Hamburg-München

Bozen-Krimi

 

Der Urlaub begann mit einem Kraftakt. Und damit ist noch gar nicht die sechsstündige Zugfahrt nach München gemeint, es ging schon vorher los. Denn da wir quasi direkt neben dem Hamburger Hauptbahnhof wohnen, können wir da nicht mit dem Auto oder mit der S-Bahn hinfahren, wie es normale Leute tun, nein, wir müssen da hingehen. Das ist ein kurzer Weg,  der sich aber faszinierend in die Länge zieht, wenn man auf ihm sieben Gepäckstücke und zwei Kinder trägt, hinter sich herschleift, vor sich herschiebt, rollt, zieht, was auch immer. Und, versteht sich, dazu noch eine Provianttasche ungeheuerlichen Ausmaßes. Denn aufgrund eines historisch vermutlich noch gar nicht so lange überholten Schutzinstinktes gehen Menschen – und vor allem Eltern – bekanntlich heute noch davon aus, dass man gerade auf Reisen schnell verschmachtet, und dem ist entschieden und kalorienreich vorzubeugen. Bordbistro im ICE hin oder her. Auf unserem Weg zum Bahnhof gingen wir an betenden Moslems vor einer Moschee vorbei, es war gerade der Morgen des Fastenbrechens, da war fröhliche Feststimmung am Straßenrand. Männer in arabischen Gewändern  steckten uns und den Söhnen noch mehr Proviant zu, Dattelgebäck, Mandeln und Süßigkeiten. Ich mag Multikultiviertel.

Es war am frühen Morgen schon beeindruckend warm in Hamburg, es ist überhaupt gerade dauernd so warm um mich herum, dass mir bald die Adjektive und Metaphern ausgehen. Womöglich nenne ich das Wetter dann einfach nur noch sommerlich. Früher haben wir heiße Tage ja auch nur schlicht Sommer genannt, ganz ohne jeden Beschreibungsbarock, wir hatten ja nichts! Wobei ich allerdings „es war Sommer“ nicht denken kann, ohne dass eine Maffay-Stimme in meinem Kopf „zum ersten Mal im Leben“ weitersingt, das ist auch schlimm.

Wir kamen also schon schweißgebadet am Bahnhof an, wo wir uns dann dank des beliebten Gesellschaftsspiels „abweichende Wagenreihenfolge“ in einer hysterischen Meute schwerstbepackter Reisender wiederfanden, die hektisch am Zug auf- und abliefen. Das Spiel wurde noch lustiger durch die Spaßvögel, die meinen, dass man in eine sich öffnende Zugtür immer SOFORT einsteigen muss, ganz egal , ob da noch jemand aussteigen möchte oder nicht. Es gab also in den Zugtüren gleich mehrere Knäuel verkeilter Menschen mit Koffern, Rucksäcken, Taschen – und ein allgemeines Aggressionspotential, das man so eigentlich gar nicht mitbekommen möchte, schon gar nicht am frühen Morgen. Der Kalorienverbrauch beim Einsteigen entspricht auf diese Art in etwa einer Schicht bei Blohm & Voss, und man braucht bis Hannover, um sich davon zu erholen. Wo man dann auch etwas überrascht feststellt, dass der Proviant allmählich bedenklich zur Neige geht.

Weingummi

 

Aber egal. Es gab die reservierten Plätze, es gab eine Klimaanlage, es gab einen Tisch, ich mag Zugreisen nach wie vor gerne. Der Zug war nicht pünktlich, Weichenstörungen, Baustellen, herumhängende andere Züge, aber das macht ja nichts, wenn man schon drin sitzt, das stört immer nur, wenn man draußen steht und auf den Zug wartet. Ich würde eine Zugreise jederzeit einer Autofahrt vorziehen. Zumal Sohn II im Zug nicht schlecht wird, das ist auch einen gewissen Aufpreis wert. Noch logischer würde ich es allerdings finden, wenn eine Zugfahrt deutlich billiger als eine Autofahrt wäre, soviel Öko muss schon sein.

