Die Rückreise nach Hamburg. Der Katamaran legt am Nachmittag in Helgoland ab, was für mich als terminfixierter Mensch immer ein Problem ist, denn was macht man bis dahin mit dem halben Tag. Das habe ich in all den Jahren nicht geschafft, diese Reststunden auf der Insel noch sinnvoll zu nutzen, denn ich will an Abreisetagen nur eines, nämlich abreisen, dafür ist das Datum ja da. Man wechselt an so einem Tag wieder die Kulisse, das ist der Zweck des Tages, es kann kaum einen anderen geben.
Das ist einigermaßen unvernünftig, ich weiß, und kostet mich sicher etliche schöne Stunden, aber es ist wohl zu schwer für mich, da noch eine andere Haltung zu erreichen, die Versuchsreihe ist bereits länglich.
Wir lassen das Gepäck erst einmal im Hotel stehen und kaufen noch etwas für die Söhne ein, Schokolade im Flughafenshopformat und dergleichen. Die Herzdame kauft sich einen Laden weiter noch eine Mütze und braucht endlos lange dafür, sie probiert hundert Farben und geht schließlich mit leuchtend pinkfarbener Kopfbedeckung, ich werde sie in Menschenmengen damit gut finden können. Ich sehe mir auch Sachen an, aber mir ist gerade nicht nach Outdoormode, nach Winter- und Sturm- und Regenjacken, das interessiert mich alles noch nicht, bei diesen weiterhin hochsommerlichen Temperaturen. Schon die Vorstellung, jetzt so etwas anzuprobieren – um Gottes willen.
Wir sitzen dann lange auf der Promenade herum und haben nichts mehr vor. Ich gucke heimlich auf die Uhr, denn die Herzdame mache ich damit wahnsinnig, und ich verstehe sie sogar. Es liegen noch mehrere Stunden vor uns. Das Wetter ist herrlich, es ist ein unwirklicher Septembertag. Es ist so warm, dass es gerade eben nicht heiß ist. Von der Nordsee weht es lau und wie südlich heran, ob wir nun hier sitzen oder irgendwo in Griechenland, Italien, Spanien, am Wetter könnte man es nicht so leicht erkennen.
Wir sitzen in einem Strandkorb und die Zeit verlangsamt sich nun erheblich, wird zäh und undurchdringlich. Die Herzdame liest, ich aber kann nicht lesen. Ich gucke zum Horizont, wann endlich der Katamaran kommt. Ich gehe auf der Landungsbrücke auf und ab, ich reichere den Schrittzähler an, dann hat wenigstens der etwas zu tun. Ab und zu sieht die Herzdame hoch und mir hinterher, sie schüttelt den Kopf und liest weiter.
***
Das Oberdeck des Katamarans bleibt lange nach der Abfahrt noch leer, die Passagiere stehen draußen auf dem Achterdeck und sehen der Insel nach. Etwas später sehen sie nur noch in die weiße, sich verwirbelnde Gischtspur hinter uns oder zu den Schiffen links und rechts neben uns. Containerschiffe, Frachter, Segelboote, auf der Nordsee ist etwas los. Ein Kleinkind zeigt immer wieder auf alles, was da fährt, und es ruft unermüdlich „Schiff! Schiff!“, es strahlt und freut sich. Schiffsmeldungen, denke ich, das gibt es auch als Romantitel.
Das Deck des Katamarans glitzert nass, der Himmel ist blauweiß und die satte Wärme um uns herum wirkt so grundsätzlich und ewig, wir könnten hier auch durch die Ägäis fahren.
Draußen haben sich einige auf den Stahlboden gesetzt oder sogar gelegt und sonnen sich. Wieder ist es so, dass einige Herbstsachen anhaben, weil sie ja auf einem Schiff sind, wo es zieht und es nass ist, einige aber nur Shorts und T-Shirt, weil es doch noch dermaßen Sommer ist. Der prinzipientreue Mensch in verschiedenen Ausprägungen.
Im Innenraum ploppen die Bierflaschen wie in einem Werbespot für Flensburger, ein Geräusch, das durch die Reihen wandert.
Ein Baby weint sich in den Schlaf, während seine Mutter es in einem Tuch vor dem Bauch herumträgt. Sie wird irgendwann vom Vater abgelöst, beide wandern und wandern durch die Reihen, immer wieder, noch eine Runde und noch eine, und das Baby weint und weint. Einige Passagiere gucken etwas genervt, einige lächeln verständnisvoll, das sind vielleicht die, die sich noch erinnern können. Ich höre alten Jazz und für drei, vier Takte ist das Jammern des Babys melodiesynchron mit Chet Baker, bis dem Trompeter dann doch etwas mehr einfällt und er die Noten anders fortführt, das Baby aber im klagenden Refrain verbleibt, noch lange.
