Urban Theatre

Sonntag/Montag. Bei der Wiederankunft aus dem ländlichen Heimatdorf der Herzdame sitzt eine ältere Frau vor unserer Haustür, die mehrere OP-Masken quer über dem Gesicht trägt, wie ungeschickt bandagiert, dazu hat sie eine spiegelnde, schief sitzende Sonnenbrille auf, einen nach hinten gerutschtem Hut und einen Alkoholrausch hat sie, von dem Sie und ich uns vermutlich wochenlang erholen müssten. Sie starrt uns leer an, auch im Sitzen leicht schwankend. Später sehe ich sie mühsam weitergehen, sie braucht für jeden Schritt minutenlang. Ich gehe noch einmal einkaufen, was dank unserer Wohnlage problemlos auch am Sonntag geht, was einfach immer geht. Im Hauptbahnhof kommt mir ein Mann entgegen, der einen weißen Bauarbeiterhelm trägt, auf den er bunte Blinklichter montiert hat. Er hat einen langen Stock in der Hand und deutet damit auf Dinge im U-Bahn-Tunnel, die nur er sieht, auf Wesen vielleicht, wer weiß. Weit aufgerissene Augen, irgendetwas murmelnd, Warnungen womöglich. Man schüttelt den Kopf über solche Leute und am Ende haben Sie doch wieder Recht gehabt, das ist bekannt aus Büchern und Filmen.

Es folgt aber alles einer seltsamen Regel: Wenn wir in die Großstadt zurückkommen, dann ist hier immer gleich Vorführung, Urban Theatre. Betont schräge Figuren treten auf, grässliche Kulissen werden gezeigt, die Ecken sind zuverlässig vollgekotzt, angepinkelt, vermüllt, und aus der Requisite werden schnell noch die leeren, verbeulten Bierdosen geholt, die dann im Wind vor unserem Haus in sinnlosen Halbkreisen herumrollen, die fast leeren Rumflaschen auch, und die zertretenen Billigflachmänner werden flächig ausgestreut, so dass es schön knirscht beim Gehen. Irgendwo weht eine leere Plastiktüte vorbei und im Script steht also vermutlich fettgedruckt: Großstadtambiente. Polizeisirenen von den Straßen unten an der Alster. Vom Bahnhof her ein wie zufällig eingestreutes Zugbremsgeräusch und wirre Fetzen einer unverständlichen Durchsage, Westwind also.

Unsere Wohnung ist kalt, eiskalt, als wir aufschließen und die Koffer abstellen. Das allerdings liegt nur daran, dass das Elternhaus im Dorf so überaus mollig kaminwarm war, da haben wir uns jetzt unsere Kältetoleranz dummerweise in nur zwei Tagen zerschossen und müssen etwas überlegen, ob wir noch einen Abend ohne Heizung schaffen, noch einen Morgen, wieviel überhaupt noch. 18 Grad im Zimmer sind doch zu wenig, wenn man nicht gerade im Bett liegt.

Ich sitze auf dem Sofa und überlege, wie kalt mir wirklich ist. Fragen, die man sich früher nicht gestellt hat.

Am Montag die Arbeit, was sonst. Ich mache Dinge, die ich jedes Jahr mache, die mit dem Jahresende zu tun haben. Es sind im Grunde festgefügte Rituale, the same procedures. Mit diesen Ritualen fängt das Ende an, neigt sich alles, kippt, gerät ins Rutschen und ehe man recht darüber nachdenken konnte, ist Weihnachten, ist Silvester, ist Jahresendurlaub, es ist immer so. Es sind also Handlungen, an die ich Erinnerungen aus etlichen Jahren habe, es sind Handlungen, bei denen ich das Setting im Kopf habe, die zugehörige Stimmung, die Gefühlslage, alles. Und ich kann mit großer Sicherheit sagen, dass ich mich dabei noch nie so wenig winterlich oder auch nur spätherbstlich gefühlt habe. Ich mache, was ich immer mache, es fühlt sich aber durchgehend falsch an. So falsch sogar, dass ich mit einem Kollegen darüber spreche. „Das kann doch alles nicht sein“, sagen wir übereinstimmend. Es ist aber so.

Im anderen Beruf lese ich eine Mail, in der es um einen Termin am 4.12. geht. Da ist dann auch gleich Nikolaus, denke ich. Es geht in einer anderen Mail auch noch um eine Lesung am 12.12., das ist schon Mitte Dezember, denke ich, na, fast. Da geht es um Weihnachtstexte, es fällt das Wort besinnlich, und zwar gänzlich unironisch.

Das Jahr ist gleich vorbei und letzten Sontag noch war es in der Nachmittagssonne heiß auf dem Balkon, es war T-Shirt-Wetter. Wir leben in merkwürdigen Zeiten, wir haben ein merkwürdiges Jahr, und das Wort merkwürdig ist dabei noch viel zu nett, ich weiß.

Peter Glaser teilte auf jener obskuren Social-Media-Plattform, auf der wir gerade neulich noch alle waren, dieses Video von Leonard Cohen. Es ist ein fortgeschritten liebenswerter, überaus sympathischer Live-Auftritt, in dem er zum Schluss eine Antwort auf große, auf ganz große Fragen gibt. Es ist eine Antwort, die wir jetzt brauchen.

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Ein Kommentar

  1. 18 Grad ist auch bei uns die Grenze. Dann machen wir für 1-2 Stunden die Heizung an und dann sagt eine(r), „reicht jetzt schon oder?“ Daran sehe ich aber auch, dass wir mit viel weniger Wärme auskommen als früher gedacht. Und jetzt trage ich wieder viel häufiger meine warmen Lieblingspullover.

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