Bildungsellenbogen

Das im letzten Artikel (also vor mittlerweile einigen Wochen) erwähnte Problem mit den nicht einsatzwilligen Gräten besteht dummerweise weiterhin, dieser Text hier wurde daher größtenteils diktiert. Aber Texte zu diktieren, das wird keine Dauerlösung sein können, ich gehöre zu den Menschen, die mit den Händen denken, ich weiß leider so gar nicht, was ich sagen möchte, bevor ich es getippt und in Form gebracht habe. Es besteht überhaupt Anlass zur Sorge, dass ich beim Reden nur Unsinn von mir gebe, die Familie nickt an dieser Stelle unangenehm kenntnisreich.

Vor einiger Zeit gab es in Bloghausen einmal eine Bildungsbandscheibe, das Wort ist damals bei mir hängengeblieben und guck, das ist also tatsächlich schon wieder fünf Jahre her. Ich lege da jetzt die Bildungsellenbogen an, denn während der letzten drei Wochen habe ich mir große Mühe gegeben, größtenteils nichts zu machen, schon gar nicht etwas mit Tasten, nicht einmal am Handy. Wenn man aber mit den Händen und Armen nichts machen soll, dann bleiben nach etwas Nachdenken Bücher und Audioformate und der Blick aus dem Fenster übrig. Natürlich hätte ich auch noch Serien gucken können, wie es fast alle so begeistert machen, aber die interessieren mich einfach nicht genug. Und da ich hier gerade einen Sohn mit Schulwechsel zum Gymnasium habe und deswegen in letzter Zeit eh viel über das Thema Lernen gelesen und geredet habe, habe ich direkt Lust bekommen, selbst mal wieder etwas zu lernen. Man soll nicht immer nur von anderen etwas verlangen, man soll auch selber mal ran, nicht wahr, Führungskräfte kennen das.

Am ersten Tag mit Krankschreibung und ohne Aufgabe habe ich morgens und am Vormittag noch lange überlegt, was ich machen soll, wenn ich tatsächlich nichts machen soll, denn so einfach ist das nicht, das klingt nur so. Der Computer blieb tatsächlich aus. Es ist oder war mir aber vollkommen selbstverständlich, in der Wohnung vor dem Computer zu sitzen, zumindest alle paar Minuten mal kurz, mal eben etwas nachsehen, mal eben etwas notieren oder twittern, mal eben etwas lesen oder korrigieren, irgendwie schriftlich weiterdenken. So ganz ohne, das war schon eine höchst irritierende Situation. Ich irrlichterte ziemlich ratlos durch die Räume und setzte mich sogar ins Wohnzimmer, da bin ich sonst eher selten. Ich legte mich aufs Sofa und versuchte, mich erst einmal zu entspannen und gründlich nachzudenken, Zeit dafür hatte ich ja endlich einmal genug. Ich schlief wie immer dabei ein.

Dann war ich mittags mit der Herzdame essen, denn das Kochen geht leider auch eher schlecht ohne den Einsatz von Armen und Händen. Auf der Speisekarte stand “Business-Lunch”, da fühlte ich mich gleich wie ein Hochstapler. Sitzt der da wie ein anständig arbeitender Mensch zwischen den ganzen Büropausenleuten und tut in Wahrheit gar nichts, ich bin einfach zu norddeutsch-protestantisch geprägt für so etwas. Wie es sowieso bemerkenswert dämlich ist, an einzelnen Gelenken zu erkranken, man fühlt sich irgendwie dabei gar nicht ausreichend krank, obwohl man es doch ziemlich eindeutig ist. Aber dennoch, dieses gewisse Tagediebgefühl – eher unangenehm.