Sohn I hatte ein Heft mit Übungsaufgaben für die Schule dabei, so eine Art Rätselblock. Das ist auch interessant, weil man heutzutage als Ganztagsschulkindvater gar nicht mehr mitbekommt, an welchen Aufgaben die Kinder gerade arbeiten. Ich führe mit Sohn I während des Schuljahrs täglich den Routinedialog auf, den Tausende anderer Eltern auch kennen werden:

Ich: „Wie war es in der Schule?“

Sohn I: „Gut.“

Ich: „Was habt ihr gelernt?“

Sohn I: „Nichts.“

Viel mehr Informationen sind ihm nicht so leicht zu entlocken, es ist eher zufällig, dass ein Gespräch zuhause doch einmal auf schulische Inhalte kommt und man dann merkt, aha, die machen da gerade was mit Blumennamen und so. Das ist ein wenig schade, weil ich doch denke, man könnte noch ein wenig mehr darauf eingehen, was sie da so treiben, aber wirklich schlimm ist es auch nicht.

„Woraus kann man Marmelade machen?“ Das war eine der Fragen in diesem Rätselblock, daneben dann Abbildungen von goldrichtigen Früchten, wie etwa Erdbeeren, und von offensichtlich falschen Gemüsesorten, wie etwa Weißkohl. Zu den richtigen Lösungen zählten allerdings auch Tomaten. Tomatenmarmelade? Bitte? Also rein technisch wird man aus Tomaten schon Marmelade machen können, keine Frage, aber dennoch – richtig fühlt sich die Antwort für mich nicht an. Und es ist vielleicht doch ganz gut, mit diesen Aufgaben normalerweise keinen Kontakt zu haben. Man würde ja aus dem abendlichen Diskutieren im Familienkreis gar nicht mehr herauskommen.

Ansonsten, keine Frage, ziehen sich sechs Stunden im Zug ganz beträchtlich. Es ist dann doch ein wenig langweilig, vor allem im norddeutschen Flachland. Eine Wiese, ein Acker, ein Busch, eine Schweinemastanlage. Repeat until Göttingen, ab da dann immerhin ein paar Hügel. Das Bordbistro ist auch nur beim ersten Besuch interessant und sich Bücher anzusehen ist nett, aber auch nicht die ganze Fahrt über. Ich mache die Augen zu und höre, was um uns herum gesprochen wird. Von links ein helles, leicht knarzendes Geräusch, mehrfach in schneller Folge, dann eine kleine Pause, gefüllt von einem erstaunten: „Hä?“. Das war ein etwa zehnjähriger Junge mit einem Rubik’s Cube, das habe ich auch lange nicht mehr gehört und gesehen. Und was ich dann auch gar nicht sehen wollte, das war die Mutter des Jungen, die irgendwann nach dem Spielzeug griff und ihrem Nachwuchs sehr souverän vorführte, wie man den Würfel zur Lösung dreht. Einfach so. Ganz fix. Ein paar Handgriffe. Das haben die Söhne nämlich auch staunend gesehen, und ich glaube, so ein Rubik’s Cube kommt mir lieber nicht ins Haus.

Weiter hinten erzählt ein Jugendlicher aus einer Klassenfahrttruppe seinem Freund, dass sein Passwort überall „falsch“ sei, denn dann würde ihn die Software bei Fehleingabe ja automatisch daran erinnern: „Ihr Passwort ist falsch.“ Perlen der Comedy, einfach so unterwegs aufgesammelt.

Ein junger Bayer drückt die Naturverbundenheit und Direktheit seiner Gegend sehr schön durch den bemerkenswerten Satz aus, den er seiner Freundin über den Gang hinweg zurief, ich bitte die eventuell nicht korrekte Schreibweise zu entschuldigen: „Wann i dahoam bin, muass i erst amoal kackn.“ So sind sie wohl, die Bayern.

