Konzentriert, verliebt und hingerissen

To whom it may concern: Constantin Seibt schreibt über ADHS. Und wie immer schreibt er sehr gut, das wird sogar eine Serie. So viele Namen aus dem Journalismus kenne ich gar nicht, bei denen ich immer hinsehe, ganz egal, worum es geht, Constantin Seibt ist einer davon. Ich selbst habe diese im Artikel behandelte Diagnose übrigens nicht, ich habe aber eh keine Zeit für so etwas und kann mich auch nicht auf Symptomlisten konzentrieren.

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Drei Bilderchen. Dreimal Menschen, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Ganz harmlose Bilderchen nur, harmlose Bilderchen sind manchmal auch ganz schön.

Zum einen der ältere Herr auf einer Diskussionsveranstaltung mit Vortrag. Ein rappelvoller Saal, interessiertes Publikum, Fachleute von Rang, emsig mitschreibende Jugend und etliche fotografierende Menschen, die was mit Medien machen, eine gehaltvolle Anmoderation und dann etwa zwei Stunden konzentriertes Programm. Dieser Herr setzt sich zum Beginn des Abends neben mich, wobei mir schon auffällt, dass er sehr gerade sitzt. Das fällt mir oft auf, wenn jemand diese Kunst beherrscht, sicher weil ich der unordentlich sitzende Typ bin. Ich wirke vermutlich oft eher wie kurz abgelegt, nicht wie anständig hingesetzt. Dieser Herr da aber – kerzengerade, ein Offizier in der Messe, eine höhere Tochter am Klavier, diese Art von Haltung. Er setzt sich hin, er atmet einmal tief durch, er schließt die Augen. Und macht sie bis zum Ende der Veranstaltung nicht mehr auf und bewegt sich auch nicht. Dann steht er auf und geht. Ich habe natürlich keine Ahnung, was für ein Phänomen das war, aber warum auch immer er es geschafft hat, da zwei Stunden komplett still zu sitzen und konzentriert zuzuhören oder zu meditieren oder sich wegzuträumen, es ist ja einiges möglich und vorstellbar, er strahlte dabei jedenfalls eine so unfassbar souveräne Ruhe aus, ich konnte meinen aufkommenden Neid gar nicht überfühlen.

Und dann die Dame im Coffeeshop, die neben mir saß und arbeitete. Sie ging Papiere durch und machte sich hier und da mit der Hand Notizen, sortierte etwas um, las dann etwas nach, verglich zwei Seiten, markierte etwas, las dann wieder. Zwischendurch lächelte sie, und zwar tat sie das auf eine Art, die vermutlich bedeutete, dass ihr ganz außerordentlich gut gefiel, was sie da las. Dermaßen entzückt und hingerissen sah sie aus, ich möchte fast ausschließen, dass das auf den Papieren da von ihr war, denn so liest man eigene Texte nicht. So lese ich jedenfalls eigene Texte nicht, so liest nach etwas Nachdenken kein Mensch, den ich kenne, eigene Texte. Wenn es aber die Texte oder die Arbeitsergebnisse oder Entwürfe anderer Menschen waren, dann waren die entweder verdammt gut – oder aber die Menschen, die diese Papiere mit irgendwas befüllt hatten, wurden von dieser Dame geradezu innig gemocht, denn es war ein herrlich mildes, ein inniges Lächeln mit fein darin glimmender Freude, es war so ein Lächeln, das man wirklich gerne einmal abbekommen hätte, etwa für irgendeinen Text. Wenn man etwas produziert, was dann so angelächelt wird, dann hat man doch wohl etwas richtig gemacht. Das Bild wurde noch besser dadurch, dass sie tatsächlich ausgesprochen damenhaft aussah, es gibt ja Menschen, die schon auf den ersten Blick Bildung und Kompetenz ausstrahlen, und zu denen gehörte sie. Ich trank meinen Kaffee aus, ging einkaufen und erledigte noch zwei, drei andere Termine. Ich ging nach etwa vier Stunden wieder an diesem Coffeeshop vorbei, sah hinein und da saß sie tatsächlich immer noch, vor dem längst leeren Latte-Macchiato-Glas. Sie wendete gerade ein Blatt Papier um und lächelte.

Schließlich saß ein Mann in der S-Bahn, in der ich mit Sohn II zum Reiten fuhr. Die Bahn hielt, die Tür ging auf, eine Frau stieg ein und sah sich suchend um, ging zu diesem Mann, der schon lächelnd und winkend nach ihr aussah und setzte sich ihm umstandslos auf den Schoß. Der Platz neben ihm wäre auch frei gewesen. Sie legte wortlos und ohne weitere Begrüßung die Arme um ihn und ihre Wange an seine, seine Arme umfassten sie ebenfalls und sein Kopf neigte sich zu ihrem, es umgab diese beiden sofort eine geradezu aufdringliche Zartheit und Vertrautheit. Ich kann gar nicht schreiben, dass sie offensichtlich so verliebt waren, denn nach Verliebtheit sah das nicht aus. Ich kann nur schreiben, dass sie sich offensichtlich so liebten, denn genau danach sah es aus, nach einem erprobten und bewährten Gefühl, nach gestandener großer Liebe, nicht nach einer stürmenden Verliebtheit. Sie hielten beide die Augen geschlossen, Station um Station, sie saßen da und fühlten hin. Sie saßen da ganz still und glücksversunken und hatten sich sehr. Der interessiert neben ihnen stehende Sohn II kommentierte die Szene irgendwann gut hörbar mit dem völlig korrekten und feinen Erikativ “kuschel”, woraufhin sich vier Mundwinkel ganz leicht hoben.

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Im Vorübergehen gehört, das empathische Gespräch der Woche:

“Na, wie geht’s, alles gut?”

“Nee, ich hab mir letzte Woche drei Rippen gebrochen, mir tut echt alles weh, mir geht es überhaupt nicht gut und ich muss ja trotzdem noch zum Einkaufen und die ganze Scheiße.”

“Ja was, einkaufen müssen wir alle.”

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Man beachte hier bitte den Dialog mit der Friseurin und das Zitat aus dem Grundgesetz. Den Rest natürlich gerne auch.

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Musik! Niloufar Taghizadeh und Erdmöbel.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. Ich erhalte, das noch kurz dazu, erstaunlich häufig gut gemeinte Hinweise, dass doch jetzt bitte andere Ministerinnen oder Minister dran seien, dass dieser oder jene jetzt aber, denn der oder die hätten doch gerade, und dann werden Untaten benannt und Zitate gebracht – dazu möchte ich einen zur Abwechslung strengen Blick aufsetzen und erstens völlig ernst gemeint “Immer einer nach dem anderen!” sagen, dazu möchte ich zweitens aber noch eben anmerken, dass genau diese Ungeduld, diese schnelle Vergessen, dieses besinnungslose Drängeln und dieser stete Drang nach eilfertiger Aktualität ein Teil der gesellschaftlichen Probleme ist. Und kein kleiner.

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Sie können hier Geld für die nächste S-Bahnfahrt von Sohn II in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

2 Kommentare

  1. Nachdem ich mich über Google schlau gemacht habe was ein „Erikativ“ ist, muss ich sagen, dass der Sohn II da wirklich einen genau passenden raus gehauen hat!

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