Abendlied

Irgendwo im Haus spielt jemand das Abendlied von Matthias Claudius auf einer Flöte, und sehr schlecht spielt er es. Da stimmt gar nichts, die Geschwindigkeit nicht, die Betonung nicht, von der Technik ganz zu schweigen, aber erkennen kann man es – immerhin! Ein gutes Lied ist doch eine robuste Sache, das kann man nicht so schnell komplett zerstören. Der Mond ist aufgegangen, oder, so wie es da gerade gespielt wird, derMondistaufgegaaaaaaaaangen.

Das habe ich früher oft am Bett der Söhne gesungen, kurz tut es kräftig weh, es ist schon so lange her, schon damals, schon vorbei. Die goldenen Sternlein hatten wir an die Kinderzimmerdecke geklebt, da prangten sie jahrelang hell und klar. Da war die Welt auch abends noch stille, sogar vor zwanzig Uhr schon, und in der Dämmerung Hülle, ja, es stimmt schon, da war sie manchmal sogar traulich und hold. Ich erinnere mich an diesen Augenblick, in dem wir die Kinderzimmertür leise, so leise geschlossen haben, vorher ein Blick noch auf die Schlafenden, das war schön. Es war ein langes Lied, das Abendlied, es war einschlaflang. Ich kann den ganzen Text des Gedichtes noch, glaube ich.

Manchmal auch den Mond noch gemeinsam mit den Kindern gesehen, vom Wohnzimmer aus, wie er über dem Kirchturm stand, da war er nur halb zu sehen, und war doch rund und schön, das haben wir den Söhnen schon früh erklärt. Diskussionen darüber, ich weiß auch das noch.

Sicher bin ich auch stolz gewesen, allzu stolz, wie alle Menschenkinder, und wusste doch gar nicht viel. Dafür weiß ich heute immerhin das – aber darauf lieber auch nichts einbilden. Und dann das Ziel, von dem ich da abgekommen bin, ich habe überhaupt keine Ahnung. Ich weiß nicht, was es damals war, ich weiß nicht, was es heute ist, ich habe das mit dem Ziel in diesem Leben bisher einfach nicht verstanden. Ich werde es wohl auch nicht mehr verstehen.

Einfältig immerhin muss ich vielleicht nicht mehr werden, ich bin mir mit jedem Jahr sicherer, es längst zu sein, wenn auch vielleicht nur in des Wortes eher unerfreulicher Bedeutung. Wie Kinder fromm und fröhlich – nein, dermaßen einfältig nun auch wieder nicht. Vielleicht ist es schade.

Die Söhne kommen aus der Schule und gamen lärmend an ihren Computern, die Herzdame telefoniert. Ich nehme mein Notebook und verziehe mich in mein Refugium, in mein etwas seltsames und seit Jahren nur provisorisches Arbeitszimmer, das im Grunde etwas ganz anderes ist. Ich kann das zwanglos unter diesen Text dichten, was es ist, es passt schon –

Ich in der Abstellkammer

wo ich des Tages Jammer

vergessen oder bloggen soll.

Kalt ist der Abendhauch. Dieser Raum hat keine Fenster, aber warten Sie, ich sehe nach, es gibt heute Apps für so etwas: Vier Grad, schwache Winde aus West, Nordwest. An den Küsten böig, es wird kälter im Laufe der Woche. Wie gut die Sprache des Wetterberichtes zu alten Gedichten passt, ist Ihnen das einmal aufgefallen?

Man sollte noch viel mehr Gedichte lesen.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!

7 Kommentare

  1. Was für ein wunderbarer Text, danke!
    Heute vor zwei Jahren haben wir meine Mutter beerdigt, die immer gern gesungen hat und zum Schluss friedlich eingeschlafen ist.
    Da haben wir in der Kirche die letzten beiden Strophen des Liedes gesungen, die gut passten: „Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod …“ und „So legt euch denn, ihr Brüder …“
    (P.S: Ich hoffe, der Blockflöten-Nachbar lernt es irgendwann noch besser …)

  2. Unser Enkel liebte es, wenn er bei uns war, in den Schlaf gesungen zu werden! Mein Repertoire war allerdings etwas dürftig. Dann fiel mir doch Lied ein: Heidschi Bumbeidschi !
    Meine Mutter hat es gerne gesungen! Doch dann mußte ich bei einer Strophe sehr kreativ werden, da unser Enkel gerade am Abend Heimweh nach seiner Mutti hatte!
    In dieser Strophe heißt es unter anderem: Dein Mutter ist fortgange und kommt nimmer heim! Ich weiß beim besten Willen nicht mehr wie ich das geschafft habe, aber irgendwie …………

  3. Ach ja, es steckt so viel in diesem Lied, das auch hier ein Abendritual ist. Allein schon: so sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Passt auch auf „die Situation“ derzeit, wo Fakten wenig gelten.

    Danke für’s Teilen. Das Sag ich hier auch viel zu selten.

  4. Geimpft und gestestet und gelistet wie alle GästInnen haben wir uns Freitag auf einen 60sten aufgemacht, der vorsichtig gefeiert wurde. Nachts stehen wir zu Viert im Türrahmen und singen der Mond ist aufgegangen, es war ergreifend, sehr interessant (huch, ich kann ja noch singen) und ein etwas surrealer Abschluss dieses wohl allerletzten Festes in 2021. (Weihnachten ist wie immer nur en famille und zählt nicht als Fest mit Fremdkontakt) Seitdem argwöhnisches Beachten körperlicher Befindlichkeit, hoffentlich haben wir nix…. Mittwoch mal vorsorglich testen gehn. 3 Grad (auf dem Balkon) ekelkalter Regen, irgendwo im Haus übt ein Kind vermutlich Oboe.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Time limit exceeded. Please complete the captcha once again.