Wertvolle Wolldecken und romantischer Regen

Mein Handy hat sich in der Hosentasche selbständig gemacht, es war entsperrt und ich habe durch Bewegungen beim Gehen wild darauf herumgedrückt. Meistens rufe ich dann ohne es zu merken jemanden an, der dann mit meinem Gesäß telefoniert, manchmal höre ich auch eine wieder einmal nichts verstehende Siri aus der Hosentasche. Diesmal war es etwas raffinierter, diesmal habe ich die Bilder-App geöffnet, also nicht ich, sondern meine Gehbewegungen haben das ganz alleine getan. Sie haben die Bilder-App geöffnet und es dann auch noch geschafft, ein neues Album anzulegen, es hat sogar einen Titel und der Titel ist auch noch ein sinnvolles Wort, ist es denn zu fassen: “Molke”. Ein ziemlich interessanter Zufall.

Was mache ich denn jetzt damit? Ich gehe an Zufällen ja ungerne vorbei. Mal eine Molkerei, nein, eine Käserei besuchen, um das Album mit Bildern zu füllen? Mir einen Hund zulegen und ihn Molke nennen? Molke, komm, ich mache ein Bild von dir! Schwierig. Lapidar übrigens die Wikipedia, ich gucke ja alles gleich nach, so auch die Molke, da liest man dann: “Um 1890 bestanden in der Schweiz gegen dreißig Molkenkurorte, doch schon um 1900 wurde Molke als nutzlos betrachtet.” Sic transit gloria mundi, aber gelernt hat man doch wieder was. Hätte es die zehn goldenen Jahre der Molke in den USA gegeben, wir würden alle irgendwelche Filme darüber kennen, mit Robin Williams als Kurarzt kurz vorm Untergang.

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Nachts wache ich auf, weil ich vom Erstickungstod träume, womöglich ist die Wärme in dieser Wohnung ganz im Ernst nicht mehr gesund. Ich sitze eine Weile auf dem Balkon und gucke auf den dunklen Spielplatz, nach einer Weile fallen mir auf einigen Balkonen ringsum ein paar Menschen auf. Da sitzen also noch mehr zu unchristlicher Zeit herum wie ich und atmen gierig Nachtluft, die in den Wohnungen nicht ankommt. Dann geht es irgendwann und ich schlafe noch zwei Stunden. Ausgeschlafen fühle ich mich dann im Herbst wieder, nehme ich an.

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Ich lese “Arme Leute – Reportagen” von William T- Vollmann, übersetzt von Robin Detje. Ich bin noch recht weit vorne, aber das Buch ist ziemlich zweifelsfrei interessant.

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Für Sohn I habe ich zusammengekauft, was er für den Start am Gymnasium braucht, es gab da eine ellenlange Liste von der Schule. Ich glaube, er hat jetzt mehr Schnellhefter, als ich überhaupt je besessen habe, was lernen die denn da bloß, Ablagesysteme? Dabei gelernt, es gibt jetzt vorgefertigte Plastikfolien, um Schulbücher darin säuberlich und passend einzuschlagen, die gibt es sogar für alle nur denkbaren Buchgrößen im Abstand von je 5 Millimetern Rückenlänge. Wir dagegen mussten damals alles noch komplett selbst basteln. Und was gab das immer für einen Ärger, wenn ich das Mathebuch dann wieder in die Todesanzeigen der Lübecker Nachrichten eingeschlagen habe. Schlimm. Ich kann mich allerdings, wie mir gerade einfällt, an kein einziges Mathebuch erinnern, und zwar nicht einmal ansatzweise, wohl aber an die aus allen anderen Fächern. Verdrängung ist immer wieder auch eine Gnade, das darf man nicht vergessen.

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Eben kam das Unwetter, das mit -zig auf dem Handy blinkenden Warnungen seit Stunden angekündigt worden war. Es war sogar ein wenig beeindruckend windig, das ging schon in Richtung Orkanböen, doch, doch. Es kam auch reichlich Regen runter, so Unwetterregen wie im Film, wo man immer denkt, da steht doch einer mit Schlauch und Eimer nebe dem Kameramann. Es blitzte auch schön quer über den plötzlich düsteren Himmel, es donnerte wie im Hörspiel und es flog reichlich Laub vorbei, wirklich, ich will nicht meckern, das war nicht schlecht. Nur leider verdammt kurz.

