Papierblumen an Fenstern

16.5., im Heimatdorf der Herzdame. Ich lese nach dem Aufstehen am Dienstag die Außentemperatur an den Menschen ab, die zu früher Stunde schon mit ihren Hunden an den Äckern vorbeigehen. Ich sehe, es ist wieder kalt geworden, Winterjacken, Mützen, sogar Handschuhe werden getragen. Bei der Beerdigung am nächsten Tag wird man sicher etwas frieren und es wird passen, denke ich mir.

Eine ländliche Straße iin Nordostwestfalen, Apfelbäume am Straßenrand, blauer Himmel, weiße Wolken

Morgenspaziergang nach dem Frühstück. Papierblumen an den Fenstern der Grundschule, auch noch bunte Hasen und Eier von Ostern, wie lange so etwas dann immer hängt. Die Herzdame ist auch hier zur Schule gegangen, in diesem Gebäude, hat auf diesem Schulhof gespielt. Ich höre aufgeregtes Kinderlachen hinter Scheiben, vor die eine Lehrerin wegen der blendenden Sonne Vorhänge gezogen hat. Diese Vorhänge haben immer noch die gleichen Farben wie damals in meiner Schulzeit, ein verblasstes Schulgrün, ein ausgegilbtes Behördenorange. Ich weiß bei der Erinnerung sofort wieder, wie sich diese Vorhänge angefühlt haben, das grobe Material, ich erinnere mich sogar noch an den muffigen Geruch des Stoffs, wenn man sich dahinter versteckt hat, was natürlich ohnehin sinnlos war. Ich weiß auch noch, wenn man einmal anfängt, sich zu erinnern, wie es in dem Schrank im Klassenzimmer gerochen hat, in den ich mich gerne für längere Zeit zurückgezogen habe, ich weiß noch, wie da durch einen Spalt am Scharnier Licht hineinfiel, tanzende Staubkörner darin, lange habe ich die beobachtet. Vor dem Schrank währenddessen das Gemurmel der Klasse.

Auf dem Feld weiter hinten, der Schule gegenüber, sitzen ein Hase und eine Krähe verdächtig nahe beieinander und führen, wer weiß, eine uralte Fabel in neuer Inszenierung auf. Aber ich bin zu weit weg, um etwas zu verstehen.

Der Bauer hat gestern gemäht, verwehte Halme treiben vor mir her über den Weg und bilden im unangenehm kalten Wind wirre Muster. Grüne Keilschrift, die sich rasend schnell umgruppiert und immer wieder neu anordnet, niemand kann das lesen.

„Was hast du heute vor“, frage ich kurz darauf die Herzdame im Wohnzimmer, und sie deutet wortlos auf das herumstehende Zeug ihres verstorbenen Vaters, welches sie, so deute ich die ausholende Bewegung, vermutlich in den nächsten Stunden weiter sortieren möchte. Die Art, wie sie darauf deutet, sie erinnert mich an etwas, und nach einer Weile komme ich auch darauf. Indianische Häuptlinge in alten Western deuten so auf Landschaften, mit einer langsamen Bewegung des Armes und der Hand. Kameraschwenk, man sieht die Weite der Prärie, herannahende Büffelherden. Dann wieder das ernste Gesicht es Häuptlings, der da deutet, schließlich die Blicke der Umstehenden, sie verstehen, sie nicken. Ich nicke auch.

Mir fällt beim Frühstück zum ersten Mal auf, dass auf dem Kaffeebecher, aus dem ich hier morgens trinke, etwas steht, in kleiner Schrift oben am Rand, es ist ein zum Frühling passendes Zitat:

And each flower and herb on Earth’s dark breast

Rose from the dream of its wintry rest.