Ein Kleinkind wandert auch durch die Reihen, drei, vier Jahre wird es alt sein. Es hat noch einen Schnuller, den es aber schon sehr lässig im Mundwinkel hat, den wird es nicht mehr lange brauchen. Das Kind sieht sich die Erwachsenen genau an und bleibt vor einigen stehen, bohrende Blicke, was ist das da für ein Mensch. Einige von denen, die so angesehen werden, sind schnell verunsichert, gucken lieber weg oder täuschen eine Beschäftigung vor, einige lächeln versuchsweise und ohne Erfolg, denn dieses Kind lächelt nicht zurück. Es forscht hier nur, es ist nicht auf Kontakt und Freundlichkeiten aus.
Die meisten Passagiere sehen auf ihre Handys und tippen ab und zu etwas darauf, einige schlafen, wenige lesen in einem Buch.
Ein Mann küsst eine Frau, und er macht es mit einigem Einsatz, seine Lippen verweilen lange auf ihren. Auf seinem T-Shirt steht: „Einer muss den Job ja machen.“
Nach Cuxhaven wird der Katamaran leerer, die Menschen werden müder, immer mehr Augen gehen um uns herum zu. Neben mir sitzen kartenspielende Rentnerinnen, hinter ihnen das Elbufer. Frauen vor Flusslandschaft.
Das Licht über dem Wasser wird in der Dämmerung lilafarben pastellig, urlaubsbildbandschön sieht es aus, und es ist kaum zu glauben, dass wir auf eine Millionenstadt zu fahren, nicht auf ein Naturschutzgebiet oder zumindest in irgendeine Gegend, die für ihre Landschaft berühmt geworden ist. Es sieht vor den Fenstern anders aus, vielversprechender, das Licht verklärt die norddeutsche Wirklichkeit. Hinter Stade sieht man allmählich nur noch die Lichter der Hafenkräne und der Industriebauten, rotes Gefunkel im Dunkeln, es glimmt, es leuchtet, man ahnt Gebäudeumrisse oder Anlagen, Maschinen und Fahrzeuge.
Dann werden die Lichter nach und nach immer mehr und noch mehr. Sie sind bald eine eigene Wirklichkeit, von der Nacht abgeschieden, so zahlreich sind sie und so hoch erhellen sie die Dunkelheit, eine orangegelbe Lichtkuppel erhebt sich über der Elbe, und das ist dann der Hamburger Hafen.
An den Landungsbrücken raus.
***
Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.
Wunderbare Morgenlektüre – herzlichen Dank und schöne Grüße vom Bodensee.
Bodensee – ja, da müsste man auch mal hin.
Feines Lesestück. Habs der Familie am Frühstückstisch vorgetragen. Grüße aus Westfalen.
Wie die Vorschreiber! Schöner Text.?
Sorry, ich hatte kein Fragezeichen gesetzt – wie kommt das nur dahin?
Ihren unbedingten Abreisewillen am Abreisetag kann ich gut nachvollziehen, bislang dachte ich, der einzige zu sein, dem es so geht. Als wir noch regelmäßig auf Gran Canaria urlaubten, empfand ich es stets als unangenehm, wenn der Rückflug erst am Nachmittag oder Abend ging. Während sich die anderen nochmal im und am Pool vergnügten, saß ich reisefertig gekleidet auf dem gepackten Gepäckstück und schaute missmutig auf die Uhr.
„Schiffsmeldungen“, „Frauen vor Flußlandschaft“, gestern – ich mutmaße: ungewollt – „Tod am Meer“ (Heiduczek). Vielleicht nun mal täglich einen Buchtitel im Blogpost unterbringen?
Das ist so ein schöner Text, lieber Herr Buddenbohm. Ich lese schon seit vielen Jahren bei Ihnen und immer sehr gerne, mag Ihre feine Sprache, Ihre Beobachtungen, Ihre Sicht auf die Welt und fühle mich oft verstanden, finde Trost und gute Gedanken. Danke, dass Sie hier so viel Schönes mit uns teilen.
Ich danke auch!
@Markus: Als wenn die Ungewollten auch zählen, dann ist mit einiger Sicherheit jeden Tag einer dabei.
Was für ein stimmungsvoller Text! Merci dafür!
Und „Schiffsmeldungen“ habe ich seinerzeit gerne gelesen. Die folgenden Bücher der Autorin dann zwar hoffungsvoll begonnen, aber nicht zu Ende gelesen.
Die Kleine ist ja herzallerliebst. Ich sehe sie quasi vor mir. Wie auch die anderen Charaktere. So ein wunderbares Kopfkino, das Du uns hier zauberst. Hab Dank, lieber Max. Sehr gern gelesen. (Jetzt suche ich mir noch jemanden, dem ich das demnächst vortragen kann.) Viele Grüße gen Norden ??
Ha, jetzt kann ich die Fragezeichen erklären: Es sind Emoticons, die Dein Blog nicht versteht. Ja, ich sollte diese Mini-Bildchen auch nicht verwenden. Ich sehe es ein. Was man sich über Social Media nicht alles angewöhnt…
Alles an diesem Text ist wunderbar! <3
Merci!