Shakespeare und Shantel

Fontane ist besser.

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Die Schrift und das föderale Chaos um die richtige Form

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Die Söhne haben staunend beobachtet, wie Elektro-Roller in einen großen Lieferwagen gesammelt wurden. Die Dinger müssen eben mal geladen werden, dafür müssen sie irgendwo hin, denn Ladestationen dafür gibt es bisher nicht da draußen, logisch. Dass dafür allerdings ein Auto mit Verbrenner kommt und mit laufendem Motor am Straßenrand steht, während einer so herumgeht und die Roller vom Straßenrand wegpflückt, das fanden sie doch ziemlich absurd. Da fährt man also dem Strom mit Benzin hinterher, das kann doch so nicht richtig sein? Und es gibt doch auch große Lieferwagen mit E-Antrieb, wenn die Firmen also wollten, dann könnten sie doch?

Ja. Ich nehme an, sie könnten. Sie wollen aber nicht, weil es darum auch gar nicht geht.

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Sohn II ist weiterhin im Schreibwarenrausch und war deswegen im Kaufhaus mit der letzten noch eben groß zu nennenden Abteilung für so etwas, wobei groß … na, es geht so. Er fragte dort nach Zeichenfedern, also nach solchen, die man mit einem Tintenfass benutzt, nicht etwa nach solchen, mit irgendeinem modernen Patronensystem, er wollte das alte Zeug und gerne wollte er auch Gänsefedern, Federkiele. Wie damals schreiben, alles mal versucht haben. Wobei – immer alles nachlesen! – es übrigens überraschenderweise von Bedeutung ist, ob man links- oder rechtsflügelige Federn nimmt, wer ahnt denn so etwas.

Der Verkäufer hinter den Vitrinen mit den etwas teureren Füllfederhaltern sah ihn über seine Lesebrille hinweg an und lächelte wehmütig: “So etwas kann man hier schon lange nicht mehr in Läden kaufen. Die Fachgeschäfte gibt es alle nicht mehr.” Und er und ich murmelten im Chor den Namen des letzten großen Schreibwarenladens, den vermutlich viele Menschen in der Stadt gelegentlich vermissen. Immer dann, wenn sie etwas brauchen, was über das Schmalspursortiment der Drogeriemärkte hinausreicht.

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Ich lese im Tagebuch von Etty Hillesum, der Name war mir gar nicht geläufig. Falls es Ihnen auch so geht – das ist ein umwerfendes Buch. Vielleicht lieber noch im Oktober lesen, für den November ist es zu stark. Man möchte bei jeder Zeile daran verzweifeln, dass sie in Auschwitz umgebracht wurde, sie hat es früh geahnt, gewusst.

“Und mit dieser schlanken Füllfeder müsste ich ausholen, als wäre sie ein Hammer, und die Worte müssten wie ebenso viele Hammerschläge von unserem Schicksal künden, von einem Stück Geschichte, wie es noch nie eines gegeben hat. Zumindest nicht in dieser totalitären, ganz Europa umspannenden Form der Massenorganisation. Es müssen doch ein paar Menschen überleben, die einst die Chronik dieser Zeit schreiben. Ich würde später gern Chronistin sein.”

Da war sie 27 Jahre alt und hatte noch zwei Jahre

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Apropos Buch, ich habe ein Buch, das ich gerade durchgelesen habe, durch Zufall direkt hinterher noch einmal als Hörbuch gehört. Das war eher ein Versehen als Absicht, aber da das Buch gut war, dachte ich nach den ersten gesprochenen Zeilen,na gut, dann wiederholst du das eben, wie früher beim Lernen. Ruhig auch mal gründlich sein! Das war interessant, weil es darin auf einmal einen längeren Abschnitt gab, der mir völlig unbekannt war. Ich habe natürlich sofort nachgesehen, den Abschnitt gibt es sehr wohl auch im gedruckten Buch, ich habe ihn tatsächlich gelesen, also was man so gelesen nennt. Die Buchstaben rauschten vermutlich so durch, aufgenommen wurde dabei rein gar nichts. Ich habe automatisch weitergeblättert oder habe nur quergelesen, ich bin dabei halb eingeschlafen, weiß der Kuckuck, das wird sich nicht mehr klären lassen. Oder ich habe es tatsächlich bewusst gelesen und sofort wieder gelöscht, weil mich daran in der Schriftform eben nichts ansprang, weil sich nichts im Gedächtnis verhakt hat. In der gehörten Version war es dann aber irgendein Stichwort, auf das ich doch interessiert reagiert habe, vielleicht tatsächlich nur, weil es gesprochen wurde und mich so ganz anders erreichte.

