Strandflieder und Weidenröschen

Eiderstedt sah bei unserem Besuch in diesem Jahr ein wenig anders aus als in den Jahren davor. Es fiel uns mehrfach auf und es passte zu den Naturphänomenen, die wir auch schon im Garten beobachtet haben, dass also alles auf einmal etwas seltsam ist. Dass da draußen etwas zeitlich verschoben ist, dass auf einmal auch andere Arten im Bild sind, dass dauernd etwas Ungewohntes auffällt. Durch den Garten fog etwa eine stahlblaue Libelle Patrouille und ich sah sie und dachte : „Die war noch nie da. In den letzten drei Jahren jedenfalls nicht ein einziges Mal.“ Gleich darauf kamen drei, vier weitere Libellen. Und es gab etliche Vorfälle dieser Art, Vorfälle mit Käfern, Vögeln, Igeln und anderen Tieren, es war alles auf etwas anderer Spur als sonst. Aus Katastrophenfilmen kennt man diese dezenten Abweichungen von der Normalität, die dann immer deutlicher auf kommendes Unheil hindeuten. Die Abweichungen bei uns waren alle eher nett, geradezu charmant sogar, und wenn sie auf drohendes Unheil hindeuten, deute ich das als besonders perfides Drehbuch. Ich weiß aber eh nicht, was hier auf was hindeutet, der Film geht wohl noch länger und die Zeichen werden derweil einfach immer mehr und mehr. Ich schreibe dies und sehe raus, auf dem Balkon sitzen sieben Spatzen. Es gab hier sonst keine Spatzen.

Ich habe mal mit einem IT-Chef zusammengearbeitet, der nahezu jeden Anruf von Menschen mit Technikproblemen mit dem guten Rat: „Beobachten Sie die Situation weiter“ beantwortet hat, woraufhin er, ich scherze nicht, aufgelegt und sich eine Pfeife gestopft hat. Er hat sich zurückgelehnt und langsam Ringe geblasen, was er sehr gut konnte. Die Ringe zogen langsam zur Decke. Ja, damals rauchte man noch in den Büros, liebe Kinder. An diesen Kollegen denke ich jedenfalls heute noch ab und zu – und beobachte dann die Situation weiter. Welche auch immer.

Auf Eiderstedt also, das wollte ich eigentlich sagen, blühte auf den Salzwiesen bei Westerhever der Strandflieder, wie wir es noch nie gesehen hatten. Ein eher zurückhaltendes Lila, aber davon wirklich viel, über so große Flächen, dass es doch sehr präsent war, es ergab eine ganz neue Farbgleichung, nämlich Meer = Grau, Land = Lila, das denkt man ja sonst eher nicht so. Dazu das noch grüne Gras der Wiesen, also Graugrünlila, eine etwas merkwürdige klingende Kombination, aber wenn man ein Stück Land an der Nordsee ist, so viel steht fest, dann kann man das tragen.

Weiter im Landesinneren der Halbinsel waren sämtliche Weiden und Äcker in einem satten Leuchtila abgesteppt. Das waren, wenn ich das richtig weiß, worauf ich mich an Ihrer Stelle aber wirklich nicht verlassen würde, Unmengen von blühenden Weidenröschen. In keinem Jahr vorher gab es dort auch nur annähernd solche Mengen davon, wir sahen auf durchgezogene lilafarbene Linien um all die grünen Quadrate und Rechtecke mit den Schafen und Kühen und Pferden darauf. Wie kann so etwas auf einmal stattfinden und sonst nicht, wie isses nun bloß möglich?

Strandflieder und Weidenröschen. Ich hätte gerne noch gesehen, wie die verblühen, wie die allmählich vergehen und wie dann etwas Neues kommt. Ich weiß nicht, ob nach denen noch andere Blühpflanzen dort dominierend übernehmen, ich würde es aber gerne wissen. Bei meinem Plan, irgendwann einen Herbst und einen Winter, wenn nicht sogar einen Jahreslauf, auf Eiderstedt zu verbringen, wäre das Teil des Vorhabens, draußen immer wieder nachzusehen, was gerade ist und wieviel davon. Und dann darüber etwas schreiben. Nur weil ich das so mag, doch, das stelle ich mir schön vor.

Ich habe im letzten Jahr übrigens viel über das Phänomen Bucket List nachgedacht, weil viele Menschen so etwas haben. So eine Liste, so eine Aufzählung von Sehnsuchtspunkten oder Wunschpflichten oder Pflichtwünschen oder wie immer man das nennen möchte, dieses ganze Zeug, was die da also noch alles machen und erleben oder erledigen wollen, in diesem Jahr, im nächsten Jahr, irgendwann, in diesem Leben. Ich war etwas betroffen, denn ich hatte so etwas gar nicht. Meine Liste war komplett leer. Ich bin einfach nie darauf gekommen, mir so etwas auch nur gedanklich anzulegen. Ich habe mich dann eine Weile gefragt, ob das ein Charaktermerkmal ist, eine Macke oder ein Problem, ein Defizit oder ein Glück, ob es egal ist oder ob es etwas ausmacht. Ich denke eigentlich immer noch darüber nach.

Dann habe ich, weil ich bei so etwas gerne mit Versuchsanordnungen improvisiere, besonders wenn ich dafür nicht vor die Tür muss, mir natürlich eine Liste gemacht. Mit Zielen und Wünschen für den nächsten Monat, das nächste Jahr und noch viel weiter. Mir fiel erst nicht viel ein, es dauerte etwas, aber es war dann doch ein lohnendes Nachdenken. Was für Nachdenken allerdings fast gemeinhin gilt, insofern beweist das nicht viel.

Egal. Ein Punkt auf der Bucket List ist jetzt jedenfalls: Auf Eiderstedt die Gegend ansehen, bis das Gefühl eintritt, es wirklich gründlich genug getan zu haben. Dabei Notizen machen. Ausreichend Zeit dafür haben.

Es kommt mir wie ein überaus vernünftiges Vorhaben vor.

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3 Kommentare

  1. Bucket List: Diesen Ausdruck kannte ich noch nicht. Wieder was gelernt. Bloglesen ist ein Bildungsprogramm. Ich habe so eine Wunschliste mal in jugendlichen Jahren gemacht und vor einiger Zeit im analogen Tagebuch gelesen. Das Meiste davon habe ich nicht gemacht oder erreicht – dafür viel anderes. Die Prioritäten ändern sich und die Einschätzungen, was zu einem erfüllten Leben gehört auch. Interessant war es trotzdem. Und heute – Jahrzehnte später – reizt mich gar nichts dazu, eine solche Liste zu erstellen.

  2. Die Nordseegegend scheint das zu begünstigen, wie bei Barthold Heinrich Brockes: „Beschreybung meines nach beglückter Zurückkunft aus Ritzebüttel in völlig gutem Stande wieder vorgefundenen Gartens“.

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