Ach, diese Lücke

Donnerstag. Am späten Nachmittag wird mir bewusst, dass da eine Lücke im Alltag ist, eine ungewöhnlich große Lücke sogar, in der überhaupt nichts Dringendes ist. Das ist verblüffend. Ich gehe dem Umstand in Gedanken sicherheitshalber erst einmal noch eine Weile gründlich nach, denn der Mensch vergisst so vieles und so schnell, am Ende ärgert man sich wieder, wenn man nicht lange und konzentriert genug überlegt hat. Aber da scheint tatsächlich nichts zu sein, abgesehen von zwei, drei Aufgaben, die von geringer Dringlichkeit und außerordentlich abstoßender Schauderhaftigkeit sind, quasi Niveau Grundsteuererklärung, die möchte ich heute gewiss nicht machen, die sind für, nun ja, später. Ich möchte lieber nicht. Buddenbohm, der Schreiber, Sie verstehen schon.

Ich setze mich in einen Sessel und gucke vor mich hin, was sich sofort sensationell bescheuert anfühlt. Und dazu gleich auch die obligatorischen Loriot-Soundfiles im Kopf, „Lies doch was!“ und dergleichen, man kann das ja in meiner Generation alles zuverlässig aufsagen und ehrlich gesagt, so großartig Loriot war, es kann auch die wahre Gedankenpest sein, was er alles für die Ewigkeit geschrieben hat. Für unsere bescheidene Ewigkeit natürlich nur, denn auch Loriot etwa kommt bei den Söhnen nicht mehr an, aber das nur am Rande. Vielleicht kann mich jemand bei Gelegenheit daran erinnern, dass in diesem lapidaren „kommt nicht an“ noch ein großes, ernsthaft zu bearbeitendes Thema liegt, das wäre nett, ich kann mir auch nicht alles merken.

Vor mir das Bücherregal. Menschen, die auf Bücher starren. Lies doch was. Ich will gar nicht lesen, gestehe ich mir zögerlich ein, denn ein wunderlicher Umstand ist es schon. Was macht man denn, wenn man nicht liest? Man schreibt, nur so als Beispiel. Ich will aber auch nicht schreiben. Ich schreibe im Moment eher morgens und veröde danach geistig mit jeder Stunde des Tages etwas mehr. Bis ich geistig vollkommen abgestumpft ins Bett gehe und mich nachts wieder irgendwie auflade, zumindest darin dem Smartphone nicht unähnlich. Lesen und Schreiben, denke ich, manchmal auch blöd, wenn man sonst nichts kann.

Das gilt auch beruflich. Ich kann lesen und schreiben und ein bisschen was mit Zahlen, ich kann auch Ordnung. Ich staune immer, wenn ich mitbekomme, wie flott und selbstbewusst in meinem Umfeld Jobs gewechselt werden, was die alles können, die Leute. Oder meinen zu können, was weiß ich. Ich lese Stellenanzeigen, ich denke, ich sollte womöglich auch mal den Job wechseln, nach 35 Jahren in der gleichen Firma, am Ende ist es Zeit? Ich lese Stellenanzeigen, ich denke, das kann ich ja alles gar nicht. Wie machen die das bloß, und meinen die das wirklich alle ernst, was in diesen Anzeigen und Profilen steht, allein dieses Wording da. Ich müsste ja schon bei der Teamfähigkeit lügen. Ich kann lesen und schreiben, beides sogar ganz gut, meinen zumindest manche, also in aller Bescheidenheit jetzt, aber worauf bewirbt man sich da? Ich traue mir, um einen gerade online kursierenden Witz leicht abzuwandeln, ja nicht einmal ein Impostor-Syndrom zu.

Ich sollte vielleicht nur noch schreiben, immerhin werde ich dafür ab und zu gelobt, sogar von wildfremden Menschen. Gutes Kriterium! Ich sollte also nur noch das als Job verstehen, als Beruf und Aufgabe, aber davon kann man dummerweise eher nicht leben, will mir scheinen. Lesen dito, eh klar.

Es ist gar nicht so erfreulich, über Berufliches nachzudenken, wenn man doch gerade einen seltenen freien Moment gefunden hat, fällt mir ein, das verdirbt ja alles. Wie dumm von mir. Ich nehme mir doch lieber ein Buch, ich lese. Das Buch gefällt mir nicht, da komme ich nicht rein. Ich nehme ein anderes Buch, ich lese. Das Buch gefällt mir auch nicht. Ich finde Lesen doch gar nicht interessant, also zumindest jetzt gerade nicht. Ich lege die Bücher wieder weg, das hat keinen Zweck.

Ich mache das aktuelle Hörbuch an, Effi Briest. Ich finde aber die Stelle nicht, an der ich war, da fehlt bei Spotify nämlich eine elementar wichtige Funktion. Ist man einmal raus, ist man raus. Ich höre mir also zum fünften Mal an, dass der Apotheker Gardenien im Treibhaus hat, ich kann die Stelle bald auswendig und bin einigermaßen genervt. Wie sehen Gardenien eigentlich aus, ich habe keine Ahnung. Ich sehe das nach. Gardenien können „fakultativ laubabwerfend“ sein, so steht es in der Wikipedia, und ich beschließe, mir das zu merken, weil es irgendwie gut klingt, und es später irgendwo zu verwenden. Hiermit erledigt, alles immer gleich abhaken.