Dann bin ich in die Bücherei gegangen, ich hatte keinen Plan und keinen Wunschzettel dabei, ich dachte, ich gucke einfach mal nach Sachbüchern, was mich da so anspricht, querbeet. Wozu ich erklären muss, dass ich gerade aus heiterem Himmel eine literarische Umkehrphase habe, was bei mir alle paar Jahre einmal vorkommt und dann länger anhält. Ich finde gerade Romane und Geschichten, ich finde gerade einfach alles Ausgedachte doof und möchte bitte Bücher mit vernünftigem Inhalt lesen. Also Sachbücher. Das ist insofern merkwürdig, als ich Ihnen in der umgekehrten Phase mühelos und länglich erklären könnte, warum Sachbücher doof sind und letztlich zu geistlosem Spezialistentum führen, warum also nur das Lesen von Romanen und Geschichten einen menschlich wirklich weiterbringt, was ich jetzt gerade natürlich vollkommen abwegig finde, denn Romane bringen rein gar nichts, Romane sind eigentlich sogar unerträglich. Es soll Menschen geben, die beide Phasen gleichzeitig leben können, die lesen heute einen Krimi und morgen ein Bändchen über die Herrenmode im ausgehenden Spätmittelalter, warum auch nicht. Mir ist das nicht gegeben, ich mache das mehr so Jekyll-Hyde-mäßig zeitversetzt, und die beiden Herren schätzen sich dummerweise nicht, wie man weiß.

Es fällt mir also, wenn man es recht bedenkt, schon schwer, die Meinungsvielfalt in meinem eigenen Kopf zu tolerieren, das ist immer wieder verblüffend. Wie dumm ich doch gestern war, wie abwegig ich gedacht habe, wie seltsam ich Prioritäten gesetzt habe. Wenn sich aber mein gestriges und mein heutiges Ich schon prima über so banale Fragen wie die der einzig richtigen Literaturwahl heillos zerstreiten können, wie absurd schwierig ist es dann bitte, die komplett irren Meinungen anderer Leute auszuhalten? Womit wieder bewiesen wäre, dass man über Meinungen am besten überhaupt nicht streiten sollte, zumindest nicht im Ernst. Es sind nur die Haltungen, die zählen, bei allem anderen sollte man sich entspannen.

So gönnerhaft und mühsam beherrscht tolerant ging ich also mit mir selbst und meinen drolligen Zuständen um, dazu las ich nach dem Büchereibesuch erst einmal einen schmalen Axel Hacke: “Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen.” Eine hervorragende Lektüre, passend zum tobenden Konflikt in mir und selbstverständlich auch passend zur Zeit, wie man sicher nicht weiter erklären muss, das wurde dann ein paar Tage später am Beispiel einer Stadt in Sachsen noch dramatisch viel deutlicher. Empfehlung also! Überhaupt eine Empfehlung, viel länger über solche Dinge nachzudenken. Anstand, Moral, Sinn, so etwas. Feine Themen, man müsste mehr Zeit dafür haben. Oder sich nehmen. Bei Axel Hacke wird u.a. Yuval Noah Harari zitiert, den ich auch gerade gelesen und gerne empfohlen habe, das ist immer schön, dann fühlt sich das alles so an, als läge man irgendwie richtig mit der Wahl seiner Bücher und würde thematisch halbwegs vernünftige Kreise ziehen. Was auch immer da vernünftig sein mag, einer längeren Betrachtung hält das auch wieder nicht stand, schon klar.

Ich las ferner einen Zufallsfund, so ein Buch, in das man nur kurz im Vorbeigehen hineinsieht und an dem man dann ebenso unerwartet wie gründlich hängenbleibt, das ist das Schöne an großen Büchereien oder Buchhandlungen. Es ist von Stefan Weiler und heißt: “Letzte Lieder – Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens”. Er hat Menschen in Hospizen besucht und sich etwas über ihre Lieblingsstücke erzählen lassen. Es sind viele Geschichten darin, auch ein paar, die man nicht ganz so leicht verdauen wird, da sterben auch jüngere Menschen, auch ganz junge. Es sind Menschen dabei, die gerne gehen, es sind aber auch Menschen dabei, deren Zustand einem das Herz bricht, so etwas kommt vor. Es ist nicht einfach, wirklich nicht. Aber ich habe es in einem Rutsch durchgelesen und lange kein Buch so interessant gefunden, was für eine gute Idee. Man muss danach natürlich auch etwas über seine eigene Musik nachdenken und was eigentlich auf der Beerdigung laufen soll, aber warum nicht. Draußen herbstelt es heran, zumindest wenn man etwas fantasiebegabt ist, und man kann das mit Genuss zelebrieren, wenn man den Termin der eigenen Trauerfeier noch in der weiten Ferne vermutet jedenfalls. 

