Die Bücherei-Ausgabe der Erzählungen von Gabriele Wohmann, die ich gerade gelesen habe, ist von 1968, sie ist also fast so alt wie ich. Das Buch wurde vermutlich mehrfach neu gebunden und beschnitten, es ist jetzt alles etwas zu eng geraten. Wenn man das Buch aufklappt, dann sieht es aus, als müssen man die Zeilen immer über zwei Seiten hinweg lesen, denn den Spalt und den Weißraum in der Mitte gibt es nicht mehr, der fiel dem Buchbinder zum Opfer. “Wie geht denn dieses Buch”, fragen die Söhne, man kann es tatsächlich kaum aufklappen.
“Gesetzt in der Garamond Antiqua”, das steht noch hinten drin, und dass der Verlag Luchterhand heißt, das muss man dann schon wissen, entziffern kann man es kaum noch, da fiel der Schnitt etwas zu rabiat aus. Ein stark genutztes Büchereibuch ist das, vielfach malträtiert und durch tausend Hände und Haushalte gegangen. Mitten im Buch prangt ein roter Stempel: “Zentralbücherei Mönckebergstraße”. Da war die Bücherei bis 1971, das heute klein wirkende Gebäude mit dem Brunnen davor war das einmal, die Volkslesehalle. Da hat das Buch also noch gestanden und dann hat es zwei oder drei Büchereiumzüge mitgemacht, nie hat es jemand aussortiert, denn die Wohmann, die liest man doch.
Es sind Geschichten voller Bosheiten in dem Buch, wenn die Wohmann Menschen beschreibt, dann gerne mit vorzüglichen Beleidigungen, das habe ich gar nicht gewusst. Es sind aber auch sehr ernste Geschichten, sehr auf Wirkung berechnete und äußerst kunstvoll konstruierte dabei, alle Achtung, was ich da neulich gelesen habe, von der Großmeisterin der Erzählung, das verstehe ich jetzt schon besser.
Manche Stellen klingen vielleicht aus heutiger Sicht etwas arg so, als sei die nächste Deutscharbeit nicht weit, Interpretation Kurzprosa, 45 Minuten Zeit, bitte sehr, es schaudert einen schon beim Lesen. Was für ein Glück, aus dieser Lebensphase heraus zu sein. Dass man das erfolgreich hinter sich gelassen hat! Dass man jetzt beim Lesen in aller Seelenruhe irgendwas überlesen und komplett verpassen darf, eine Andeutung, einen Bezug, einen Wink mit dem Zaunpfahl, völlig egal. Ich habe gerade nicht aufgepasst, macht nichts, wie entspannend ist das bitte. Immer wieder stoße ich auf gewisse Stellen und denke, früher hättest du da mal zwei Seiten lang drüber nachdenken müssen, auch im Studium ja noch.
Alle paar Seiten kommen Absätze, Stellen, Zeilen und Begriffe, die sind markiert, unterstrichen, besternt, mit Frage- und Ausrufezeichen hervorgehoben, die sind bekritzelt, am Rande erklärt und mit Anmerkungen versehen. Mit Bleistift, Kuli und Textmarker, in kindlichen Handschriften und steilen Altherrenschriften. Mit butterweichen Buchstaben wurde sorgsam etwas notiert, in unlesbaren Hieroglyphen wurde etwas hingeschmiert. Unwillkürlich denkt man beim Lesen mit, wenn da jemand das Wort “Haus” unterstrichen hat, warum denn jetzt das? Ist das Haus metaphorisch, was ist an dem Wort da jetzt das Besondere, ist es ein Fehler, ein Hinweis, was hat sich der andere Mensch denn dabei bloß gedacht? Ist der schlauer als ich oder aber noch argloser und verpeilter? War das ein ratloser Oberschüler mit mangelhaften Leistungen im Fach Deutsch oder war es eine Deutschlehrerin auf der Suche nach einem abgründigen Abi-Thema? Wer ist da warum über das Wort gestolpert? War es am Ende ein unseriöser Spaßvogel, der sich dachte, pass auf, ich unterstreiche hier mal irgendein Wort und dann denken künftig alle Leserinnen zwanghaft genau darüber nach, wie cool ist das denn? Man weiß es nicht.