Die Herzdame bereitete sich währenddessen lesend auf Südtirol vor. Ich habe im Klappentext gesehen, dass diese Kriminalromane, es gibt von dem Herrn mehrere, auch als Reiseführer geeignet sind, das wird dann vor Ort noch zu prüfen sein.

Bozenkrimi

 

Ich las, nicht ganz zu Südtirol passend, aber doch fast: „Blasmusikpop – oder wie die Wissenschaft in die Alpen kam“ von Vea Kaiser. Das habe ich auf dem Handy gelesen, das gefällt mir bisher sehr, und das kann ich auch jetzt schon empfehlen. Hervorragende Urlaubslektüre für Reisen in die Bergregion.

Direkt neben uns eine Familie, die Kniffel spielte, was mich unweigerlich an meine Jahre in Travemünde erinnerte. Wo ich im Winter Nachmittag um Nachmittag mit meiner Mutter und Hilde, der alkoholkranken Nachbarin, Kniffel spielte, wobei Hilde im Laufe der Stunden immer ordinärer und wüster fluchte, wenn die Würfel ihr nicht gefällig waren. In einer komplett verräucherten Wohnung, dicke und blaue Luft, der lederne Würfelbecher knallte immer wieder zwischen Sekt-, Bier- und Schnapsgläser auf dem Tisch, überquellende Aschenbecher daneben und jeder Punkt auf dem Blöcken immer ein Pfennig. Auf dem Sofa daneben Hans, der Mann von Hilde, mit dem immer gleichen Buch über den U-Bootkrieg auf dem Schoß, in das er allerdings kaum guckte. Ab und zu schlug er es dann doch einmal auf und sah auf ein Bild, ansonsten besah er sich stumm die Rauchschwaden, die er selbst auch ergänzte, mit unzähligen Reyno Menthol.

Das klingt nicht beeindruckend, ein Pfennig pro Punkt, das brachte aber manchmal erstaunlich viel Geld, wenn wir nur genug Stunden mit dem Spiel zubrachten. Es war auch nicht gerade schwer, gegen Erwachsene zu gewinnen, deren Konzentrationsfähigkeit irgendwann sichtlich unter Dimple oder Deinhardt litt. Aber eigenartig, aus heutiger Sicht ist das alles kaum noch vorstellbar. Es war doch eine seltsame Zeit, wenn man das jetzt so aufschreibt. Wie jede Zeit seltsam ist, wenn man sie mit ausreichend Distanz betrachtet, und sei es nur wegen der Mode. Irgendwas war immer absurd.

Dann fuhr der Zug in Fulda ein.

(Fortsetzung folgt)

25 Kommentare

  1. Bitte lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen: „Marmelade“ aus Tomaten ist schlicht Ketchup, der Zuckergehalt entlarvt die Farce.
    Guten Appetit.

  2. Man kann sich das Gepäck schicken lassen, Tür zu Tür. Das klappt, kostet nicht viel und spart etwa 2 Jahre des Lebens.

  3. Es sollte dir schon zu denken geben, dass das Hotel Reichshof erst eröffnet hat, nachdem ihr weg wart. (Ein Grund sich auf die Rückkehr zu freuen, es ist toll geworden.)

  4. Streng genommen kann man in Deutschland seit einigen Jahren keine Marmelade mehr machen, höchstens Konfitüre. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Marmelade
    Ach ich freue mich schon auf die Diskussionen mit den Lehrern ab August, wenn mein Junior in die Schule kommt.
    Und wo wir gerade so schön beim Klugscheißen sind, bitte noch den Buchstabendreher in Multikultiviertel korrigieren.

