Die Rente, die Rebellion
Donnnerstag, der 15.6. Im Büro nehme ich Kolleginnen, die gerade in Rente gegangen sind, aus Verteilern und Listen. Das Thema bleibt bei mir jetzt im sichtbaren Bereich, es ist dauerhaft im Hintergrund der Wahrnehmung, es wird manchmal auch recht prominent. Ach guck, die ist auch schon nicht mehr da. Und oh, der geht ja schon nächsten Monat. Mein Jahrgang gehört zu den letzten der Kinderreichen, nein, ist wohl sogar amtlich das Schlusslicht, nach mir hat es sich dann ausgeboomert im Berufsleben, der Letzte macht das Licht aus. Stimmt gar nicht, das Licht geht heutzutage selbstverständlich automatisch aus, wenn man den Raum verlässt. Sogar unsere Redewendungen sind mittlerweile veraltet und auf Dad-Joke-Niveau, merken Sie es auch. Wir können weg, ich sehe es ja ein. Oder, wie es in der Tagesschau heißt: „Was, du arbeitest noch?“
Ich höre auf meinen Wegen das nächste Buch über das Jahr 1923: Volker Ullrich: „Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund“. Die Bezüge zur Gegenwart beißen einen wieder förmlich beim Lesen, mich vermutlich besonders. Denn während ich von Armenspeisung und Suppenküchen lese bzw. höre, sehe ich die heutige Entsprechung vor dem Wohnzimmerfenster, wie an jedem Donnerstag. Zwar ohne die großen, leidenden Kinderaugen wie auf den dramatischen Zeichnungen von Käthe Kollwitz, es war damals fraglos noch wesentlich schlimmer, aber um Hunger und Versorgungsprobleme geht es heute doch auch, das steht leider ebenfalls fest, und vor der Kirche stehen gerade etwa 50 Menschen oder mehr geduldig an und warten auf eine wöchentliche Zuteilung. Ein paar Meter weiter die Plakatwerbung der Hamburger Tafeln an einer Bushaltestelle: „Wir haben Hamburg noch lange nicht satt.“ Spendenaufrufe, sie sind dringend notwendig. Und an einer Laterne ruft eine linke Gruppierung per Aufkleber zur Rebellion auf. Unterscheiden sich die Gruppen, die zur Rebellion aufrufen eigentlich von denen, die zur Revolution aufrufen? Das würde mich nicht wundern.
Es geht im Buch auch wieder um die galoppierende Inflation, die in den heutigen Nachrichten gerade etwas sinkt, es wird eher am Rande gemeldet. Es geht auch um das Erstarken der Kräfte am rechten Rand. Den Bezug zur Gegenwart bei diesem Thema kann man sich denken, wenn man die Nachrichten und Wahlumfragen auch nur halbwegs verfolgt, und wer würde das nicht, mit freundlichen Grüßen auch nach Schwerin, Glückwünsche für den neuen Bürgermeister. Er hatte einen Gegenkandidaten von ganz rechts, Sie werden es gelesen haben, eine Schlagzeile dazu lautete tatsächlich: „Partei greift nach der Macht.“
Immer weiter Geschichtsbücher lesen und vage hoffen, dass doch ein paar Leute irgendwas gelernt haben.
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