Ist das irgendein Kitsch oder ist es am Ende Weltliteratur, ich googele das natürlich, immer alles nachsehen, und guck an, es ist von Shelley: The sensitive plant. Die wiedergegebenen Zeilen hängen vermutlich auf dekorativ gestalteten Plakaten in Gartenhütten überall auf der Welt, so ein gut verwertbares Zitat ist das. Auf meinem Becher sind darunter bunte, maimuntere Stiefmütterchen abgebildet, pansies, wie man in diesem Kontext sagen muss, denn es ist tatsächlich ein Becher aus England, noch aus dem Laden, den die Mutter der Herzdame viele Jahre hier im Dorf geführt hat. Das Gedicht ist furchtbar lang, es endet so:

For love, and beauty, and delight

There is no death nor change: their might

Exceeds our organs, which endure

No light, being themselves obscure.

Vielleicht auch mal Shelley lesen, warum auch nicht. Es scheint gerade zu passen.

Es wird währenddessen immer kälter und der Wind frischt weiter auf, er treibt einen ins Haus. Von drinnen sieht es draußen aber dermaßen verlockend schön aus, guck doch, die Sonne, so herrlich, und dann geht man also wieder raus, es ist so anziehend, wie es da alles leuchtet, und dann geht man wieder rein, es ist doch einfach zu kalt, dieser Tag hält einen auf Trab.

Ich mache später Englisch mit Sohn II, denn so etwas findet leider auch in den Ferien und kurz vor Beerdigungen statt. Es geht um die indirekte Rede, er sagt, er habe keine Lust dazu, ich sage, das sei mir egal, man müsse eben stets bemüht bleiben. Dann noch Conditional III, wenn er schon früher gelernt gehabt hätte, hätte er es heute nicht mehr nötig gehabt – oder so ähnlich. Gräuliches Grammatikgebastel, wenn man zu lange darüber nachdenkt, bekommt man am Ende selbst keinen geraden Satz mehr heraus, in keiner der beiden Sprachen. Die Herzdame fragt aus dem Nebenzimmer, ob Conditional III zusammenfassend das mit „Hätte, hätte, Fahrradkette“ sei. Im Prinzip ja. Haben die Briten wohl auch so einen Spruch? Das weiß ich nicht.

***

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3 Kommentare

  1. Vorhänge, Klassenschrank – verdammt, jetzt schreibt der Buddenbohm auch schon meine eigenen Erinnerungen auf. Immerhin hab ich hinterm Vorhang das erste Mal geknutscht, das sollte nicht vergessen werden.

  2. Schon als Sie begannen von den Vorhängen zu berichten, hatte ich direkt den Geruch in der Nase und musste derart lachen, als Sie zwei Sätze später auch dazu kamen.

    Ob das eine deutsche Traditionsfirma ist, die diese Vorhänge für alle Schulen deutschlandweit herstellt? Ich stelle mir einen Familienbetrieb in Wernigerode, ehemals VEB, vor, die früher eine riesige Produktionspalette hatten, VEB Stoffwaren Wernigerode vermutlich, und die heute dank ihrer Spezialisierung auf Schulvorhänge den Betrieb aufrecht erhalten können.
    Das würde auch erklären, warum es in West wie Ost seit 40 Jahren scheinbar die gleichen Vorhänge gibt. So wie die unbezahlbar teuren West-Jeans im Osten produziert wurden, war es auch mit den Schulvorhängen aus Wernigerode. Der geheime Exportschlager der DDR und nur noch die ehemaligen Angestellten können von den rosigen Zeiten berichten, in der all ihre Stoffe Ost und West verwoben haben: ‚Schon damals hingen unsere Schulvorhänge von Flensburg bis Freiburg und von Dresden bis Düsseldorf in jeder Schule!‘
    Die alten Maschinen laufen bis heute wie ’ne Eins, nur das mit den Ersatzteilen wird immer schwerer. Aber bisher hat man sich immer zu helfen gewusst. Die Schulvorhänge aus Wernigerode werden noch viele Jahrzehnte unsere Schulen vor Licht, Sonne und Wärme schützen. Jawohl!

    So ungefähr wird es wohl sein.

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