Da man ohne Arme auch Podcasts hören kann, abonnierte ich, altmodisch wie ich bin, Radiosendungen von Deutschlandfunk etc. Und hörte z.B. eine lange Sendung über den Tod von Benno Ohnesorg und die Umstände der Demonstrationen damals, wobei ich meiner eigenen Allgemeinbildung zum Thema 68 ein paar Mängelrügen erteilen musste. Aber gut, man kann ja daran arbeiten.

Nachmittags zeigte ich Sohn I, wie er vom Gymnasium mit der U-Bahn zur Parkour-Halle kommt – und freute mich wie Bolle über die wachsende Selbständigkeit und sein Größerwerden und überhaupt. Ich sah eine Weile beim Parkour zu und merkte, dass ich diese Übungen da dauernd kategorisierte in “Hätte ich damals auch gekonnt” und “Hätte ich nie gekonnt”. Bei den größeren Jugendlichen überwog die zweite Kategorie – und zwar deutlich! -, da sah ich Bewegungsabläufe, die waren zu meiner Zeit quasi noch nicht erfunden. Ich war auf eine vergnügte Art neidisch, das Gefühl war gar nicht so unangenehm. Aber Himmel. was hätte ich mit dem Sport als Kind für einen Spaß gehabt, es ist wirklich schade.

Am nächsten Tag las ich “Welt im Zwiespalt” von Edgar Wolfrum durch, ein Buch, in dem ich den roten Faden nicht gefunden, also vermutlich schlichtweg überlesen habe. Das machte aber nichts, es war auch in Einzelkapiteln interessant und eignete sich hervorragend, geschichtlich noch einmal etwas mehr Überblick zu bekommen und ein paar weitere Lücken zu schließen. Wobei mir deutlich auffiel, dass ich mir die Geschichte Europas nach 45 sowieso noch einmal genauer ansehen müsste. Die kam damals in der Schule nicht mehr vor, weswegen ich etwa in den Fünfzigern eher schwach bin, schon gar bezogen auf den Rest von Europa. Über die 70er weiß ich wieder mehr, warum eigentlich? Und alles nach 89 könnte gut etwas angereichert werden, so etwas versäumt man allzu leicht, wenn man dauernd als erwachsener Zeitzeuge dabei ist. Als ob man als Zeitzeuge jemals von selbst zum Überblick kommen würde.

Abends hörte ich eine längere Radiosendung über Einstein und die Relativitätstheorie und schlief völlig überfordert aber stets bemüht ein. Und so schläft es sich ja am besten, finde ich.

Demnächst mehr, ich muss das hier langsam angehen lassen, zu viele Tasten, zu wenig heile Sehnen. Im Laufe der nächsten Woche kriege ich aber irgendwie die Fortsetzung der Wanderung hin, hoffe ich.

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Was noch? Musik!

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Und übrigens bin ich nach wie vor und mittlerweile womöglich noch überzeugter denn je der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ich danke sehr. Und ich danke übrigens ganz besonders den lieben Menschen, die hier zwischendurch Geld eingeworfen haben, obwohl gar keine neuen Texte erschienen sind. Stark! Den Trinkgeldbericht für den August reiche ich noch nach. Wenn es wieder geht, als wenn alles wieder geht.

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19 Kommentare

  1. Geht doch, der Stil ist unverkennbar, auch mit Diktieren. Weiterhin gute Besserung!

    PS Als ich mir vor 4 Jahren den rechten Arm brach und 2 Monate nicht benutzen durfte, habe ich mich in der Kunst geübt, mit der linken Hand (bin Rechtshänder) im Dreifingersystem zu tippen. Alles dauerte zwar 5 x so lange, aber ging. Natürlich sollte man dabei darauf achten, sich den gegenüberliegenden Arm nicht auch noch kaputt zu machen.

  2. Was für ein Wort “irrlichtern“… toll!
    Ich hoffe, dass es bald aufwärts geht! Gute Besserung!
    Ja, und auch ich bin der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
    Viele Grüße von Margit

  3. Diktiert! WoW! Tolles und so generelles Gemeinschaftsding bei den Buddenbohms! Überhaupt: schön, hier wieder zu lesen. Es klafft ohne DIREKT eine Lücke! Gewohnt viel maximilianische Inspiration! Vieles liese sich auf- und rausgreifen – ich wähle *die Haltung*, Baby, jawohl. Eine Frage kitzelt mich noch : wäre es möglich, einen Satz, den Du als Erkenntnis aus der Sendung zur Relativitätstheorie mitgenommen hast, zu formulieren?

