Der Mann aus den Bergen und Huck Finn

Es ist wohl ein Laubenjahr. Im letzten Jahr schlief ich nicht gerne im Garten, hätte aber nicht recht erklären können, warum nicht. In diesem Jahr schlafe ich ausgesprochen gerne hier. In der Laube, in der ich auch jetzt am kleinen Tisch sitze, den ersten Kaffee trinke und schreibe und auf den Rasen vor der Tür sehe, auf dem 22 Stare im Frühdienst, es hängt noch etwas im Augenblick verwehende Restdunkelheit in den Büschen, emsig über das Grün patrouillieren und die Rasensamen wieder einkassieren, welche die Herzdame und ein Sohn gestern erst ausgebracht haben. Die Stare sind fleißig dabei, es sieht nach organisierter Gründlichkeit in großer Eile aus, sie werden nicht viel übriglassen. Dieser gute Anteil kompletter Sinnlosigkeit bei aller Gartenarbeit, aus dem wir bekanntlich lernen sollen: „Alles immer dennoch machen.“ Aber gut, jeder findet im Garten seine eigene Botschaft, nehme ich an.

Ich hätte noch im letzten Jahr den Komfort der Wohnung mehr vermisst. Es gibt hier keine Dusche, keine Heizung und nur ein Kompostklo, man wärmt sich morgens zu campingklammer Uhrzeit nur am Kaffee und es gibt auch keinen Bäcker um die Ecke, in diesem Jahr ist mir das alles vollkommen egal. Ich sehe nach drei Tagen in der Laube aus wie der Mann aus den Bergen, die Älteren erinnern sich, aber das macht nichts. Der mich begleitende Sohn hat eine dazu passende Huck-Finn-Optik, es ist alles recht harmonisch. Der andere Sohn ist mit seinen Kumpels Gott weiß wo und kommt irgendwann zurück, die Informationslage ist eher vage, und auch das ist gut, das ist so, wie es sein soll, in seinem Alter. Die Herzdame kommt und geht und fährt unentschlossen zwischen Wohnung und Garten hin und her, unstet und flüchtig ist sie in diesen Wochen.

Ich aber sitze überzeugt in der Laube.

Das Wetter war gestern und vorgestern bestenfalls mäßig, anderswo tobten Tornados durch das Land, lese ich; hier dagegen rauschte nur der Regen auf das Dach, gleichmäßiges Prasseln über dem Bett. Es gab zwischendurch genug Sonnenstunden, weswegen die Laube auch am Abend noch warm war, holzhüttenwarm, sie kennen das vielleicht. Es ist eine hervorragende Wärme, die sich sehr gut und ausgesprochen tröstlich anfühlt. Vor dem Fenster die Regentonne, glucksend fiel der Regen hinein, es blubberte und plätscherte, es perlte, es pingte. Ich hörte ein Stück Melodie, wie auf einem Xylophon gespielt, auf einem dieser Billig-Xylophone, wie wir sie damals in der Grundschule hatten. Viel zu hohe Töne hatten die, ich mochte es nicht, darauf spielen zu müssen. Fuchs, du hast die … das klimperte das Wasser in der Regentonne, ganz deutlich hörte ich es, aber weiter ging das Lied nicht, dann franste das Plätschern schon ziellos und verworren aus und ergab keine Melodie mehr. Fuchs, du hast die, murmelte ich, und es war ein guter Tag für die Gans, sie kam davon. Was für ein Fuchs jetzt, fragte der Sohn und guckte irritiert.

Ich sitze in der Laube und lese.

Ich lese Aitmatow, Geschichten von ihm. Es sind Geschichten, in denen nicht viel passiert. Ein Mensch liebt einen anderen Menschen, dann verändert sich einer von beiden und der andere liebt etwas weniger, dann leiden sie darunter, dann versuchen sie etwas. Ist das denn schon eine Geschichte? Natürlich ist das eine Geschichte, und was für eine.

Und an Handlung reicht mir das eigentlich auch. Ich bin nicht damit einverstanden, dass sich die Literatur in den letzten Jahrzehnten so handlungsgeil entwickelt hat („Es wird viel passieren“, es lag doch alles an diesem dämlichen Lied). So handlungs- und auch so krisengeil. Ich habe in der Bücherei neulich regallang Romanklappentexte angelesen, und in fast allen ging es da um schlimme, schlimme Dinge, um Desaster, Katastrophen und entsetzliche Dramen voller Grausamkeiten. Ein Paar hat ein Kind, und da weiß man gleich, mit dem Kind passiert etwas, vermutlich etwa auf Seite 50 schon, spätestens aber um 100. Es reicht nicht, dass dieses Kind dezent seltsam ist, wie es alle Kinder doch immer sind, nein, es muss viel Schlimmeres passieren. Das Grauen, das Entsetzen, der Untergang. Der Markt will es so, wird wieder irgendwer sagen.

Ein Paar liebt sich, und weil das so ist, muss er sie aber auch umbringen, oder sie ihn, das geht auch, es wäre jedenfalls sonst kein verkaufbares Buch. So scheint man das jetzt zu sehen und ich bin auch da aus der Zeit gefallen, da mir viel weniger reicht und jeder noch so durchdachte Plot an mich eher verschwendet ist. Weil mir die Grausamkeit „sie ging“ schon reicht, für mich muss man sich gar keine neuen und noch spektakuläreren Gemeinheiten ausdenken. Die alten waren ausreichend.

