebnis in einem New York vor unserer Zeit. Denn Hamburg hat doch etwas aufgeholt in den letzten Jahren. Wenn hier nun jemand aus der Provinz landet, aus irgendeiner Provinz irgendwo auf der Welt, dann steht er vielleicht in manchen Momenten ähnlich staunend, wie ich damals am Broadway stand.

Eine Ampel am Hauptbahnhof, ich erkläre am Beispiel. Ich stehe und warte, denn man geht hier, es ist fast schon erstaunlich, noch mehrheitlich bei grünem Licht. Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, drei Männer, die warten auch. Einer trägt einen schrägen, dunkelblauen Zylinder, etwas abgenutzt und halbmast sieht der aus. Dazu etwas, das auf eine schwer zu beschreibende Art dezent an ein Theaterkostüm erinnert, aber wohl doch keines ist. Eher etwas, das mit viel Aufwand aus Second-Hand-Läden zusammengekauft wurde. Es wird Zeit gekostet haben, das alles zusammenzufinden.

Ein Hemd mit seit langer Zeit unmodischem Kragen, ein frackähnliches Gewand, das vielleicht auch aus Teilen einer alten Livree besteht. Eine silberne Uhrenkette an der Weste darunter. Stiefel in schuppigem Leder und an der einen Hand etliche Ringe aus Silber mit reichen Verzierungen. Ein schwarzglänzender Spazierstock mit silbernem Griff. Der Bart des Mannes ist weiß und hebt sich etwas seltsam von seiner dunklen Haut ab. Er könnte auch gefärbt sein, denn das Weiß harmoniert nicht mit dem Alter, das man in diesem Gesicht abzulesen meint.

Baron Samedi, denke ich. Einen weiten Weg hat der hinter sich, und er hat mir gerade noch gefehlt in diesen Wochen, in denen man es schon mehrmals auf mich abgesehen hatte. Ich berichtete, der fallende Koffer, die stürzenden Trümmerstücke der Hausfassade.

Neben dem Baron ein älterer Japaner. Was immer ein gewagter Satz ist, denn ich habe seinen Ausweis nicht gesehen, was weiß ich denn, was er wirklich war. Aber klischeemäßig doch durch und durch ein älterer Japaner, und zwar einer, den ich fast von Instagram zu kennen meine. Er ist es doch nicht, nein, auf den zweiten oder eher dritten Blick ist er es nicht. Der auf Instagram ist aber auch so gut angezogen, das ist die hervorstechende Gemeinsamkeit. So betont fein und an der Herrenmode von vor etlichen Jahrzehnten orientiert, grobe Richtung Dreißiger. Dabei aber lässig, unangestrengt und auf eine Art elegant, dass man spontan neidisch werden könnte. Weil die eigenen Sachen nie so dermaßen gut sitzen werden wie bei dem da. Obwohl die Sachen auch gebraucht sein werden, aus etwas besseren Second-Hand-Läden vielleicht

Aber wo die Sachen auch herkommen mögen, die ich hier an ihm vor mir sehe, da steht ein japanisches Jil-Sander-Model aus der neuen Herrenlinie, so geschickt gezeichnet sieht diese Figur aus. Damit hat man in etwa ein Bild, das die Erscheinung bündig zusammenfasst. Was er trägt, das wirkt gleichzeitig zusammengetrödelt und sauteuer, was man auch erst einmal hinbekommen muss.

Dabei steht er, und da wird es fast schon albern, aber was soll ich als Chronist machen, wenn ich in einer albernen Welt lebe, auf eine hier unübliche Art etwas in den Knien. Mit leicht angebeugten Knien, in dieser Haltung also, die wir alle aus den Karate-Kid-Filmen und ähnlichen Werken gut zu kennen meinen.

Der dritte Mann schließlich steht dort in einem gewöhnlichen blauen Anzug von der Stange, so sieht es jedenfalls aus. Nicht eben die billigste Version, das nicht, aber doch unauffällig mittelmäßig. City-konform eben, ein Anwalt vielleicht, der aus seiner oder eher einer Kanzlei kommt, er ist noch ziemlich jung. Seriös und gediegen, durch und durch als verlässlich und vertrauenswürdig kostümiert. Auch der Haarschnitt, die Rasur, die lederne Reisetasche, die wohl unter Weekender fällt. Es ist alles so gewählt, dass er damit problemlos in das Straßenbild der meisten Metropolen weltweit passen würde, ohne auch nur ansatzweise aufzufallen.