Dummerweise fehlt mir die Zeit, daraus eine längere Versuchsreihe zu machen, aufschlussreich wäre es vermutlich.

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Eine Bio-Ladenkette wirbt hier auf Plakaten mit “Kauft weniger”, die Postwachstumsgesellschaft und ihre Anfänge, so sieht das also aus. Eine deutsche Band bewirbt die Karten für ihre Auftritte in großen Stadien mit “Exklusiv für alle”, das wäre schon wieder als Buchtitel gut gewesen. Da werden sich aus der Fachrichtung Soziologie einige ärgern, darauf sind sie nicht gekommen. Und eine Marktlücke hat auch wieder jemand gefunden, jemand, dem man gratulieren möchte, denn die Lücke ist vermutlich gar nicht so klein – es gibt jetzt eine spezielle Hautpflege für die tätowierte Haut. Ich sehe es vor mir, wie die Leute morgens und abends ihre Bildchen auf Brust und Bizeps sorgsam einreiben, in der Hoffnung, die Leuchtkraft zu erhalten. Wie sie sich dann zehn Jahre später freuen, insgesamt immer noch farbechter als der langsam verblassende Kumpel zu sein. Man wird all die Sprüche der Buntwaschmittelwerbung mit geringen Abweichungen für diesen Zweck recyceln können, es muss ein wahres Fest für Werbeagenturen sein.

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Ein Sohn fängt gerade eine Zitatensammlung an, er schreibt sich gute und berühmte Sätze auf. Wir sitzen dabei im Garten in der Laube, er fragt die Herzdame, die draußen marodierend durch die Beete zieht, nach einem wichtigen Satz, die sagt: “Sein oder Nichsein.” Das wird sofort notiert und der andere Sohn fertigt dann eine Zeichnung dazu an, wozu wir aber erst einmal recherchieren, wie die Szene mit diesem Satz auf der Bühne aussieht. Und dann entsteht das auch schon alles auf dem Papier, der Schädel in der Hand, das offene Grab, der Mond über dem Friedhof, RIP auf dem Stein. Wobei der Satz gar nicht zu der Szene geört, was erlauben Google? Egal. Dazu weht aus dem Nachbargarten fröhlichster Balkanpop herüber, laut aufgedreht, Partylachen und Gekreische. Es ist fast schon zu kalt in der Laube, wir trinken heißen Tee und sitzen in Decken, aber wir haben Shakespeare und Shantel. Es ist eine krude Mischung, aber sie ist sehr gut.

Es ist der erste richtige Pullovertag, mir ist das immer ein Fest.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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4 Kommentare

  1. Dankeschön, für 10 Minuten Lesefreude. Die Begeisterung für Schreibwaren teile ich und möchte dem Sohn – ganz ungefragt – empfehlen, mit der Tintenfeder Gotische Schrift zu üben. Da kommt die Eigenart besonders gut zur Geltung, diese breiten und schmalen Striche, ich weiß gar nicht, wie man das korrekt nennt. Viel Spaß dabei!

  2. Ach ja, das war schön damals bei Sch & W zu stöbern und all die tollen Schreibwaren zu sehen und anzufassen. Immerhin gibt’s bei Karstadt noch einen Fachverkäufer an dem Edeltresen, der genau weiß, welche Mine in einen alten Pelikan Kugelschreiber gehört, ohne den Kugelschreiber vor sich zu sehen. Gestern erlebt.

    Witzig, der Balkan-Pop, gefällt mir!

  3. Ich höre sehr gerne Bücher, die ich gelesen habe, hinterher auch als Hörbuch – gute Freunde, die mir beim Autofahren oder Abwaschen Gesellschaft leisten.
    Und ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass beim Vorlesen plötzlich Stellen auftauchen, an die ich mich so nicht erinnern kann. Dafür fehlen mir manchmal Stellen im Hörbuch, die ich beim Zurückspulen (wie heißt das richtig auf dem Handy? Da spult ja nichts mehr) dann finde – da war ich dann abgelenkt, habe geträumt, oder bin in der Stimme des Vorlesers versunken.

  4. Moin, liebe Buddenbohms,

    für den Schreibkünstler wird es die Federn sicherlich im Künstlerbedarf geben (Jerwitz und Boesner haben Filialen in HH). Solche Leidenschaften sind unbedingt zu fördern 😉
    Viele Grüße aus dem Umland

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