  5. Die Mutter mit dem Rubiks Cube war ich ;-). Ich bringe es dir gern bei – ich finde ja, Eltern sollten unbedingt immer einen intellektuellen Trumpf im Ärmel haben… Liebe Grüße, snowqueen

  6. Immerhin hat die Zugfahrt zu Beginn wegen der Tunnel etwas von einer Diashow. Genauso, treffend beschrieben, langweilig wie ebendiese.
    Und wenn wir demnächst aus dem Exil mit dem Nachwuchs die Reise in die Gegenrichtung unternehmen, bin ich gespant, ob wir mehr aus ihnen herausgekitzelt bekommen. Bei uns ist der Schultag dann gelungen, wenn das Mittagessen in der Schulmensa geschmeckt hat. Das dazu.

  7. Tipp: ICEs nach München starten normalerweise in Altona. Das hat zwei Vorteile. 1) Sie können mit der S-Bahn hinfahren. 2) Der Zug steht da länger und man kann auch bei umgekehrter Wagenreihung entspannt einsteigen, Platz suchen,…
    Ach ja, das norddeutsche Flachland, sooo schön, jedes Mal wieder.

  8. Man kann sich das Gepäck schicken lassen, Tür zu Tür. Das klappt, kostet nicht viel und spart etwa 2 Jahre des Lebens.

    Bei mir klappt das nicht. Da sitzt man dann schon mal zwei Tage im Hotel und wartet auf die Koffer die nicht kommen, weil der Kurier die Auslieferungsrunde heute wieder nicht geschafft hat.

    Ein Gefühl wie bei Flugreisen wenn der Koffer verschwunden ist. Ob das damit gemeint ist, dass Reisen mit der Deutschen Bahn eine Alternative zum Fliegen sein kann?

  9. Betreffs bairischer Umschrift und korrekte Schreibweise: bis auf „amoal“ (hätte ich jetzt gefühlsmäßig eher mit „amoi“ transkribiert) fand ich das Statement phonetisch sehr gut getroffen. Wer so ausgeprägt Bairisch redet wie der zitierte junge Mann würde zur Beschreibung seines Vorhabens aber eigentlich nicht auf den Terminus „kackn“ zurückgreifen. Ist der Begriff denn tatsächlich so gefallen oder bekommen Blogleser hier möglicherweise nur „ad usum Delphini“-Text serviert anstelle des Originals?

  10. Hallo und danke für den tollen, langen Text!
    Ich hab den Autor der Südtirol-Krimis ja mal kennen lernen dürfen, das ist ein Spitzentyp!!!!
    … hat übrigens auch einen Emsland-Krimi geschrieben, falls Ihr mal einen Reiseführer für den Landkreis braucht, in dem immer ganz viele Westfalen Urlaub machen 😉
    Liebe Grüße, Esther

  11. In Sachen Südtirol-Lektüre kann ich von Francesca Melandri „Eva schläft“ empfehlen.
    Der Roman an sich hat mich zwar nicht unbedingt begeistert (wenn ich ihn auch gern gelesen habe) – das Interessante und Empfehlenswerte an ihm war für mich das eingeflochtene Geschichtswissen über Südtirol vor/im/nach dem 2. Weltkrieg. Ich hatte ja keine Ahnung.

  12. Ach, wie gern würde ich auch mit der Bahn in den Süden fahren, meinetwegen auch mit 5 Koffern und zwei Kindern. Und das mit dem Proviant würde ich genauso machen, inklusive Thermoskanne und Caprisonne, nur keine Brote mit harten Eiern und grünlichen Rändern, bitte.
    Gute Reise!

  13. Kinder legen mit Eintritt des Kindergartens ein Schweigegelübde ab. Eine Art mafiöse Omerta. Meine Erfahrung mit allem drei Söhnen. Bis heute weiss ich nicht, was sie seitdem machen. Und sie sind schon gross.

  14. Lese gerade „Es fehlt mir nicht am Meer zu sein“ und freue mich auch hier auf Hilde zu stoßen!

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