I am a man of constant sorrow, wie einmal gesungen wurde. Die Wikipedia zum Song ist auch wieder interessant, stelle ich nebenbei fest und lese die Lyrics ebenfalls noch einmal nach. Es gibt von diesem Song selbstverständlich etliche Versionen, mein Favorit bleibt die von Tia Blake, die allerdings auch als Person wieder nachlesenswert ist – wie leicht man immer von allem abkommt. Kaninchenlöcher überall.
Constant sorrow jedenfalls, ich zähle mir meine Probleme auf. Ich überlege deren Verlauf und die Möglichkeiten der Entwicklung. Und schön ist das dann nicht, worauf ich dabei komme. Nicht einmal öffentlich beschreibbar ist das alles zu meinem großen Ärger, was doch womöglich auch eine Hilfe sein könnte. Ich denke mir also, es muss etwas anders werden.
Ich weiß mir aber gerade keinen Rat, was nun zu tun sein könnte. Da hilft mir das bemühte Overthinking nicht mehr weiter. Ich sehe die Optionen für den günstigeren Verlauf im Moment nicht. Das ist mir erstens unangenehm und zweitens ist es vielleicht, noch schlimmer, ein Hinweis auf einen Mangel an Kreativität. Und den möchte ich mir nun nicht nachsagen lassen. Nicht einmal von mir selbst.
Ich denke also weiter über Strategien für dieses und jenes nach. Ich komme auf keine.
Vielleicht gibt es auch tatsächlich keine passende. Was immerhin eine Option ist, die man nur in völliger Verblendung ignorieren sollte. Bei mir ist der Optimismus nicht das, was er so vielen ist, also volkstümlicher Religionsersatz.
Egal. Ich gehe ins Badezimmer, ich sehe in den Spiegel. Dort steht der Mensch, bei dem, mit dem, um den herum etwas anders werden muss. Ich rasiere mir kurzentschlossen den Bart komplett ab. Sensationell verändert sehe ich nun auf einmal aus, es ist überaus faszinierend. Ich starre den seltsam fremd wirkenden Menschen im Spiegel lange grübelnd an.
Neues Gesicht, neues Glück, denke ich mir schließlich, wo ich schon beim volkstümlichen Religionsersatz bin. Magisches Denken kann ich immerhin auch. Und wie gut ich das kann! Vielleicht kann ich es besser als andere. Umschulen auf Voodoo und Schamanismus, am Ende gibt es mehr Optionen, als man zunächst parat hat.
Den Söhnen fällt der fehlende Bart dann allerdings gar nicht auf. Den Kolleginnen auch nicht. Den Kollegen nicht, den Nachbarn nicht, auch der Herzdame und meiner Mutter nicht. Wieder so ein Selbstbild/Fremdbild-Ding, denke ich mir, die bekannte Sollbruchstelle im Denken. Oder aber ich bin dermaßen uninteressant – wie gesagt, man muss die negativen Varianten mitdenken, zumindest versuchsweise.
Ich habe kein Rasierwasser, daran bestand jahrelang kein Bedarf. Ich gehe welches kaufen. In einem echten Laden in der Innenstadt. Shopping wie früher. Die Düfte, an die ich mich noch erinnere, gibt es allerdings nicht mehr. Was sind das alles für kurzlebige Produktzyklen, und welches absurdes Alter habe ich denn schon erreicht.
„Kann ich irgendwie helfen?“, fragt mich eine rabiat überschminkte Verkäuferin. „Ja, wenn’s mal so wäre!“, sage ich knurrend, und sie guckt verständlicherweise leicht irritiert. Pardon. Ich sage ihr, was ich früher genommen habe, am Ende kann sie wirklich helfen. Sich wie ein normaler Mensch verhalten, auch einmal mitspielen, Regeln einhalten. Sie kennen das.
Ich frage also noch, was denn so ähnlich sei wie das, was ich früher genommen habe. Ich zähle das auch noch einmal auf. Das wisse sie nicht, sagt sie ohne jede Bedenkzeit freundlich und guckt ebenso leer wie desinteressiert. Aber sie habe hier … und dann zeigt sie mir einfach irgendwas. Quasi blind ins Regal gegriffen, eine Art Glücksspiel, Rasierwasserroulette. Der Fachpersonalmangel, denke ich, das ist der Fachpersonalmangel.
Ich lehne dankend ab und rieche ohne weitere Hilfe an den Testflaschen in den endlosen Regalen. Ich rieche an diesen Flaschen, bis mir etwas blümerant wird und mein Kreislauf sachte kippelt. Es ist unfassbar warm in diesem Laden, die Luft aromenschwer und betäubend. Ich finde schließlich etwas, das knapp passen könnte. Diese Marke hat auch schon mein Vater geschätzt, fällt mir beim Blick auf die Verpackung wieder ein. Traditionen, denke ich, Traditionen sind ebenfalls wichtig. Auch einmal in einer Spur bleiben.
Wie hätte mein Vater wohl meine aktuellen Probleme gelöst? Mein Vater ist sämtlichen Problemen dadurch begegnet, dass er sich unermüdlich in Arbeit verbissen hat. Terrier nichts dagegen, aber eigentlich ein One-Trick-Pony, wenn ich schon bei Tiervergleichen lande. In jedem Familienroman, so überlege ich weiter, müsste ich aber auf eine andere Variante als er verfallen. Da findet der Wechsel in fast allen Aspekten doch so gerne von Generation zu Generation statt. Siehe auch Buddenbrooks etc., da kann ich sogar heimatverbunden weiter anlegen.
Ich gehe wieder nach Hause. Ich lege mich etwas hin, ich arbeite nicht, kein Stück. Das ist immerhin neu. Zumindest familiengeschichtlich gesehen. Also ist es vielleicht sogar richtig, ist es wenigstens im Sinne des Aufbaus einer guten oder passablen Geschichte.
Auch wenn man seine Probleme nicht zu lösen vermag, kann man sich dennoch weiterentwickeln, denke ich mir. Und im Einschlafen kommt mir dies sogar wie ein vergleichsweise guter Gedanke vor. Außerdem rieche ich gut. Wenn auch wildgemischt und etwas zu intensiv, von zu vielen Testsprühstößen direkt getroffen.
Aber immerhin: Ich habe etwas verändert.
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Oh, Danke! Ein guter Grund, mal wieder “ O Brother, Where Art Thou?“ zu schauen und damit auch wieder die Soggy Bottom Boys zu geniessen. Nicht, dass ich den Film nicht schon x-mal gesehen habe. Aber so ist das halt mit Kunstwerken 😉
Glückwunsch! Ohne Bart haben Sie mir besser gefallen.