Ich habe zu danken – für ein Notizbuch der Marke Leuchtturm in XXL. Und ich freue mich sehr, denn die Größe hatte ich noch nicht und ich habe gerne, Freak der ich bin, alle nur denkbaren Größen und Formen von Notizbüchern vorrätig. Was weiß ich denn, wonach mir morgen der Sinn steht. Wenn ich morgen Größe möchte, Größe ist jetzt verfügbar, das ist schön und gut zu wissen, das beruhigt ungemein.
Ich habe außerdem, apropos Dank, den Trinkgeldbericht November noch nicht geschrieben, ich weiß. Den werde ich mit dem Dezember zusammenfassen und in, nun ja, Kürze posten. Es ist alles ein wenig schwierig gerade, wie Sie vielleicht bemerkt haben, auch das Timing. Vor allem das Timing. Aber nichts wird vergessen.
Normalerweise, also gemäß eher jüngerer Tradition, poste ich hier bei Geschenksendungen Dankespostkarten, allerdings ist das gerade am heftigsten nachglühende Bild von gestern zweifellos als Standbild schwer darstellbar. Daher gibt es hier jetzt ausnahmsweise eine Filmsequenz, sagen wir etwa vier Sekunden lang. Vier Sekunden Film passen auf keine Karte, auch nicht auf diese seltsame doppeltbelichtete Variante, die ein Bewegtbild darstellt, wenn man sie etwas hin und her wackelt. Sie erinnern sich vielleicht? Ich weiß noch, als diese Karten neu waren, da haben wir die alle gekauft und immer hin und her bewegt, das ist aus heutiger Sicht schon fast rührend, nicht wahr. Wir hatten ja nichts.
Es war später Abend, für meine Verhältnisse war es sogar ungewöhnlich später Abend, es war bereits nach elf Uhr. Da schlafe ich normalerweise schon stundenlang, aber gestern ging ich da noch einmal vor die Tür. Erstens gab es stimmungsmäßig Anlass dazu, besser mal eine Stunde durch die Gegend zu laufen, zweitens aber hatte ich auch im Laufe des Tages zu wenig gesehen, also nur die Wohnung, und das reicht mir manchmal nicht. Ich ging ziellos durch die dunklen und downgelockten Straßen. Ich ging durch die eigentliche Szenestraße des kleinen Bahnhofsviertels. Diese Straße war vollkommen menschenleer, es waren nur meine Schritte zu hören. Ich sah in die eine und dann in die andere Richtung, da war außer mir niemand. Ich blieb stehen und lauschte, da war nichts. Das muss man auf dieser Straße erst einmal hinbekommen, dachte ich, das gibt es wirklich verdammt selten. In normalen Zeiten gibt es das auch nachts um drei nicht. Dann hielt ein Taxi und ein Mensch stieg aus, dann kamen zwei aus einem Hauseingang und unterhielten sich dabei leise, dann war es kurz wieder so, dass zumindest alle zwanzig oder dreißig Meter etwas zu sehen oder zu hören war, auch wenn das immer noch wenig war für die Mitte der Millionenstadt.
In einem Döner-Imbiss standen zwei hinter der Theke und sahen so unmenschlich gründlich gelangweilt aus, diese entgleisten Gesichter kennt man sonst nur von Bademeistern, die mit vollkommen leerem Blick am Beckenrand stehen. Die beiden Männer stützten sich auf die Glasplatte über dem zerschnippelten Gemüse und sahen in die Dunkelheit, aus der einfach keine Kunden kamen. Sie bewegten sich nicht und sie sprachen nicht. Sie standen da nur und guckten, wer weiß, wie lange schon und wie lange noch. Dieser Tag geht auch vorbei, sie hätten mein immer wieder beruhigendes Mantra murmeln können, aber sie murmelten gar nichts. Sie guckten nur ins Nichts der leeren Straße.
Ich las die Zettel an den Fenstern der Restaurants. Die Togo-Zettel, die Erklärungen, die Telefonnummern. Die Hinweise auf eilig eingerichtete Webseiten und Mailadressen und Lieferservicevarianten. Erreichbarkeitsdaten. “Im Falle eines Lockdowns” stand auf einem Zettel. “Wir sehen uns 2021” lapidar auf einem anderen. “Wir liefern!” Das riefen etliche Zettel. Aber zu dieser Tageszeit wartete längst niemand mehr auf Kundschaft, nur die beiden in der Dönerbude hielten noch aus.