Wenn man ihn nicht komplett ansieht. Denn seine Figur endet unten in Lackstiefeln. Auf Absätzen mit nicht gerade geringer Höhe. Schwarzes Lackleder, an sich auch wieder bürotauglich, wenn auch in dieser Form meist eher von Frauen getragen. Von Frauen mit modischem Selbstbewusstsein könnte man ergänzen. Aber was ist schon dabei, es ist ein freies Land und es ist erst recht eine freie Stadt, wie man etwa an dieser Ampel sieht. An der Alster, an der Elbe, an der Bill‘, dor kann jeder eener mooken, wat he will, wie schon Heidi Kabel nach einem Text von Richard Germer sang.

Kein Schwein guckt da genauer hin. Wenn nicht gerade ein Blogger im Geiste etwas mitschreibt, versteht sich. Man kann und darf hier so herumlaufen, und es ist entschieden ein wichtiger Grund, hier zu leben. Auch wenn ich selbst nur mäßig auffällig bin, in meinem weißen Leinenhemd, dem tropentauglichen Anzug und dem Panama-Hut.

Schon gut, ich merke es selbst.

Bei Grün gehen die drei dann gleichzeitig los und an mir vorbei. Es könnte auch die etwas bemüht schräge Besetzung eines Films sein, denke ich. Vermutlich die Stars einer etwas melancholischen Komödie. Es ist immerhin noch ein Glück, überlege ich weiter, wenn etwas schon nach Film aussieht und man es dann als melancholische Komödie deuten kann. Ich meine, in was für einem Film würde man sich lieber wiederfinden? Alles andere wäre übel.

Eine Komödie vielleicht, bei der das Drehbuchteam mit Raffinesse herausgearbeitet haben würde, wie es zu der unfreiwilligen Begegnung der drei Männer kam, und außerdem einen feinen und geistreichen Grund geliefert hätte, warum sie nun gemeinsam irgendein Abenteuer mit Bravour bestehen müssen. Sie kennen das. Der Baron Samedi, der Jil-Sander-Japaner und der Anwalt für, was weiß ich, Verkehrsrecht aus Hamburg-Mitte.

Was ich nur eben sagen wollte: Man kann mittlerweile auch hier an Ampeln stehen und starren. Und das ist auch gut so.

Poststraße, Blickm auf die alte Post mit flirrender, bunter, sommerlicher Deko über Straße, bunte Stoffstreifen im Wind

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Denken, was man möchte

Ich sehe nach dem Aufstehen mit dem ersten Kaffee in der Hand aus dem Fenster. Im Frühdienst des Stadtteils geschieht schon einiges. Auch in den Stunden, in der routinemäßig nur wenige Menschen mitzuspielen bereit sind, am Ende der wee small hours of the morning.

Drei Möwen belagern etwa einen Mülleimer und rauben ihn aus. Wobei sie sich so abwechseln, dass es verdächtig nach einem System aussieht. Und mit Schnabelbewegungen machen sie ihre Räuberei, die derart energisch und zielorientiert sind, dass man beim Zusehen gleich etwas mehr Respekt vor diesen Vögeln gewinnt. Wie die da mehrere Plastikverpackungen gekonnt zerlegen … sie haben, es ist im Grunde eine simple Gleichung, immer noch mehr Kraft und Geschick, als man ihnen ohnehin schon zutraut.

Tauben beäugen währenddessen die Sandkiste auf dem Spielplatz und prüfen hier und da mit gewohnter Akribie, ob es sich bei gewissen interessanten Objekten um Kies oder womöglich essbare Krümel aus Kinderhänden handelt. Krähen marodieren flatternd und verhalten kakelnd durch sämtliche Blumenkästen an den Balkonen ringsum, von Stockwerk zu Stockwerk vorgehend, nein, vorfliegend.

Meisen inspizieren Stuckornamente an Gründerzeitfassaden und beseitigen Insekten, die sich dort dummerweise sicher gefühlt haben. Ein Junkie durchwühlt derweil mit bebenden, fliegenden und sehr dreckigen Händen ein Versteck, das ich nicht näher bezeichnen möchte.

