Gerechtigkeit, Weltfrieden, alles

An der Mauer zum Kirchhof hängen neue Plakate, ich sehe sie morgens auf dem Weg zum Bäcker. Vermutlich wurden sie nicht ganz nach Recht und Gesetz an dieser Stelle geklebt, wie es sich für revolutionäre Forderungen gehört: „Mieten runter!“ Auf Deutsch, auf Englisch, auf Polnisch, letzteres glaube ich zumindest. Man verlangt da die Enteignung von Unternehmen, die mehr als 500 Wohnungen besitzen, wenn ich es im Vorbeigehen richtig gelesen habe, es ist also tatsächlich einmal eine einigermaßen radikale Forderung von links, das ist erstaunlich und selten. Und vielleicht ein klein wenig naiv, das ist es auch, ein wenig kurz gedacht wohl, ein wenig schlicht, aber was weiß ich schon. Ein Volksentscheid soll es werden, allein das Wort schon.

Am Straßenrand, gar nicht weit von diesen neuen Plakaten entfernt, liegt ein Schlafsack. Der ist ganz zu, nichts guckt heraus, nicht einmal die Haare des darin liegenden Menschen. Und der Schlafsack bewegt sich. Wenn man schon etwas älter ist, so wie Sie oder ich, dann sieht das auf den ersten Blick schon danach aus, als würde sich in diesem Schlafsack gerade jemand mühsam an-, aus- oder umziehen. Wenn man noch sehr jung ist, wie das kleine Mädchen, das jetzt auf einem Laufrad vor diesem überaus interessanten Objekt hält, sieht es erst einmal nur erstaunlich aus, was passiert denn da? Was ist in dem Sack? Da mal unbedingt näher hinsehen! Das Kind ist im besten Fragealter und die hinterherkommende Mutter mit der großen Brötchentüte im Arm ahnt sicher schon, was jetzt unweigerlich kommt, weil es eben zwingend irgendwann kommt. Was ist das, was macht der Mensch da, warum schläft der da? Kann man also auch draußen schlafen, das ist ja überhaupt erstaunlich und eigentlich unerhört. Ist das gut, ist das schlecht, hat man da denn keine Angst? Ist das nicht irre kalt und wenn es kalt ist, warum geht der denn nirgendwo rein? Lässt man den nirgendwo rein und warum nicht? Ist der böse? Wie, kein Geld? Und wie macht man das mit dem Frühstück, wie mit dem Zähneputzen, wenn man so schläft? Das sind so Fragen, auf die kann man schon kommen, wenn einem so etwas zum ersten Mal überhaupt auffällt. Ich kann mich an die entsprechenden Fragen der Söhne sogar erinnern (es gibt übrigens ein passendes Buch dazu).

Wenn man Kinder hat, durchlebt man diese Phase also zweimal im Leben, einmal als Fragestellerin und einmal in der Wiederholung, mit der Brötchentüte im Arm, und man erinnert sich dann vielleicht vage an die unerbittliche Grundsätzlichkeit dieser Fragen, die vermutlich alle Menschen irgendwann stellen, und die ihnen niemand, niemand zufriedenstellend beantworten wird. Warum ist die Welt so schlecht, wie sie ist, und warum machen wir sie dann nicht besser? Denn kurz, immerhin kurz, haben so gut wie alle Menschen radikale Forderungen im Sinn, nach Gerechtigkeit und Weltfrieden und allem. Sie lernen es auch in der Kita noch so, dass das unbedingt anzustreben ist, jeden Keks teilen sie nach den hehren Grundsätzen höherer Ideale und kommen dann erst langsam dahinter, wie wenig ernst das alles von den Erwachsenen gemeint ist. Und bis die Kinder mit der Schule fertig sind, haben sie es längst verstanden, so haben wir es in unserer Klugheit weltweit eingerichtet.

Man muss dann vielleicht ein wenig hinfühlen, ob es Bitternis, Bequemlichkeit, Kälte oder nur die reine, sachliche und selbstverständliche, ein wenig fatalistische Abgeklärtheit der Erwachsenen ist, mit der man dann im Weitergehen denkt, nachdem man all die Fragen des Kindes mehr oder weniger notdürftig und mit großer Sicherheit nicht zufriedenstellend beantwortet hat: „Das lernst du schon auch noch.“

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