Reggae und Raps

Montag, 15.5., im Heimatdorf der Herzdame. Ich sehe die Schlagzeilen im Newsstream am Morgen, es geht da noch um den abgesagten Streik bei der Bahn: „Ein Drittel der Fernzüge fährt nicht“, und direkt darunter in der nächsten Zeile: „Zugverkehr weitgehend planmäßig.“ Woraus wohl zu schließen ist, wenn mein Denkvermögen noch so weit reicht, dass ein Drittel der Fernzüge planmäßig ohnehin nicht fährt, es ist ein wenig erstaunlich. Aber was weiß ich schon, es ist jedenfalls gut, dass wir heute nicht mit dem Zug fahren müssen.

Ich führe beim Tischtennis am Vormittag ein jugendfilmtaugliches Grundsatzgespräch mit einem Sohn, weil es etwas zu klären gibt. Ein Ping, ein Pong, ein Satz, nicht aber Spiel, Satz und Sieg. Und wie es in Jugendfilmen so ist, wird man erst viele Szenen und Schnitte später wissen, ob es etwas genützt hat, ob es eher egal war oder nur wieder irgendein hilflos bemühter Schritt vom Wege, oder aber ob am Ende meine Wahrnehmung gar nicht die verbindliche ist und er eigentlich ein Gespräch mit mir geführt hat. Wait and see, wie es ohnehin immer in der Erziehung gilt.

Ich bin mit dem Keyserling durch, mit den Abendlichen Häusern. Die Geschichte endet, wie alles bei ihm, in tiefster Resignation, in der aber kaum unangenehme Bitternis nachzuweisen ist. Ein spezielles Keyserling-Gefühl, nicht so leicht übertragbar. Im Stechlin von Fontane findet man vielleicht eine vage ähnliche Stimmung. Ich beginne daraufhin „Armance“ von Stendhal, das ist sein eher unbekannter und dünner Roman neben den beiden deutlich dickeren Superbestsellern, die er noch geschrieben hat. Deutsch von Arthur Schurig. Es ist ein abrupter Wechsel in der Attitüde nach dem Keyserling, als würde man sich auf einmal gerade hinsetzen und etwas Haltung annehmen, so deutlich ändert sich der Tonfall in den Büchern, vom etwas hinfälligen, wehsüßen Erinnern bei dem einen zur scharfsinnigen, urteilenden Analyse beim anderen, auch wenn es einige Ähnlichkeiten in der Kulisse gibt:

„In diesem Salon hatte die grünsamtene, mit Goldornamenten überladene Wandbekleidung offenbar die Aufgabe, das Licht zu dämpfen, das durch zwei mächtige Spiegelglasfenster in den Raum strömte. Sie gingen auf den einsamen Garten, der durch Buchsbaumhecken in bizarre Abteile zerlegt war. Im Hintergrund ragte ein Reihe Linden auf, die dreimal im Jahr verschnitten wurden. Ihre starre Oberlinie wirkt wie ein Sinnbild des geistigen Lebens im Hause.“

Das Buch Armance von Stendhal, ein Insel-Taschenbuch

Ich fahre zum Einkaufen, das geht hier auf dem Land nur mit dem Auto. Zu Fuß wäre ich dafür erstaunlich lange unterwegs, quasi Tagesreise. Mit dem Fahrrad würde ich nicht alles Zeug mitbekommen, nein, es ist im Moment nicht anders lösbar. Ein Sohn begleitet mich und hört laut Musik dabei, die nach Reggae klingt. Was so dermaßen schlecht zur norddeutschen Landschaft passt, durch die wir fahren, dass es fast schon lustig ist. Reggae und Raps vertragen sich nicht recht, stelle ich fest.

Ein Familienmitglied hat bei mir Lust auf einen bestimmten Schokoriegel angemeldet, den ich im Laden aber hartnäckig nicht finde, obwohl doch klar ist, wo er sein müsste. Hinterher erst fällt mir ein, dass doch neulich in den Nachrichten stand, dass Edeka irgendetwas ausgelistet habe, wegen der Streitigkeiten um die Einkaufspreise, und ich habe bei der Liste der betroffenen Produkte noch gedacht: das brauchst du doch alles eh nie. Nun. Dann gibt es eben etwas anderes, es ist auch egal und ich denke nicht, dass der Wegfall irgendeines Markenartikels für mich ein größeres Problem wäre. Man kann sich auch nicht von allem beeindrucken lassen.

Eine Bemerknis noch am Rande: Es war ein Supermarkt ohne jede Quengelware vor der Kasse. Ich weiß nicht, ob ich das in Hamburg schon einmal gesehen habe, aber ich denke nicht.

Ich mache danach Mittagsschlaf. So einen Mittagsschlaf, nach dem man spontan nicht mehr weiß, wer und wo man ist, was in unangenehmer Weise dadurch gesteigert wird, dass ich hier an verschiedenen Tagen in verschiedenen Räumen ruhe, weil im Hausstand viel herumgeräumt wird. Dann vollkommen planloses Erwachen, sich nur langsam in die Rolle zurückdenken, die Schrift des Drehbuchs erst wieder mühsam scharfstellen, dann zögernd und ohne Begeisterung denken: „Ach ja. Das war es.“ Schließlich aufstehen und vor dem Hinaustreten die Kleider ordnen, wie es früher bei der Bahn auf den Toiletten hieß. Also sehr viel früher. Als man noch großen, sicher allzu großen Wert auf Ordnung gelegt hat.

Komplikationen und Probleme aus Hamburg erreichen mich auch hier auf dem Land per Mail, stelle ich nebenbei unwillig fest. So ein überall verfügbares Netz heißt eben auch, dass man selbst überall verfügbar ist, das ist womöglich gar nicht bis zum Ende durchdacht worden, als man es sich etwas vorschnell so eingerichtet und zunächst toll gefunden hat.

Ich schreibe ein Notizbuch voll und wechsele es gegen ein neues Exemplar ein. Ich habe dabei wieder das vollkommen unsinnige, aber immerhin schöne Gefühl, etwas geschafft zu haben, erreicht sogar. Und dann auch prompt der gleichfalls unsinnige Wunsch, sofort neue Notizbücher zu bestellen, obwohl ich doch in Hamburg einen nicht eben geringen Vorrat davon habe, natürlich habe ich den.

Ich beherrsche mich dann aber mühsam, ich bestelle nicht, ich reiße mich zusammen wie so ein Mensch mit Disziplin und Willenskraft. Denn so stand es im Drehbuch, das ist die Rolle.

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Ein Kommentar

  1. Das Leben in all seinen Facetten. Schwer zu begreifen und dennoch mit Hilfe von Literatur, Musik und Mittagschlaf irgendwie zu gestalten. Es bleiben Ihnen noch hoffentlich viele Notizbücher, die mit feinen Beobachtungen gefüllt werden können.

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