Vom Fenster aus sah ich unten ein Pärchen stehen als es gerade ganz dunkel wurde, die hasteten nicht wie die anderen in Sicherheit, die suchten nicht Deckung, Schutz und Trockenheit, die blieben mitten im Wolkenbruch stehen und drückten sich und knutschten und umarmten sich, die strichen sich gegenseitig die klatschnassen Haare aus den Gesichtern, pusteten Tropfen von Nasen weg und lachten und lachten und froren, denn es hagelte auch ein wenig, die haben alles, alles richtig gemacht. Und hätten sie kurz hochgeguckt, sie hätten meinen begeistert hochgereckten Daumen gesehen. 1A-Romantik, gerne wieder. Zu Not auch mit spanischen Untertiteln.

 

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Die Söhne haben jetzt keine Urgroßeltern mehr, wir werden nächste Woche zur Beerdigung ihrer Urgroßmutter fahren. Aber es freut mich, dass die beiden diese Generation noch erlebt haben, und sogar so, dass sie sich deutlich erinnern werden. An Menschen aus einer ganz anderen Zeit und mit einem ganz anderen Lebensstil, an Menschen, die nie große Ansprüche gestellt haben, nicht an ihre Karriere, an ihre Freizeit oder an ihr Land, nicht an die Gesellschaft, nicht einmal an die Familie. Die keine besonderen Kicks gesucht haben, keine Rekorde, keine Specials oder irgendwelche best of was auch immer, sondern einfach nur Alltag, und die diesen Alltag dann gut und passend gefunden haben, so dass da nicht mehr viel geändert werden musste. Jahrzehntelang. Sich bescheiden und zufrieden sein, eine aussterbende Grundqualifikation.

Und wenn hier jetzt jemand in diesem Haushalt Mittagsschlaf macht, er kann die Wolldecke der Uroma mit aufs Sofa nehmen, das sind doch Erbstücke, die wirklich etwas wert sind.

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Was noch? Bernstein und Gould.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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7 Kommentare

  1. Mein Beileid zum Tod der Großmutter und Urgroßmutter. Ja, das ist wirklich ein großes Glück dass die Söhne die Urgroßeltern noch erlebt haben. Und ihre Worte treffen diesen Lebensstil (wobei das Wort natürlich komplett unzutreffend ist, man hat eben einfach gelebt Punkt) ganz genau.

    Danke für diese und alle anderen Worte. Gerade die letzten Tage nachgelesen und wieder gedacht nur einen Tag so schreiben können wie der Herr Buddenbohm.

    Liebe Grüße, Ina

  2. Mein aufrichtiges Beileid.
    Schön, dass die Jungs die Urgroßeltern noch so lang erleben durften.
    Und da ist so eine Wolldecke eine schöne und warme Erinnerung <3

  3. Die vorgefertigten Buchumschläge kenne ich schon aus den 70er Jahren. Allerdings konnte man sie meist nur ein Jahr lang nutzen, weil es im nächsten Schuljahr Bücher mit komplett anderen Maßen gab.

  4. Auch die Urgroßeltern waren doch einmal jung und wild und leidenschaftlich? Haben sich gerieben, bis ihre Konturen geschärft waren und sie zu denen wurden, als die die nachfolgenden Generationen sie kannten? Und wohl doch wird das Wachsen und Wandeln nie aufgehört haben. Das klingt so, als sei da nie Feuer gewesen, das mit dem Alltag. Aber wer kann das wissen, der nicht in ihren Schuhen ging.

  5. Mein Beileid der Familie Buddenbohm!
    Wie wunderbar warmherzig haben Sie die Verstorbenen beschrieben. Danke dafür!
    So habe auch ich meine Eltern und Großeltern erlebt. Bescheiden in ihren Ansprüchen, dankbar, am Leben zu sein und keinen Hunger zu leiden.
    Vielleicht waren einmal andere Lebenserwartungen da, aber in einem Jahrhundert zwei Weltkriege miterlebt zu haben, lässt keinen Raum mehr für Illusionen.

  6. Ha ha , der hochgereckte Daumen, oh, den hab ich mir letzthin mit einer liebsten Freundin auch geholt: Regen in der touristenvollen Altstsadt. Als es loslegt, gehen alle in Deckung unter Markisen, in die Läden – und wir? Wir strahlen uns an, legen die Arme umeinander und gehen alleine mitten in der Fußgängerzone wirklich alleine durch das Geschütte und lachen, wir lachen alle unter den Markisen aus. Wie liebevoll die Worte zu den Großeltern, mein Beileid. Wie schön Wolldecken zu haben und Erinnerungen an diese so ganz anderen Leben. Bei uns ist es das eine oder andre Schüsselchen, die Knöpfekiste, handgeschriebene Rezepthefte.

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