Frost am Morgen

Sonnabend. -6 Grad am Morgen, das ist Winter, wie geht Winter, wie verhält man sich da. Ich mache erst einmal alles wie immer, ich gehe einkaufen. Im Discounter fallen mir mehrere Menschen auf, weil sie größere Mengen Weihnachtsdeko und Weihnachtssüßigkeiten kaufen, das sind vermutlich diejenigen, die bemerkt haben, dass nächsten Sonntag der 1. Advent ist. Es wird vorgesorgt, es wird gerüstet, es wird versorgt, die Backzutaten gehen heute auch gut weg. Kinderglück und Routinegemütlichkeit, jahreszeitlich angepasst, man will es doch schön und passend haben. Wir nehmen noch diese Lichterkette mit und Lebkuchen, wir haben ja gar keine Lebkuchen. Getrocknete Orangenscheiben haben die hier auch, guck mal.

Am Nachmittag stelle ich in der Innenstadt fest, dass meine gewohnten Spaziergangsrouten nicht mehr zur Verfügung stehen, etwas sechs Wochen lang wird das nun so sein. Es stehen einfach zu viele Leute im Weg herum. Viel zu viele Menschen auf zu wenig Metern, durch die Spitaler Straße etwa wogt ein dichtes Geschiebe von Tausenden, ich mochte so etwas schon präpandemisch nicht. Den mit Buden vollgebauten Rathausmarkt sehe ich nur von ferne und biege gleich ab, vor den Alsterarkaden ein langer Fußgängerstau, kein Durchkommen mehr. Glühwein- und Schmalzkuchenduft über allem, es kommt jetzt dick. Am Straßenrand ein riesiger Truck, auf dessen Plane irgendwas mit „Event“ steht, in dem wird noch viel mehr Weihnachten stecken, eine ganze Ladung voll, vielleicht das Zubehör für die große Weihnachtsparade. Der Mann, der das ganze Jahr über jeden Tag in der Nähe von Karstadt steht und ein Schild hochhält, auf dem eine eher kryptische Botschaft irgendwas mit Jesus verkündet, er kann sich im Andrang der Massen kaum noch halten. Er versucht, dort stoisch stehenzubleiben, es ist schwer, von weitem schon sieht man sein Schild wackeln.

Ich überlege, ob etwas an der Menge auffällt. Nach Corona sieht nichts mehr aus, Masken trägt kaum jemand, ganz vereinzelt ist mal eine zu sehen. Die Teuerung scheint nicht vom nachmittäglichen Besuch der Fußgängerzonen abzuhalten und einige Geschäfte haben doch weit offenstehende Türen. Ich hatte es so verstanden, dass das in diesem Winter in Hamburg anders sein sollte, aus Energiespargründen. Oder doch nicht? Vielleicht bekomme ich nicht mehr alle Regelungen mit, das ist am Ende wie bei den wirren Coronamaßnahmen, mag sein.

Es ist aber so, fällt mir schließlich auf, dass die Menschen doch wenig Tüten und Taschen tragen. Je länger ich hinsehe, desto sicherer bin ich, ohne eine Statistik ersetzen zu können: Es wird weniger gekauft als in den Jahren vor dem Krisengewimmel. Dem Augenschein nach. Die Menschen kommen zum Gucken und auf einen Glühwein in die Stadt, die Menschen kommen nicht für ein Programm zur Rettung der darbenden Kaufhäuser.

Das demnächst mal verifizieren, die Presse wird sicher in Kürze berichten.

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In den Timelines einige Schneemeldungen und -bilder, vor allem aus dem Osten. Teils verzückt, teils entsetzt werden die Flocken beobachtet, bei uns fällt nichts mehr.

Auf Twitter löschen dieser Tage etliche ihre sämtlichen Direct Messages und müssen dabei durch die Irritation, auf Nachrichten von und mit Verstorbenen zu stoßen. Da muss Pietät für die Gegenwart teils neu definiert werden, löscht man das, löscht man das nicht, es gibt keine verbindliche Antwort. Man stößt bei diesem Löschen auf vergessene Zeiten, auf längst vergangene Stimmungen, auf Situationen und Szenen aus der Vergangenheit, so war ich einmal, so war es einmal, so waren wir einmal, so war es mit der oder dem. Und es war anders als heute, ganz anders, wie lange ist das her.

Totengedenken und novembriger Rückblick im Social-Media-Style, wir sind da noch ganz am Anfang und müssen uns erst einfinden. Aber wir werden auch das lernen, wie wir immer alles lernen.

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3 Kommentare

  1. Zu Denjenigen, die bemerkt haben, dass nächsten Sonntag der 1. Advent ist, gehöre ich seit gerade eben, als ich es hier las.

  2. Oh ja, beim Löschen der privaten Nachrichten auf der „Birdsite“ stutzte, lachte und weinte ich auch. Alles in kurzer Abfolge. Eine Dekade fast täglichen Beteiligens an der Kommunikation hinterlässt Spuren. Ich bin dennoch froh, die Ecken leer geräumt und geputzt zu haben. Wer weiß, wie lange wir das noch selbstbestimmt können.

  3. Bei uns auf dem Land ändert sich nicht viel zur Adventszeit, der nächste kleine Adventsmarkt ist einige Kilometer entfernt. Allerdings ist mir aufgefallen, dass die Stadt bei uns die Weihnachtssterne aufgehängt hat – wollte man nicht Strom sparen? Achja der Strom wird ja erst nächstes Jahr teurer.
    Meine Direktnachrichten auf Twitter habe ich gestern auch gelöscht. Das ist wie alte Briefe verbrennen. Was passiert eigentlich mit den Nachrichten in Gruppen? Man kann nur auf Gruppe verlassen klicken.

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