Die Größe des Bösen

Öfter mal eine Schüssel für alle auf den Tisch stellen.

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Man wird unser Zeitalter anhand von Hühnerknochen nachweisen können.

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Loslassen.

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Ich habe beschlossen, beim Wiederleseprojekt etwas zu schummeln und mir einige Werke als Hörbuch vorlesen zu lassen, so gewinne ich durch den Arbeitsweg immerhin etwa 40 Minuten Lesezeit am Tag, da passt vieles hinein. Klaus Nägelen hat mir daher in nur zwei Tagen “Der seltsame Fall des Dr. Jekyll & Mr. Hyde” von R. L. Stevenson vorlesen können, das ist eines der Bücher, die ich tatsächlich alle paar Jahre mal lese. Das ist außerdem zum heutigen Stand meine Lieblingserzähung, die wurde in meinem Lieblingstonfall von meinem Lieblingsautor geschrieben, es ist für mich ein geradezu heimatliches Gefühl, die einleitende Beschreibung von Mr. Utterson zu lesen, hier zitiert nach der Ausgabe im Gutenbergprojekt:

“Der Rechtsanwalt Utterson hatte ein strenges, von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht, das nie durch ein Lächeln erheitert wurde, kalt, kurz und verlegen in seiner Unterhaltung, zurückhaltend im Ausdruck seiner Gefühle; lang, dürr und schwermütig war er – und doch konnte man nicht umhin, den Mann lieb zu haben.

Unter alten Freunden, nach einem guten Diner, wenn der Wein ihm besonders schmeckte, strahlte etwas unbeschreiblich Liebevolles aus seinen Augen, etwas, dem er in seiner Rede nie Ausdruck zu geben vermochte, aber das sich oft und laut in seinen Handlungen aussprach. Er war streng mit sich selbst; wenn er allein war, trank er gewöhnlichen Gin, um seine Vorliebe für gute Weine abzutöten. Er war ein großer Verehrer des Dramas, doch hatte er seit zwanzig Jahren kein Theater besucht. Er hatte aber grundsätzlich eine große Duldsamkeit für die Schwächen anderer; er schien fast mit Neid das Ueberfließen von Temperament zu bewundern, das die Ursache ihrer Untaten war, und in allen Fällen war er geneigt, lieber zu helfen, als zu tadeln. »Ich folge Kains gottloser Ketzerei,« pflegte er in seiner eigentümlichen Weise zu sagen, »und lasse meinen Bruder seinen eigenen Weg zum Teufel gehen.« Daher kam es denn auch häufig, daß er die letzte und einzige anständige Bekanntschaft von verkommenen Menschen war; und diesen gegenüber bezeigte er, wenn sie ihn besuchten, auch nie die geringste Veränderung in seinem Wesen.”

Deutsch von Gisela Etzel.

Es ist eine außerordentlich fein konstruierte Erzählung, bei jeder neuen Lektüre bewundere ich wieder das Geschick von Stevenson. Während die meisten Menschen grob wissen, was es mit Jekyll & Hyde auf sich hat, haben vermutlich gar nicht mal so viele das Buch gelesen, dabei ist das ein wirklich erheblicher Spaß und der Herr Stevenson für mich einer der Erzähler schlechthin. Ich war erneut so verzückt, ich habe sofort danach wieder mit seiner Schatzinsel angefangen, es ist ganz und gar herrlich.

Eine Anmerkung zu Jekyll & Hyde noch. In der Wikipedia fand ich den Hinweis, dass in den zahllosen Verfilmungen des Buches der böse Hyde stets größer als Jekyll dargestellt wird, im Buch ist das umgekehrt. Aus Stevensons Sicht war das auch richtig so, Hyde musste schwächer entwickelt, jünger und kleiner als Jekyll sein, er hatte ja als verdrängte Persönlichkeit viel weniger Zeit gehabt, sich zu entwickeln und zur Blüte zu gelangen. Aber Stevenson ist in diesem Punkt ein korrigierter Erzähler, die Filmemacher haben durch die Bank erkannt, dass das Böse groß sein muss, um Angst zu machen, dass die Größe vollkommen untrennbar zu seiner Macht gehört und ein kleiner Hyde nicht zu vermitteln ist. Und ob bedacht oder unbedacht, sie haben so auch noch den Umstand verstärkt hervorgehoben, dass Verdrängung Monster gebiert – und Monster stellt man sich nun einmal nicht mager und schwach vor, fragen Sie ruhig mal das nächstbeste Kind nach präzisen Größenangaben, die Kinder wissen verlässlich Bescheid.