  4. Wenn ich Ihre armlosen Aktivitäten hier so lese, dann sollten wir uns eigentlich eine Woche pro Monat einen Bildungsellenbogen zulegen. Da war viel Nachdenkenswertes dabei. Vielen Dank für die Anregungen.

  5. Darf ich zum Bildungsellenbogen einen Tipp geben? Ich hatte als junger Mensch ständig Sehnenscheidenentzündungen rechts. (Was auch daran liegt, dass ich Füller und sonstiges Schreibwerkzeug anders halte als andere.) Da gab es alles als Behandlung: drei Wochen Gips hoch bis zur Schulter, Cortisonspritzenkuren u.v.m.

    Was aber wirklich geholfen hatte, war der Rat von einem sehr gefürchteten, alt eingesessenen Orthopäden hier in Berlin – vor dem alle Angst hatten aber alle zu ihm gingen, weil er gut war. Der behandelte damals schon Patienten mit einem einfachen Prinzip: Bewegung.

    Mein Tipp an mich war mir in der Apotheke essigsaure Tonerde (flüssig) zu kaufen, davon was in eine Schüssel zu geben in die mein Unterarm gut passen sollte. Diese mit lauwarmen Wasser zu füllen und dann mit einem Schwamm mit diesem Arm dadrinnen Greifübungen zu machen. (Vielleicht passt ja das Waschbecken.) Täglich ca. zehn Minuten. Drei Wochen lang.

    Sinn der Geschichte: Entlastung des Armes von eindimensionalen Bewegungen weg hin zum Muskelaufbau. Im Grunde genau das, woraus die allermeisten orthopädischen Beschwerden resultieren.

    Nie wieder Probleme mit dem Arm gehabt.

  6. Und gleich wieder so ein toller Text – entschädigt reichlich für die Buddenbohmsche Fehlzeit. Dennoch, den Arm nicht zu schnell überfordern schließlich wollen wir uns noch lange an Ihren sprachlichen Gelenkigkeiten erfreuen.
    Besonderer Dank auch an die Schreibhilfe.

    Und zum Innenminister: ein ehrenwerter Abgang kann es nimmer werden. Seehofers Verhalten hat m.E. schon pathologische Züge.

  7. Ich habe es auch am liebsten, wenn mein Gegenüber sofort erkennt: „Aha, Arm im Gips, der ist krank.“ Oder „Heisere Stimme, Schniefnase. Schluckt schwer. Halsschmerzen. Ab ins Bett, sofort.“ Gute Besserung! Ich hoffe, dass sich der Innenminister endlich Ihrer Meinung anschließt.

  8. ich gehöre zu den Menschen, die mit den Händen denken

    Zuletzt in Murakamis „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ etwas ähnliches gelesen: Dass er das Schreiben zum Denken braucht, es also nicht bloß als ein „In Worte Fassen“ der Gedanken, sondern als aktiven Akt des Denkens, des Hervorbringens begreift. Dass er es brauche, schrieb er, um diese Gedanken überhaupt erst zu haben. Kann mich darin sehr wiederfinden, frage mich aber, worin das begründet liegen mag?

  9. Auf zufälliger Durchreise, danke ich für die schönen Worte.

    Das Buch von Stefan Weiller ist gut. Besser ist natürlich er selbst in Vorträgen oder die vertonten Konzertlesungen „Letzte Lieder“ oder „Letzte Liebeslieder“. TERMINE HIER ZU FINDEN
    https://www.google.de/url?sa=t&source=web&rct=j&url=https://www.stefan-weiller.de/&ved=2ahUKEwivgInQhdHdAhVJzKQKHWVdBK8QFjAAegQIABAB&usg=AOvVaw2h7YKPkDOJuw5kyeL8Wv4w
    Stefan besucht uns nächste Woche wieder in Hamburg für ein Interview im Hospiz. Es ist eine Freude mit ihm zuarbeiten. Es ist traurig und lustig freudig zugleich. Es berührt und das als Qualität ist herrlich am Ende oder überhaupt im Leben. Oder?
    Herzlichst Steffi

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