Einige der Läden, die jetzt wochenlang geschlossen sein werden, haben ihre Fenster nicht mehr beleuchtet, man spart, wo man kann. Im Licht der Straße gibt es neuerdings schwarze Löcher, Dunkelzonen. Man könnte sich hier und da in einen Hauseingang drücken und vollkommen unsichtbar werden. Wie in einem alten Film, wie in einem Krimi. So dachte ich und bekam zum ersten Mal seit vielen Jahren Lust auf eine Zigarette. Man müsste sich in einen Hauseingang drücken, dachte ich, man müsste sich dort anlehnen und eine Zigarette anzünden und auf etwas warten, auf jemanden warten. Und das Feuerzeug würde kurz Licht geben, und sonst wäre alles ringsum tiefschwarz. Ein paar Meter weiter die Lichter der Ampel, über die niemand geht, dann ein vorbeifahrender Bus, in dem sitzt nur noch der Fahrer. Dann kommt jemand, bleibt stehen und sagt einen Satz, und der ist dann eine richtig gute Dialogzeile, dass die in den Kinosesseln anerkennend nicken.
Und jetzt kommt der unglaubwürdige Teil. Aber was soll ich machen, so ist es manchmal. Während ich gedanklich also noch bei Raymond Chandler war, hielt ein Auto auf der anderen Straßenseite. Ein unspektakuläres Auto war das, ein mausgrauer Kleinwagen. Die Reifen quietschten, die Türen flogen auf. Der Wagen stand in einem ganz unorthodoxen Winkel zur Straße und ich dachte, weil ich sehr geistreich bin: “Da stimmt jetzt aber etwas nicht.” Dann liefen etwa acht Mann direkt auf mich zu. Das waren mehr, als in dem Auto gesessen haben konnten, und sie liefen schnell. So läuft man nur, wenn es wirklich um etwas geht, jedenfalls als erwachsener Mann in Zivilkleidung. Mein Hirn flackerte kurz Möglichkeiten durch und verwarf, dass es hier um mich gehen konnte. Ich habe nicht genug ausgefressen und besitze nicht genug, und während ich das noch dachte oder zumindest erhoffte, rannten die Männer schon links und rechts an mir vorbei, ohne mich weiter zu beachten. Ich stand mitten in der stürmenden Rotte, es war ein wenig so, als würde eine Horde Wildtiere um mich herum sprengen und ich bewegte mich lieber gar nicht mehr, ich stand da einfach nur. Und guckte, das schon.
Einer rief, es war wirklich lächerlich tatortmäßig, “Halt, Polizei!” und einer brüllte, dass die Ficker wegbleiben sollten und einer schrie Scheiße und einer sprang einem in den Rücken, dass der mit Schmerzensrufen zu Boden ging. Zwei kamen dazu und einer lief mit ordentlich Vorsprung weiter wie ein Hase, der war wirklich beeindruckend schnell und den kriegte keiner mehr. Der war schon ganz oben, wo die Straße in einen Platz übergeht und mehrere Straßen abzweigen. Der war weg, der war so etwas von weg.
Der Mann auf dem Boden und der auf seinem Rücken brüllten sich an und tauschten Beleidigungen der eher wüsten Art, die anderen standen dabei und auf einmal waren etwa vier Mann in der Nacht verschwunden. Wo waren die jetzt wieder hin, das habe ich nicht gesehen. Aber ich ging dann auch lieber weiter, denn ich bin, wenn ich schon in einem Krimi lande, lieber etwas am Rand des Geschehens. Sagen wir, in einem Hauseingang.
Ich guckte noch einmal zurück. Die beiden Männer im Dönerimbiss hatten ihre Köpfe nach links gedreht, wo die Action war. Sonst haben sie sich nicht bewegt. Ich ging nach Hause, ich kaufte keine Zigaretten. Man hat sich ja soweit im Griff.
Es ist Lockdown, es ist nicht allzu viel los draußen. Auf den ersten Blick nicht.
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„Da draußen hat der Teufel die Hosen an, Doc!“ rief ich.
Herzlichen Dank für die Perspektive. Ich frage mich immer wieder beim Filmgucken, was wohl gerade in einer der Statistenfiguren am Rande des Geschehens vorgeht, die wahrscheinlich nur für die bessere Bildaufteilung / den kompositorischen Rhythmus der Einstellung etc. dort platziert wurden. Jetzt weiß ich es. (Vermutlich hat Tom Stoppard nach einem ähnlichen Erlebnis „Rosencrantz and Guildenstern Are Dead“ geschrieben.)