Das Hörbuch interessiert mich heute allerdings auch nicht. Tage, an denen nicht einmal Fontane hilft. Schlimm. Ich könnte einfach staubsaugen, fällt mir ein, denn man kann ja immer staubsaugen, wenn man zu viert jeden Tag eine Wohnung vollkrümelt, es wäre auch stündlich sinnvoll. Aber die anderen drei möchten gerade nicht gestört werden, die machen alle irgendwas Wichtiges an Bildschirmen und wirken enorm beschäftigt. Nein, ich werde nicht staubsaugen und mit drei genervten Leuten diskutieren, warum ich wann was mache.

Ich lese einfach Twitter und Mastodon nach. Mastodon ist sehr nett, aber auch sehr schnell gelesen. Twitter ist eine brennende Bude, in der Menschen schreiend im Kreis laufen und Schüsse fallen, zuckendes Blaulicht und Sirenengeheule, es ist wie Unfallgucken und definitiv nicht schön. Es schmerzt auch ein wenig, denn es war ja einmal ein wichtiges Stück Alltag und auch Online-Heimat, aber gut, es wird gerade abgefackelt und wir starren entgeistert auf die Rauchsäule, kopfschüttelnd.

Ich lege das Handy wieder weg. Ich weiß nicht, wie ich sitzen soll, ohne etwas zu tun, auf einmal ist das ganze Konzept Sitzen komisch, ich fühle mich wie ein Schauspieler, der „Sitzen“ im Drehbuch stehen hat. Ja, aber wie? Ich spiele Sitzen, aber nicht gut. Ich lege mich lieber hin, merke aber, dass ich dann sofort einschlafe, und dafür ist es noch zu früh, eine äußerst ungünstige Uhrzeit dafür.

Ich mache mir einen Tee. Will ich denn wirklich Tee? Und an welchen banalen Fragen kann man eigentlich noch scheitern?

Die Lücke schließt sich dann am Ende von selbst, so ist es ja immer. Es gibt wieder etwas zu tun. Mir fällt etwas ein, der Familie fällt etwas ein, das Leben sagt, mach dies, mach das, und das mache ich dann auch pflichtgemäß, was soll man auch machen, man kommt ja zu nix. Lies nicht, schreib nicht, sitz nicht.

Das war im Rückblick eine höchst seltsame Stunde und ich habe nicht zum ersten Mal den starken Verdacht, dass es genau diese Stunden sind, in denen andere Menschen regelmäßig einfach so das machen, was sie Entspannung nennen.

Irgendwann lerne ich es auch noch. Später mal.

***

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8 Kommentare

  1. Guten Morgen und herzlichen Dank für diesen Text. Wie immer ein Genuss und eine Möglichkeit der Selbsterkennis.

    Bei dem bekannten Problem des Wiederfindens der letzten Stelle in einem Hörbuch bei Spotify hilft mir der „Audioplayer for Spotify“ unter Android (https://audiobookplayer.nolt.io/).

    Ich wünsche ein angenehmes Wochenende.

  2. Auch noch zu spotify: Auf iPad/iPhone teile ich die aktuelle Stelle immer via iMessage mit mir selbst. Funktioniert natürlich nur, wenn man nicht während des Hörens wegdämmert.

  3. Der Gatte legt in solchen Momenten gerne Patiencen. Eine ruhige (!) und konzentrierte Beschäftigung, dauert nicht allzulang und ist damit ein perfekter Lückenfüller.

  4. In den preußischen Soldatenlisten stand neben den Namen wahlweise „kann lesen“, „kann lesen und schreiben“, „kann seinen Namen schreiben“. Wenn man nun weiß, daß viele Veteranen danach als Lehrer beschäftigt wurden, erklärt das Einiges übers Schulsystem.

    Ja, die Anforderungen. Kann prinzipiell alles wech, oder wenigstens dreiviertel: solche eierlegenden Wollmilchangestellten, wie die sich vorstellen, gibts gar nicht.

  5. Diese Lücken-Stunden sind mir sehr vertraut. In denen man immer ningeliger wird und selbst Dinge, die eigentlich immer gehen (Fontane!), plötzlich versagen. Ein Gefühl ja fast der Panik, daß man scheinbar nichts dieser Öde entgegen setzen kann. Und wenn das nun so bliebe!?
    Mein Notfallset enthält Musik (Blues, Gregorianik). Da ich nicht mehr lesen kann, entfällt leider die Literatur. Ehedem halfen Sachen wie z.B. P.G. Wodehouse. Sich körperlich auspowern sollte einen kognitiven Neustart begünstigen, scheitert bei mir aber – selbst in dieses Lücken-Stunden – an der Motivation.

  6. Ha!
    Ich habe das sogar mal in einen Bewerbungsgespräch gesagt: kann lesen, schreiben und telefonieren. Letzteres heutzutage fast ein Alleinstellungsmerkmal. Aber sie nehmen am Ende doch immer die nut dem Impkstorsyndrom….

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