Eine schwarzweiße Katze schnürt mit demonstrativem Desinteresse und adeliger Kopfhaltung quer durch die ganze Szenerie. Sie hat offensichtlich etwas Wichtigeres vor, als sich um das niedere Volk an ihrem Wegesrand zu kümmern. Sie ist nicht einmal gewillt, es auch nur am Rande zu beachten, dieses niedere Gelichter, das irgendwas treibt. Was sollte es da auch zu beachten geben.

Ein Blogger sieht aus einem Dachfenster auf die diversen Vorkommnisse, trinkt Kaffee und kramt in seinen Gedanken.

Eine Nachbarin im Haus dem Dachfenster gegenüber öffnet gähnend eine Balkontür. Sie hält ihren Kopf kurz wie einen Temperaturfühler hinaus und zündet sich dann im Türrahmen eine Zigarette an. Während sie den Rauch des ersten Zuges ausstößt, sieht sie hoch zur Kirchturmuhr und schüttelt dann den Kopf.

Ein Taxifahrer jagt sein Auto in höchst unzulässiger Geschwindigkeit durch die Tempo-30-Zone, wobei er einen Arm aus dem Fenster hängen lässt, lässig wie in alten Opel-Manta-Filmen.

Das Ringeltaubenpärchen sitzt neben einer Amsel im Holunder am Spielplatzrand. Alle drei Vögel strecken sich gerade. Ein leises Gurren und Zwitschern ist dabei zu hören. Man muss sich beim Zusehen mühsam vergegenwärtigen, dass sich diese Tiere nach jetzigem Erkenntnisstand der Wissenschaften vermutlich nicht morgens über Artgrenzen hinweg höflich darüber unterhalten, wie wohl die Nacht auf jenem anderen Zweig gewesen sei.

Aber dennoch, denkt man dann vielleicht noch, aber dennoch! Es sieht doch dermaßen deutlich danach aus. Und kann man nicht denken, was man möchte.

Ein Wind aus Südost macht schließlich schwungvoll das, was die Stimmung bei den meisten Menschen um diese Uhrzeit noch nicht macht: Er kommt auf, und zwar mit nachhaltiger Munterkeit und belebender Frische. Er spielt mit den Blättern, dieser Wind, mit den Büschen und den Bäumen, so wie wir gleich mit irgendetwas anderem spielen werden.

Vielleicht allerdings, es gibt Grund zu dieser Annahme, wird der Wind heute etwas ausdauernder spielen als wir.

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Der Alte Wall neben dem Rathaus, gerade menschenleer

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I’m gonna sit and watch the waves

Zu meiner Verwunderung finde ich „Königliche Hoheit“ von Thomas Mann so interessant, dass es fast den ganzen anderen Medienkonsum verdrängt, das hätte ich bei seinen Werken nicht mehr vermutet.

Aber gut, währenddessen wurde bereits der „Tristan“ in der Audiothek serviert, man wird dort stetig weiter und auf Vorrat versorgt. Und gelesen wird diese Erzählung von Gert Westphal, schlechter wird es auch nicht gerade.

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Wir winken außerdem Brian Wilson. „Summer’s gone“ ist das letzte Lied vom letzten Beach-Boys-Studio-Album von und mit Brian Wilson, ein hervorragend passendes Endstück.

„Summer’s gone
I’m gonna sit and watch the waves
We laugh, we cry
We live, then die
And dream about our yesterday.”

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Davon abgesehen Unbeschreibliches im Familienalltag und dazwischen ein gewöhnlicher Bürotag in Hammerbrook mit dezenter Überlänge und zu vielen Meetings. Im Roman „Königliche Hoheit“ ist es in der Erziehung des Prinzen die höchste, schlimmste Strafe, wenn das Kindermädchen ihn traurig ansieht. Ich probiere das mit KollegInnen, es scheint aber nicht zu funktionieren. Sie werden es am Ende nicht einmal bemerkt haben. Ich werde erheblich an meiner Mimik arbeiten müssen, um diese Methode fortzusetzen.

