Verlorene Jahre

Dienstag, der 29. August. Erstmalig wieder eine einstellige Temperatur am Morgen, aber die Wohnung glüht noch nach. Es dauert eine Weile, bis das ganze Gebäude auskühlt.

Ich lese wenigstens flüchtig die Nachrichten nach, die Sache mit der Kindergrundsicherung etc. Ich habe den starken Verdacht, dass bei allen, die da auf dem Begriff „Erwerbsanreiz“ herumreiten, eine eher infame Geisteshaltung dahintersteckt und vielleicht in keinem einzigen Fall etwas tatsächlich Wohlmeinendes, Hilfsorientiertes, Humanes, Soziales.

Erwerbsanreize, Abwählreize.

Gestern probierte die Herzdame am Abend Kleider und anderes an, wobei ihr die Frisur nervtötend oft im Weg war und sie sie kurzerhand etwas ruppig reffte und mit einem Haargummi dergestalt bändigte, dass ich einen Scherz über die Ähnlichkeit zu einer von Kohlhiesels Töchtern machte – und sie mich dann mangels Kenntnis dieses alten Films vollkommen verständnislos ansah, ich also in dieser kurzen Sequenz deutlich weiter ins Großvaterhafte, Seniorige vorrückte. Es gibt Sätze, mit denen verliert man Jahre.

Letzte Woche, das habe ich nicht erwähnt, brannte hier um die Ecke ein Haus, gleich zweimal an einem Tag sogar, es entzündete sich irgendwas erneut, nur ein paar Stunden, nachdem das beeindruckende Großaufgebot von Feuerwehr und Polizei wieder abgerückt war. Es brennt, über die ganze Zeit gesehen, die ich in diesem Stadtteil wohne, etwa alle 3 Jahre bei uns um die Ecke. Oder auch direkt unter uns, wie in dem einen Fall damals, als die Nachbarin den Herd angelassen und dann stundenlang das Haus verlassen hat. In Anbetracht dieser Brandfrequenz werden in dieser Gegend sämtliche Feuerwehrzufahrten doch erstaunlich konsequent und verlässlich zugeparkt, aber das ist sicher wieder so eine Angelegenheit mit regelorientierter, muffiger Vernunft einerseits und fröhlicher Freiheit, Freiheit andererseits. Vielleicht aber fehlen auch nur die Tiefgaragenanreize, was weiß ich.

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Ein Sohn, der gerade ausgeprägt keine Lust auf gar nichts hat, auf keine Anreize reagiert und lieber nicht mitmachen möchte, woher auch immer er das bloß haben mag, erklärt mir seine Verweigerungen wortreich mit seiner aktuellen Vorliebe für Diogenes. Also der Philosoph damals in dem Fass in Korinth, der sich auch nicht einfach angepasst hat, ganz im Gegenteil – ich vergebe still und vergnügt bildungsbürgerliche Pluspunkte. Viele. Auch wenn das Wissen nicht aus Büchern kommt, wie es damals bei uns noch selbstverständlich gewesen wäre, but the times, they are a-changin …

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Den „Stoner“ von John Williams durchgelesen, es ist ein sehr gutes Buch, dicke Empfehlung. Eine ruhige Angelegenheit, das scheint mir passend für den Frühherbst zu sein.

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4 Kommentare

  1. Diogenes ist doch eine gute Begründung für mehr Ruhe und Gelassenheit. Die Erziehung zum Denken hat also funktioniert. Ein schönes Wochenende.

  2. Mir hat ja damals der Diogenes-Verlag sehr geholfen, nicht etwa wegen Philosophie, aber da sind all die guten Cartoonisten jener Zeit erschienen, von denen ich heute noch klaue: Loriot, Tomi Ungerer, Paul Flora, Chaval, Bosc, Sempé, Chas Addams, Edward Gorey …

  3. Den verrückten Diogenes hervorzuholen ist ein ziemlich cooler Move des Sohnes!

    Die Geschichte mit Platon und dem Huhn macht mich übrigens auch heute noch sehr fröhlich.

  4. Kohlhiesels Töchter mit der wunderbaren Liselotte Pulver nicht zu kennen zählt aber schon unter Bildungslücke, oder nicht?

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