Nu issas Ende da

Nachdem ich neulich das Amerikanische Tagebuch von Siegfried Lenz gehört habe, setzte ich die Beschäftigung mit dem Autor noch etwas fort. Gehört: „Ein Kriegsende“ von Siegfried Lenz, gelesen von Burghart Klaußner. Herb, sehr herb, aber auch gut. Falls ich es schon einmal als jüngerer Mensch gelesen habe, was ich stark annehme, hatte ich nicht die geringste Erinnerung daran, dabei würde ich es jetzt sogar für eine besonders gute Kurzgeschichte halten. Der im Text von einem Seemann gesprochene Satz: „Nun ist das Ende da, und wir haben nur eine Bitte“, wird beim Vorleser norddeutsch korrekt und auf die genau richtige Art zu: „Nun issas Ende da, und wir ham nur eine Bidde.“ Es sind auch beim Vorlesen die Kleinigkeiten, die den Genuss ausmachen.

Dann war ich endlich einmal in einer Abendvorstellung des Ohnsorg-Theaters. Dieses Theater ist vor ein paar Jahren so nah an uns herangezogen, dass es fast schon eine Unfreundlichkeit war, so dermaßen lange nicht hinzugehen. Wir müssen eigentlich nicht einmal Jacken überwerfen, so kurz ist der Weg dorthin. Nur einmal waren wir da, bei der kleinen Neben- und Experimentalbühne, als Sohn I dort vor Jahren spielte. Das war zwar auch großartig, aber es war nicht das, was dort sonst läuft. Jetzt aber passte das aktuelle Stück in meinen Lese-Kontext: Dat Füerschipp, also Das Feuerschiff vom Lenz, die eine oder der andere wird es sicher in der Schule gelesen haben, ich auch.

Ich schreibe nicht gerne Rezensionen, hier ist eine beim NDR, der ich mich anschließen kann. Wir haben das gemocht, die Herzdame und ich, und wir haben auch feierlich beschlossen, einen Theaterbesuch dieser Art demnächst zu wiederholen. Es laufen schon seit einer Weile Romane als Theaterstücke dort, und sie werden, aus heutiger Theatersicht, tendenziell konservativ umgesetzt, wozu ich bekennen möchte: Ich bin ein eher biederer Theatergänger, was moderne Regie betrifft. Vermutlich reicht mein Geschmack nur etwa bis in die Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, was sich danach kulturell entwickelte, das kann ich zwar literarisch und musikalisch verdauen und auch genießen, im Theater und in der Kunst aber eher nicht. Und ich gebe mir nicht mehr allzu viel Mühe, mich selbst da noch zu irgendwas bekehren zu wollen. Irgendwann ist es eben der eigene Geschmack, wie seltsam oder gar rückständig er auch ausfällt.

Das klingt jetzt vielleicht so, als sei ich geistig übertrieben früh vergreist, der Dreh ist aber, dass dieser Abend mich seltsam stark verjüngt hat. Was natürlich an dem, pardon, steinalten Publikum lag, denn die überwiegende Mehrheit um uns herum war um die achtzig Jahre oder älter. Das Haus war voll, ich habe etwa sechs deutlich jüngere Menschen gezählt, mich eingeschlossen, und ich bin gar nicht jung. Also normalerweise nicht. Dort schon. Richtig jung. Ich ging mit der Herzdame Hand in Hand durch die Menge und wir wurden ungewöhnlich oft angelächelt, es waren Blicke in der Art von: Guck mal, die verliebten jungen Leute. Es ist schön, wenn man ungewöhnlich oft angelächelt wird, und es waren auch auffällig viele Menschen sehr nett, das fiel auf. Freundliche Begegnungen überall.

Und krank, das waren sie natürlich auch, das bringt das Alter so mit sich. Sichtbar krank, gebeugt, krumm, versehrt, verkantet, verbogen und vielfach beschädigt, also so, wie wir vermutlich alle auch mehr oder weniger bald sein werden. Es ist eine Vorschau, was man da sieht. Sich im hohen Alter noch ins Theater mühen, seinen Sitz finden, sich mühsam, mühsam hinsetzen, erst einmal tief durchatmen und dann für ein paar Minuten einschlafen, bevor einen das Stück wieder weckt – ich kann mir auch Schlimmeres vorstellen. Wenn ich alt bin, richtig alt, werde ich auch Theaterschläfer. Der Mensch braucht Ziele.