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Ich hatte mehrere Termine in einer Praxis für Radiologie, weitere liegen noch vor mir. Die waren in meinem Fall völlig harmlos, im Falle etlicher anderer Patienten aber unübersehbar überhaupt nicht. Alle Formen des seelischen und körperlichen Elends, weinende Patienten und Angehörige, da spielen sich Szenen ab, die so nah an den jeweils heiligsten Gefühlen und wichtigsten Gedanken der Betroffenen sind, solche furchtbaren seelischen Dramen, es gehört sich nicht, sie zu beschreiben, man möchte sich eher entschuldigen, überhaupt etwas gesehen zu haben.

Nur so viel, man möchte beim Rausgehen sofort ein besserer Mensch werden, weil das unvermeidbare Leid doch ganz gewiss schon für alle ausreicht, es kann gar keinen Grund geben, es noch durch vermeidbaren Varianten zu vermehren. So gehe ich nach diesen Besuchen jeweils zwanzig Minuten frisch geläutert durch die Straßen, bis ich schließlich doch wieder in die moralische Durchschnittlichkeit zurückfalle, die uns nun einmal alle unweigerlich auszeichnet.

Aber so ist der Mensch, ist er nicht?

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Musik. Heute mit etwas mehr Schwung. 

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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3 Kommentare

  1. Die Auswirkungen Ihres Besuchs in de Radiologie halten länger als 20 min. an, sonst würden Sie ja nicht darüber schreiben :-).
    Und ich weiß genau, was Sie meinen. Der Weg meines Kindes führt aufgrund einer chronischen Erkrankung regelmäßig in die fürchterlichste Abteilung einer Uniklinik, in die Kinder-Onkologie, die mit uns zum Glück nichts zu tun hat. „Unsere“ Abteilung teilt sich aus bestimmten Gründen dort nur die Räume mit der Onkologie.
    Mir reichen schon die ersten Schritte im Foyer, um eine tiefe Dankbarkeit zu empfinden, dass mein Kind kein Patient dieser Abteilung ist und diese Dankbarkeit hält dauerhaft an. Es macht einen vielleicht nicht grundsätzlich zu einem besseren Menschen, aber man wird dankbarer und demütiger für die eigene Situation und das ist doch schon mal ein Anfang.

  2. Ihre Liebe zur Sprache der oben zitierten Passage aus Stephensons Buch (bzw. dessen Übersetzung) erinnert mich an meine Begeisterung für den Roman „Die Gestirne“ von Eleanore Catton (siehe z.b. hier https://www.zeit.de/angebote/buchtipp/catton/index)
    …aber 1000 Seiten zusätzlicher Lesestoff bringen das Projekt ‚Wiederlesen‘ natürlich in bedenkliche Schieflage, das ist mir schon klar 😉

  3. Schüssel für alle auf den Tisch, gute Idee! Ich war mal bei äthiopischen Freunden zum Essen eingeladen. Das Gericht, Reis mit Huhn und Gemüse, lag in einer großen flachen Schüssel in der Mitte des runden Tisches, wir hatten weder Bestecke noch Teller, sondern nur dünne weiche Fladenbrote, von denen sich jeder Stückchen abbrach und mit den Fingern Häppchen aus der Schüssel nahm. Als besonderer Liebes- und Freundschaftsbeweis steckte man sich auch mal ein Häppchen gegenseitig in den Mund. Hinterher wurden Schüsseln mit warmem Wasser und saubere Handtücher herumgereicht, um sich die Finger abzuspülen. Toll!

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