Bürobauten am Südkanal in Hammerbrook, Smileys als Graffiti an den Fassaden

Zuhause sehe ich dann die Söhne traurig an, es gibt in ihrer Altersphase immer Grund dazu. Aber Problem: Die Söhne sehen mich nicht an.  In den Büchern ist doch vieles einfacher, als es sich im echten Leben darstellen lässt. Siehe auch Happy End etc.

Währenddessen versteht immerhin der gestern erwähnte Sohn mit dem Stochastik-Problem plötzlich alles. Und nicht nur das, er findet jetzt auch alles großartig, er begeistert sich auf einmal erheblich für das Fach, möchte Mathematiker werden und fängt spontan an, sich berufliche Szenarien vorzustellen, in denen er wunderliche Begabungen bis zum Exzess austoben kann.

Es bleibt allerdings vollkommen unerfindlich, woher er diese Neigung zur Übertreibung und die seltsam blühende Fantasie haben könnte.

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Wahrscheinlichkeiten

Mir fällt beim morgendlichen Lesen der Nachrichten auf, dass ich es in diesem Jahr womöglich noch nicht erwähnt habe, aber ich bin jedenfalls mit der Gesamtlage nach wie vor nicht einverstanden. Es zieht sich nun seit etwa 2015 so durch und muss daher allmählich als chronifiziert bezeichnet werden. Die typische Ärztinnenfrage, wie lange haben Sie das schon, und dann sagt man leise: „Zehn Jahre“. Wohl wissend, ein größeres Problem zu benennen.

Ein unschöner Zustand. Aber solange man sich noch indigniert geben kann, ist man kaum betroffen und eher privilegiert, das ist schon klar. Ich habe auch immer meine Mutter relativierend im Sinn (Jahrgang 1938), die fassungsloser als ich vor den aktuellen Nachrichten sitzt und sich zwar immer wieder zum bescheidenen Trost sagen kann und es auch tut, dass sie was auch immer vermutlich nicht mehr erleben wird – die aber lange Zeit auch nicht damit gerechnet hat, solche Rückschritte, wie sie unsere Gegenwart in bedrohlicher Eskalation zu bieten hat, auch nur in Ansätzen zu erleben. Man hat es so nicht vorhergesehen.

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Passend dazu: Das Buch „Verlust“ von Andreas Reckwitz liegt hier schon seit Wochen bereit zur Lektüre, ich werde wohl demnächst dazu kommen. Beim SRF in den Kultur-Sternstunden gibt es ein Interview mit ihm vom Jahresanfang, das ist auch sehenswert. Ein Thema, das ich für enorm wichtig und unterschätzt halte – der Verlust der Zukunft in „unserem“ Teil der Welt.

Das Video hier auch wieder als Link.

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Sohn II braucht etwas Hilfe in Mathe und sieht mich fragend an, was bei dem Fach eine eher originelle Idee ist. Allerdings geht es, wie ich kurz darauf erleichtert feststelle, um Stochastik, da kann ich sogar etwas. Da kann ich vor allem dem Sohn sinnige Vorträge darüber halten, dass dies jenes Thema ist, bei dem ich damals zu meinen Schulzeiten auf einmal sogar in Mathe alles verstanden habe und sofort logisch und einleuchtend fand. Als hätte man mein Hirn über Nacht irgendwie justiert. Weswegen ich dann am Ende des Halbjahres auch eine verblüffend glanzvolle Note erhielt und mich damit zum Abitur retten konnte.

Diese Rettung war also eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber es war doch eine Wahrscheinlichkeit der Rettung, mit der man fraglos nicht rechnen konnte.

Und diese Wahrscheinlichkeitsrechnung, ich rede einfach immer weiter, merke aber längst, dass der Sohn dabei unauffällig nach dem Smartphone gegriffen hat, sie gehört zu den wenigen Themen aus dem Fach Mathematik, die tatsächlich und ernsthaft im späteren Leben vorkamen. Mehrfach! Die Sache mit dem Urnenmodell und dem Zurücklegen etc., das Rechnen mit der Fakultät, das gab es alles auch „in echt“ und bei verschiedenen Gelegenheiten.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist nützlich, ich kann es beweisen, ich habe es erlebt. Der Sohn gähnt und wirkt unwahrscheinlich müde.

Ich habe es hier auch nicht immer leicht.

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Das Spiegelgebäude in Hamburg im Abendlicht

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