Und in diesem Umfeld jedenfalls, ich weiß nicht, ob ich das verständlich ausdrücke, wurde ich tatsächlich jünger. Mindestens zehn Jahre, nehme ich an, eher noch etwas mehr. Es ist alles nur eine Frage des Vergleichs, und ich war also noch einmal der junge Hüpfer vom Dienst und ging oder sprang dann auch entsprechend schwungvoll die Treppen hinauf und hinab. Schön war das, für die Herzdame vielleicht sogar noch mehr als für mich, denn sie war natürlich noch jünger als ich in diesen Stunden. Also, verstehen Sie mich recht, ich habe mich ganz ernsthaft jünger gefühlt. Es war körperlich überzeugend, angenehm und nur fast etwas unheimlich,

Wir saßen ungefähr in der Mitte des Saals, vor uns sahen wir ausschließlich – und ich übertreibe keineswegs– weißhaarige Köpfe. Es saß zwar auch eine junge Frau in den Reihen vor uns, in Begleitung einer viel älteren Person, die hatte sicher keine weißen Haare, aber sie hatte eine weiße Mütze auf, wie zur Tarnung. Ich glaube nicht, dass ich diese Überalterung bei einem Theaterbesuch schon einmal derartig krass erlebt habe, obwohl es in den Kammerspielen schon einmal nahe herankam. Aber es war dort nicht so extrem.

Ja, die jungen Leute können wohl mehrheitlich kein Platt mehr verstehen. Aber wo sind die aus meinem Jahrgang, aus dem Jahrgang der Herzdame, die noch damit aufgewachsen sind? Die könnten da ruhig hingehen. Ich fand es sehr gut, ein tadelloser Theaterabend, ich habe auch das Platt genossen. Und das Stück war absolut kein Seniorenstück. Inhaltlich ist es eh zeitlos bis topaktuell.

Ein feiner Einstieg ins Theaterjahr war das. Jetzt weitersuchen, es ist bald April, da muss es dann auch etwas geben, vielleicht ja ein Theater weiter.

Beim Hinausgehen sagte ein Mann vor uns mehrfach zu seiner Frau, wie bemerkenswert er es fand, dass der Bösewicht nach der Vorstellung, bei den Verbeugungen vor dem Publikum, auf einmal richtig nett aussah, anders als im Stück, also ganz anders, wie ein anderer Mensch geradezu. Seine Frau unterbrach ihn irgendwann in einem Tonfall ehelicher Routine, wie ihn Evelyn Hamann nicht besser hätte spielen können: „Ja. Man nennt es Schauspiel.“

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Im Tagesbild die S-Bahnstation Hammerbrook. Inmitten all der umfassenden Potthässlichkeit des Stadtteils machen immerhin die Bahnsteige eine Art optisches Wooosh. Das ist nicht nichts.

Ein Bahnsteig der S-Bahnstation Hammerbrook.

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5 Kommentare

  1. Ich habe in Amerika vor ganz vielen Jahren mal einen Spruch auf einer Glückwunschkarte gesehen:
    „What can I do to look younger?“ – „Hang around with older people!“
    Im Übrigen bin ich Ihrer Meinung was die Theaterinszenierungen betrifft. Ich bin da auch hängengeblieben wo Sie hängen. Es muss schon der Bezug zu der Zeit zu sehen sein, in der das Stück spielt, sei es Oper oder Schauspiel. Wenn z.B. der Zar in der Oper Boris Godunow in einem Cabrio über eine Autobahn fährt – das passt nicht.

  2. Das war ein guter Deal, zwei zum Preis von einem: einmal Ohnsorg-Theater, einmal Lebenstheater. Und dann der Gedanke, wenn ich mich mal wieder jung fühlen möchte, gehe ich nochmal ins Theater – priceless.

  3. @Hans-Georg
    Der Spruch ist gut, wird mir mit meinen 77 Jahren nur nicht viel nützen, denn zu dem Zweck müsste ich wohl ins Altersheim ziehen.

    @Maximilian Buddenbohm
    Vor Jahren im Ohnsorg Theater, schon an genau demselben Ort, haben mein Mann und ich „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ erlebt, in der Hauptrolle Uwe Friedrichsen. Eine grandiose Aufführung!
    Mein Mann, der als gebürtiger Berliner des Plattdeutschen kaum mächtig ist, konnte sie trotzdem ebenso wie ich genießen, weil er quasi mit Brecht Stücken aufgewachsen ist.

  4. Mit einem Konzertabo lässt sich dieses Erlebnis turnusmäßig wiederholen – ich frage mich jedes Mal, ob ich in 20 Jahren allein da sitzen werde

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