Unter einer Geschichte, die damit endet, dass es um die Nachbarn ging, was also die Pointe ausmacht, ohne das jetzt erklären zu wollen, steht in Bleistift die zarte und noch sinnende Frage: “Waren es die Nachbarn?” Da möchte man “Ja”, drunter schreiben, “Ja, du hast es verstanden. Herzlichen Glückwunsch.” Aber nie würde jemand diese Antwort lesen. Wir lesen alle nur die Fragen und Vermutungen der anderen in Büchereibüchern, wir raten und ahnen ihre Gedanken und antworten im Geiste, es ist ein sehr stilvolles und zurückhaltendes Social Reading.
Ein wenig ist es wie im Öffentlichen Personennahverkehr – man sieht die anderen, man kommuniziert aber nicht, man macht sich nur Gedanken. Ich mag das.
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Musik! BAP mit einem Dylan-Cover. Sehr gelungen, finde ich, aber was weiß ich schon. Ich würde mit Bleistift “toll” dran schreiben.
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank.
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Ein paar Jahre habe ich in einer Bibliothek gearbeitet, wir haben Unterstreichungen und Anmerkungen immer so gut es ging entfernt. Niemand sollte sich von den Gedanken eines Vorlesers oder einer Vorleserin bei der eigenen Lektüre gestört fühlen. Wir sahen die zurückgegebenen Bücher aber auch immer durch. Waren sie zu „benutzt“ wurde der letzte Benutzer gebeten, das Buch zu ersetzen. Das waren Zeiten, da gab es noch viel persönlichen Umgang zwischen BibliothekarInnen und NutzerInnen. Die Besitzstempel sind immer auf den gleichen Seiten. S. 49 und/oder S. 101 waren es bei uns. 🙂
Vor ein paar Jahren kam ein ehrgeiziges Buchprojekt heraus, Das Schiff des Theseus. Es sieht aus wie ein altes, viel gelesenes stockfleckiges Buch aus einer Leihbücherei (mit Ausleihstempeln auf dem hinteren Vorsatzblatt!), in das jede Menge Anmerkungen gemacht wurden und in dem jemand, vielleicht als Lesezeichen, Postkarten, Zeitungsauschnitte, Briefe und sogar eine bemalte Papierserviette hineingelegt hat. Man kann das Buch lesen, die Beilagen und den Dialog, der sich zwischen zwei Lesern in den Anmerkungen ergeben hat. Ich fand es letzten Endes zu verwirrend (vielleicht hätte ich diese Anleitung vorher entdecken sollen https://www.youtube.com/watch?v=81tpomc5zTw) aber es ist ein Meisterwerk der Herstellung!
Ich besitze einige alte Ausgabe u.a. von Ovid- und Horaz-Werken, Bücher aus dem frühen 16.Jahrhundert. Manche davon haben Unterstreichungen und Anmerkungen von Hand, in alten Handschriften, die ich kaum oder gar nicht mehr entziffern kann, in deutscher, lateinischer und französischer Sprache. Es hat eine seltsame Anmutung, dass die Bücher nicht nur in fernen Tagen gedruckt wurden, sondern dass sie jemand gelesen hat, mit großem Interesse, und in oder mit ihnen gearbeitet hat. Ein Hauch von Vergänglichkeit…
Hmmm… bei Buchkommentaren habe ich immer das Gefühl, da redet mir jemand in meine Gedanken rein, bei verschiedenen Buchkommentatoren wäre das dann schon ein ganzes Gespräch, während ich versuche, zu lesen. Trotzdem. Nicht uninteressant, diese Sichtweise, vielleicht sollte ich da mal etwas entspannter werden…