So sei’s gemacht

Da ich zum Lesen keine innere Ruhe finde oder mit einiger Sicherheit prompt einschlafe, falls ich wider Erwarten doch einmal entspannt sein sollte, höre ich noch etwas mehr. Und zwar gehend, denn beim Gehen schlafe ich nicht ein, das ist praktisch. Ich suche dabei im Moment eher Themen ohne aktuellen Bezug, nicht noch mehr Erläuterungen des Ernstes der Lage. Die dosiere ich nun deutlich geringer.

Wie ich überhaupt nach eingehendem Studium der Bösartigkeit unserer Wirklichkeit auf einem Informationsniveau angekommen zu sein scheine, auf dem mir weitere Erklärungen nicht mehr recht weiterhelfen. Mit welcher Kompetenz und inhaltlicher Richtigkeit auch immer sie vorgetragen werden. Ich reichere dann vielleicht noch weiter Wissen an, aber es kommt mir mittlerweile kaum noch sinnvoll vor. Das Bild wird nicht klarer, die Sättigung nimmt nur immer weiter zu, bis die Farben wehtun. Bekannt aus jeder Foto-App.

Mir ist schon klar, dass die Lage da draußen ernst ist. Ich brauche das nicht mehr in hundert weiteren Beispielen, Aufgliederungen und detaillierten Vertiefungen gereicht zu bekommen. Es verbessert meine Position in dieser Lage nicht nennenswert. Das Niveau an Informiertheit ungefähr zu halten, das fühlt sich korrekt, pflichtgemäß und auch weiterhin sinnvoll an. Aber es noch zu steigern, das fühlt sich psychisch mittlerweile verdächtig an.

So etwas wie ein Stockholm-Syndrom gegenüber der Weltgeschichte vielleicht. Aber das Stockholm-Syndrom, so las oder sah ich neulich erst irgendwo, gibt es im wissenschaftlichen Sinne gar nicht, es ist nicht nachweisbar. Es wurde da vorgeschlagen, und da wird es dann fast schon wieder lustig, leider auf die gewohnt zynische Art unserer Epoche, den Begriff Stockholm-Syndrom durch „Appeasement“ zu ersetzen.

(Da ich beruflich gerade am Rande mit Künstlicher Intelligenz zu tun habe und in vielen Richtungen etwas herumteste, habe ich diese Frage nach dem Syndrom eben mit der wissenschaftlichen Such-App Consensus überprüft, hier ein Artikel der Technischen Hochschule Augsburg über das Tool. Das führte immerhin zu brauchbaren und wohl korrekten Ergebnissen ohne Halluzinationen, auch mal schön.)

Ich bin also, das wollte ich nur eben sagen, erstaunlich bereit für Ablenkungen. Oder aber für neue, womöglich sogar positive Wendungen. Sie kennen das vermutlich, man hat auch gewisse Erwartungen an das Storytelling beim Ganzen, wenn man ehrlich ist. Wie unsinnig und vergeblich diese Erwartungen auch sein mögen.

Etwas, bei dem ich nicht wahnsinnig konzentriert zuhören muss und ab und zu doch auf angenehm andere Gedanken komme, sind alte Reisebeschreibungen. Nicht immer sind sie besonders interessant, aber oft mit ansprechender Wortwahl und in schönem Satzbau vorgetragen, und immer werden sie mit etwas nebenbei anfallendem Geschichtswissen geliefert. So etwas geht gerade gut bei mir.

In der ARD-Audiothek finde ich etwa die Aufzeichnungen von Franz Grillparzer zu seiner Griechenlandreise 1843. Sie haben einen gelungenen Titel, ein Zitat, das in unserer Zeit längst der Kernsatz aller Online-Rezensionen geworden ist:

Das habe ich mir anders vorgestellt.“

Er ist oft seekrank in seinen Beschreibungen. Er mag vieles nicht, er verträgt vieles nicht, er würdigt kaum etwas. Es ist insgesamt ein Reisebericht mit bestenfalls mäßiger Begeisterung.

Weil ich über den Herrn Grillparzer eher wenig weiß, höre ich noch, ebenfalls in der ARD-Audiothek: „Franz Grillparzer – der österreichische Nationaldichter“, aus der Reihe Radiowissen.

Da ist dann aber schnell Schluss mit der Entspannung und der angenehmen Ablenkung von der finsteren Gegenwart. Spätestens bei seinem berühmten Satz „Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität.“

Man hat es alles gewusst, nicht wahr. Und wie lange schon, wie unangenehm lange schon.

Ein Aufkleber an einem Ampelmast: Nie wieder Faschismus

Auch die Zeile „Unsere Taten sind nur Würfe in des Zufalls blinde Nacht“ bleibt bei mir hängen und gefällt besonders. Sie ist aus diesem Gedicht, das ganz hervorragend anfängt mit: „Wo ist der, der sagen dürfe: „So will ich’s, so sei‘s gemacht?“

Das auch mal im Bürokontext exakt so unterbringen! Es klingt so viel besser als die langweilige Frage, ob die Stakeholder des Prozesses bereits identifiziert und gebrieft worden seien.

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Ein Kommentar

  1. Ich kann diesen einen Reisebericht sehr empfehlen, Johann Gottfried Seume „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“, der macht viel Freude.

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