Alchemie und Armut

Montag, der 19.6. Mittlerweile sehe ich an normalen Tagen kaum noch auf Twitter nach, was dort passiert, es ist aber, wenn ich es doch einmal tue, recht eindeutig. Neben den wenigen Menschen, die dort noch privat wie in alter Zeit Alltäglichkeiten und Befindlichkeiten austauschen, was ich ganz und gar nicht abwertend meine, herrscht dort ein verbitterter, gnadenloser Stellungskrieg mit extrem verhärteten Fronten zu politischen Themen, es ist kaum mitanzusehen. Trolle gegen Journalistinnen und auch umgekehrt, Rechts gegen Links, Nazis gegen Grüne und Geflüchtete, Konservative gegen Heizungen, SPDler aus Berlin gegen Fahrradfahrerinnen, Klimaforscherinnen gegen die CSU, die Frontverläufe sind teils kaum noch zu verstehen, aber brutal geht es jedenfalls zu, verbal brutal, es macht zuverlässig und sofort schlechte Laune. Ich bin da entwöhnt, so kann man es wohl nennen. Im Alltag brauche ich das nicht mehr.

Aber damals irgendwann, man kann es kaum noch erklären, damals war es schon schön da, und lustig auch. Eine Weile lang.

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Noch ein weiterer Arzt, der seine Praxiszeiten reduziert. Wenn man, so wie ich, für mehrere Personen aus diversen Generationen dies und das abholt und organisiert, wird es dadurch nicht einfacher, milde ausgedrückt. In Wahrheit stehe ich am Morgen laut fluchend vor einer Tür, die erst in einer Stunde geöffnet wird. Ich plane hektisch um, ich sortiere um, es ist kompliziert. Nach einer Stunde der zweite Anlauf, nun steht vor mir eine Schlange von Wartenden durchs halbe Treppenhaus. In der Praxis ist Maskenpflicht, die wartenden Menschen vor mir husten und röcheln, aber niemand trägt Maske, denn im Treppenhaus muss man ja noch nicht. Erst exakt mit dem Überschreiten der Schwelle … Manchmal ist das Thema doch noch etwas anstrengend.

Ich hole Rezepte, ich hole Medikamente, ich bringe hierhin und dorthin, ich versuche vergeblich mir zu merken, wer gerade wessen Karte hat. Es ist schon viel gewonnen, wenn der richtige Mensch das richtige Zeug bekommt, denke ich mir. Auch das ist etwas anstrengend.

Wieder zuhause. Im zweiten Stock hat uns jemand ins Treppenhaus gekackt, in ergiebiger Menge, wie ich anerkennend im Vorbeigehen feststelle. Vor der Haustür sitzt ein Junkie, der sich mit Alchemie beschäftigt. Er hat diverse Zutaten und Gerätschaften vor sich ausgebreitet und wird sie gleich unter fortwährendem Gemurmel uralter Sprüche in reines Gold verwandeln, zumindest wird er das kurz glauben. Ein paar Meter weiter liegt ein Obdachloser quer über dem Fußweg, und zwar, das ist ein wirklich bizarres Bild, im genau gleichen Winkel wie ein E-Scooter, den jemand noch ein paar Meter weiter vorschriftswidrig abgestellt hat. Gar nicht mal so schön hier, denke ich, gar nicht mal so schön hier. All das Leid, all die Menschen, denen man kaum helfen kann, denen mit den psychischen Problemen nicht, den Junkies nicht, den Armen nicht, den Obdachlosen nicht.

Anstrengend, aber als Tagesthema. Wenn nicht als Wochen-Motto, man wird sehen. Erst einmal weitermachen.

Der Sommer liefert nebenbei ein kleines Update, es gibt jetzt auch wieder diesen Regen, bei dem es nicht abkühlt. Wie man sich als Hanseat vielleicht Monsun vorstellt, so zieht der Schauer kurz vorbei und quer durch den Stadtteil, nur nicht so wahnsinnig ergiebig. Es dampft kurz, es bleibt dabei dauerhaft feuchtwarm. Viel zu warm.

Ein halb abgerissener Aufkleber mit der Aufschrift "LIEB SEIN" unter einer Brücke, gerade noch zu lesen

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Ein Kommentar

  1. Du sollst keinen Kaffee trinken, wenn Du Buddenbohm liest.
    Du sollst keinen Kaffee trinken, wenn Du Buddenbohm liest.
    Du sollst keinen …

    «Im zweiten Stock hat uns jemand ins Treppenhaus gekackt, in ergiebiger Menge, wie ich anerkennend im Vorbeigehen feststelle.»

    Hat unvermeidlich ein Kaffee-über-die-Tastatur-prusten getriggert.

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