Ich muss ein Paket abholen, das durch irgendwelche unergründlichen, vielleicht neuen Postvorgänge nicht in unserem Stadtteil, sondern drei U-Bahnstationen weiter für mich lagert. In einem Kiosk, von dem ich noch nie gehört habe. Wie das immer zugehen mag … als Kunde staunt man und wundert sich, was macht die Post da jetzt wieder. Warum klingeln ihre Leute nicht einfach und geben mir die Sendung, ich bin doch da. Es wäre einfacher für alle, scheint mir, aber was weiß ich schon.
Ich stehe jedenfalls vor dieser U-Bahn-Station und orientiere mich, ich überlege, wo ich eigentlich hinmuss. Ich suche in der Mail, die ich von der Post bekommen habe, den Straßennamen, die Hausnummer. Vermutlich muss ich noch einmal eine Rolltreppe runter, durch diesen Fußgängertunnel und unter der riesigen Kreuzung durch, nehme ich an. Da drüben irgendwo wird es sein, müsste es sein. Diese Richtung kann grob stimmen, genau kenne ich mich hier aber nicht aus und verstehe auch die Karte auf dem Handy nicht auf den ersten Blick. Ich rate etwas herum und gehe dann los.
Beim Gehen gucke ich vermutlich noch einmal aufs Handy, wie ich es oft mache, wie wir es wohl alle machen. Ich passe sicher nicht genau auf, ich bin ohnehin leicht abzulenken. Ich gehe aber, das merke ich doch, erstaunlich lange. Der Weg da unten nimmt kein Ende, denke ich zwischendurch. Wie groß kann denn bitte so eine Kreuzung von unten sein. Ich sehe endlich die nächste Rolltreppe, ich fahre nach oben – und stehe da, wo ich eben schon stand, als ich überlegte, welcher Weg hier zu nehmen sei. Ich sehe mich um und staune und sehe sicher einigermaßen verwirrt aus.
Es kommt mir vollkommen unmöglich vor, dass ich einen Kreis gegangen sein soll. Mein Verstand ist entschieden gegen diese Erkenntnis. Da unten war kein Kreis, ich kann mich nicht einmal an einen besonders kurvigen Weg erinnern. Bin ich nicht einfach durch einen geraden Tunnel gegangen, vielleicht war er auch etwas schräg im Verlauf, das will ich nicht ausschließen?
Wie kann ich dann hier sein, wenn ich doch dort sein müsste, drüben auf der anderen Seite der Kreuzung, wo jetzt aber niemand steht, der so aussieht wie ich? Wie geht das zu, ich verstehe es nicht. Ich verstehe für einen Moment gar nichts mehr, die Wirklichkeit wackelt bedenklich. So ähnlich muss sich geistige Umnachtung anfühlen, wenn Orte nicht mehr zum Erleben und Denken passen. Es ist unheimlich und verunsichernd.
In einer Fantasy-Story würde ich natürlich kurz darauf merken, dass es noch weitere Merkwürdigkeiten und rätselhafte Unstimmigkeiten an diesem Tag und in der näheren Umgebung gibt. Ich würde merken, dass dies und das nicht mehr zu meinen bisherigen Erfahrungen passt, dass mich vielleicht andere Menschen grüßen als sonst und dergleichen. Mir würde auffallen, dass ein Geschäft nicht mehr da ist, wo es gestern noch war, dass ein Kino anders heißt. Ich würde bald ahnen, dass, und es wird dann zwei, drei Abschnitte später immer deutlicher, ich eventuell nicht mehr in der gleichen Welt wie vorher bin. Es geht hier in mancherlei Hinsicht merkwürdig zu, das wird dann mit jedem Absatz immer klarer. Es ist etwas seltsam, auf dieser anderen und doch erst einmal gleich aussehenden Seite des Tunnels.
Da mal beim Plotten noch ein paar Ungewissheiten einbauen. Einige leichte Unklarheiten und auch Verweise auf körperliche Beschwerden, so dass es sich als Deutung auch anbieten könnte, dass ich zwischendurch gestorben bin und der Übergang in die andere Dimension dann also nur eine weitere U-Bahn-Rolltreppe in der Großstadt war. Eine weitere Rolltreppe, nach der man einfach irgendwie weitermacht, weitgehend wie vorher. In einem Szenario, dass dem bisherigen Leben verblüffend ähnelt, eine Art metaphysische Banalisierung des Endes.
Na, aber wer hat Zeit, Geschichten zu schreiben.
Ich habe aus Gründen der geistigen Sicherheit jedenfalls gut auf den Rest des Tages geachtet. Es kam mir aber alles um mich herum bekannt und normal vor, so gut wie jedes Detail war mir vertraut und wie erwartet. Also es war alles normal verrückt, es war so, so wie die Welt eben ist. Oder wie sie mir zumindest seit längerer Zeit vorkommt, denn früher, das denke ich manchmal, früher war mir alles noch vertrauter. Aber das wird eine normale Erfahrung sein, wenn man sich dem Rentenalter nähert. Ich glaube also, ich bin noch da, wo ich war. Und ich mache dann erst einmal von hier aus weiter.
Vielleicht gucke ich noch eine Weile etwas skeptischer, das mag sein.
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Klassischer Palmström-Moment: weil, so schließt er messerscharf, nicht kann sein, was nicht sein darf.
Ich habe Alice Munro vorgemerkt. Danke für den Tipp! Und schöne Feiertage
Palmström! Ja, die Sachen auch mal wieder lesen.
wunderbar beschrieben, ging mir am ernst-reuter-platz in berlin und auch in barcelona schon mal so- ich mag daher keine unterführungen mehr. manche erkenntnisse in der umschau kommen sind wirklich so, als wäre die zeit stehen geblieben.