Ich sitze in der Laube und lese. Ich schlafe ein, ich wache auf, ich lese weiter. Ich lege das Buch weg und gucke so vor mich hin. Der Tag zerfällt in Einzelteile, die mir sonst zu selten auffallen. Es gibt mehr kleine Geräusche, als ich sonst mitbekomme. Es sitzen mehr Vögel in den Bäumen, als ich sonst sehe. Es sitzt auch ein Vogel auf dem Telefondraht vor dem Fenster, ich sehe genauer hin, das wird eine Grasmücke sein. Ich sehe sonst keine Grasmücken, nie sehe ich die. Es gibt sie aber hier, sie sitzt ja da, es ist doch bewiesen. Es sitzen wesentlich mehr Vögel auf den Drähten, als ich sonst mitbekomme, merke ich nach einer Weile, es sind hier überall birds on the wires.

Kennen Sie die Geschichte zu diesem Leonard-Cohen-Song, wie es zu diesem Bild kam? Er hat ihn auf der griechischen Insel Hydra geschrieben, auf der er mit der Marianne aus „So long, Marianne“ eine Weile lebte. Das war eine Insel, die damals in der Moderne noch nicht angekommen war, man saß da abends noch bei Kerzenlicht zusammen. Irgendwann waren diese Drähte vor seinem Fenster, die es vorher nicht gegeben hatte, das war also der Einbruch dieser Moderne in sein Insel-Idyll. Cohen fand das furchtbar. So furchtbar, dass er von der Insel wegwollte, wie er Marianne sagte. „But as they were speaking, a bird came and perched on the wire. Marianne told me she said to him, ‚If a bird can get used to the wire, Leonard, you can get used to the wire.

Das Zitat, das viel zu gut ist, um wahr zu sein, aber vielleicht dennoch stimmt, als Schreibender kennt man so etwas immerhin, kommt von der Seite Songfacts, vor der ich ausdrücklich warnen muss. Man kann da fürchterlich viel Zeit verbringen, wenn man Songgeschichten interessant findet.

Auf der brachliegenden Nachbarparzelle wippt Klatschmohn im Wind, es ist der erste in diesem Jahr, drei Blüten stehen nebeneinander. Im Gemüsebeet vorne fassen die Ranken der Zuckererbsen in die Luft, ob da nicht vielleicht irgendwo etwas zum Festhalten zu finden ist. Im Vorbeigehen ist das nur ein Beet mit irgendwelchen Nutzpflanzen, wenn man sich aber hinhockt und eine Weile guckt, dann sieht man dieses langsame Greifen nach dem Rankgerüst. Es ist eine grazile Bewegung über Stunden hinweg, über einen Tag und mehr. Schön ist das.

Der Sohn und ich bauen ein weiteres Hochbeet. Es ist sehr einfach, ein Hochbeet zu bauen, lassen Sie sich bloß nichts anders erzählen. Sie brauchen vier Bretter, das ist die Wahrheit. Man kann sich von da aus beliebig steigern und auch wahnsinnig viel Geld ausgeben und sich sachbuchdick fachkundig machen, aber es fängt da an und es funktioniert auch tadellos von da aus: Vier Bretter. Sagen wir ruhig auch: Vier gefundene Bretter, denn der Schrebergärtner an sich neigte immer schon zum Sparen und zum Wiederverwenden.

Hinter der Laube ist es windstill und die Sonne kommt wieder durch. Da, wo wir arbeiten, da ist es sommerlich. Drei Meter weiter, um die Ecke der Hütte, weht der Wind fast oktoberscharf.

Der Sohn baut nach einer Weile alleine weiter, ich sitze daneben und lese. Ich lese „Ombra“ von Hanns-Josef Ortheil, es ist ein Buch über seine Rekonvaleszenz nach einer schweren Herz-OP. Ich bin mit dem Buch nicht recht einverstanden. Ich finde es aber so interessant, es weiter zu ergründen, warum ich damit nicht einverstanden bin, dass ich immer weiter und weiter lese. Es liegt nicht nur an den aus meiner Sicht viel zu vielen Ausrufezeichen, die er verwendet, es ist nicht nur das. Am Ende, so denke ich, liegt es einfach daran, dass mir der Autor über alle Erlebnisse und Empfindungen hinweg zu einverstanden mit sich selbst ist. Denn das ist etwas, nach einer Weile komme ich darauf, das mir nicht statthaft vorkommt. Da mal drüber nachdenken.

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7 Kommentare

  1. Jetzt habe ich laut gelacht. Ortheil. Genau das war damals, als ich ihn gelesen habe, auch mein Gefühl – ohne dass ich es hätte in Worte fassen können. Es ist mir alles zu richtig, zu nett gewesen, das Selbstbild des Erzählers ebenso wie die Geschichte an sich. (Ich erinnere mich nicht mehr an den Titel.)

    Ich mag solche Laubengeschichten, mitsamt den darin erzählten Geschichten. Geschichten in Geschichten. Aufeinander geschichtete Geschichten sozusagen.

    Ein kleiner Lebensausschnitt aus einer zeitlosen Zeit, der beim Lesen richtig gut tut. Dafür bedanke ich mich einmal mehr herzlich.

  2. Wie schön Sie schreiben können, was alles passiert, wenn nichts passiert… danke für diese Texte, die sind so schön für mich und meine oft langsame Seele!

  3. Eine meiner englischen Freundinnen hat über Aitmatow promoviert. Seinen „Soviet realism“ fasste sie so zusammen: „Boy meets girl meets tractor.“ Vielleicht hilft das.

  4. Djamila mussten wir in der Schule lesen, es war eine von den schönen Büchern. Und bei uns im Lebensbaum hört man den ganzen Tag Vogeleltern zwitschern, ich höre es durchs offene Küchenfenster, das zum Glück ein Fliegengitter hat.

  5. „Langsame Seele“, „aufeinander geschichtete Geschichten“, „dezent seltsame Kinder“ … ach, Danke! Einmal reihum, rundherum!

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