Im Nebel ruhte noch die Welt

Es ist Erntedank, sagt die Kalender-App, und sie wird es immerhin wissen. Ich verbinde wenig mit dem Datum, es hat keine Tradition in meiner Familie, weder in meiner Kindheit noch in der der Söhne. Ich lese routinemäßig und stets bemüht weiterbildungswillig etwas zum Fest nach und sehe, dass die beiden großen christlichen Kirchen den Feiertag nicht immer am gleichen Tag begehen. Da ist eine Woche Abstand, das habe ich nicht gewusst. In diesem Jahr feiern sie beide heute, Terminzauberei.

An den freien Tagen auf dem Land ist mir kein Hinweis auf Erntedank aufgefallen, nirgendwo, und ich bin mir nicht sicher, ob das früher nicht anders war. Wobei dieses Früher nicht allzu lange her ist. Aber wie immer – je länger ich darüber nachdenke, desto unsicherer werde ich. Wer kann schon seinen Erinnerungen trauen.

Für die Ernte im eigenen Garten, ich notierte es bereits, können wir uns schnell und wie nebenbei bedanken, es gab fast nichts. Das kann man als Gärtnerin so abtun und auf bessere Jahre hoffen. Auf wieder ertragreichere Sommer mit etwas mehr als drei Heidelbeeren, mit vielleicht wenigstens einem Kürbis und nach Möglichkeit ohne sterbende Obstbäume.

Da ist im weiteren Herbstverlauf noch etwas zu ersetzen, fällt mir dabei ein. „Pflichtgemäß Pflaume pflanzen“ muss ich in den Kalender mit den To-Dos übertragen.

Am Sonnabendmorgen fuhr ich auf dem Dorf in Nordostwestfalen mit dem Auto zum Brötchenholen. Zu Fuß wäre ich stundenlang unterwegs gewesen, die Option fiel also flach, selbst für einigermaßen leidenschaftliche Fußgänger wie mich. Ich fuhr los, sobald der Laden aufmachte, im Nebel ruhte da noch die Welt. Und diese halbe Stunde, in der ich da unterwegs war … ich weiß nicht recht, ob ich überhaupt schon einmal durch weißes, wolkiges Wabern derart wenig Sicht hatte. Es war beeindruckend, und es war auch etwas erleichternd, dass mir kaum anderen Autos oder größere Wildtiere begegneten.

Eine traumschöne Fahrt durch eine erheblich veränderte Welt war es, durch ein Herbstmorgenbilderbuch. Es war nur, wie der Kunde vor mir beim Bäcker fröstelnd zur Verkäuferin sagte, „etwas frisch am Ärmel.“ Drei Grad, es fiel in der Tat überschaubar aus. Ich war wieder nicht passend angezogen dafür, das Problem verfolgt mich in diesem Herbst offensichtlich. Zitternd und klappernd am Steuer gesessen und auf die Heizung gehofft, ein weiteres erstes Mal in der Saison.

Ich habe dann gleich nach dem Familienfrühstück noch eilig versucht, ein wenig von der schnell schwindenden Stimmung draußen einzufangen. Da stieg der Nebel aber schon und Wald und Wiesen träumten bereits nicht mehr, rührten sich schon etwas, belebten sich bereits.

Aber sonst … der Ausblick über die teils abgeräumten Äcker war noch recht dicht am ollen Mörike. Diese zwei, drei Stunden waren so nah an seinem Septembermorgen, wie sie nur sein konnten, wenn es auch schon Oktober war:

„Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.“

1827 schrieb er das. Es kommt in der richtigen Gegend und zur richtigen Stunde also immer noch hin, wie dann der Rest des Vormittages auch in aller Klarheit bewies. Fallende Schleier, blauer Himmel unverstellt, warmes Gold und alles, die volle Punktzahl wurde einwandfrei erreicht.

Für die Mitglieder des Freundeskreises deutsche Naturlyrik ist so etwas eine Art Hauptgewinn, und so oft gibt es den gar nicht.

***

Lebensbejahende Musik habe ich beim Spaziergang durch diese Nebelwelt gehört, denn es gibt ein neues Album von Dan Reeder.

And when I die

don’t bury me

just drop my tombstone right on top of me

with my arms and legs sticking out

like that cartoon we’ve all seen

and make it say

he took on this hopeless world.

***

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Greifvögel und Drachen

Gehört: Zwillingsforschung – Was alles in unseren Genen steckt, aus der Reihe „Das Wissen“. Das war interessanter, als ich zunächst dachte, und es ist für jeden etwas dabei. Etwa für Eltern: „Sie müssen sich schon Mühe geben, etwas falsch zu machen.“ In dieser Deutlichkeit hört man entlastende Sätze doch selten, das ist auch einmal nett. Es geht da viel um Begabungen und Neigungen, und es heißt weiter: „Wenn sie ein Minimum zur Verfügung stellen, dass die Kinder die Möglichkeiten haben, sich zu entfalten, machen die Kinder schon ihr Ding.“

Nebenbei gelernt, dass es im Stammbaum der Bachs 50 Musikerinnen und Musiker gab, was für eine üppige Zahl.

Ich hatte vor den eigenen Kindern eher wenig Kontakt mit kleinen Menschen, und ich weiß noch, dass ich in den ersten Jahren überrascht war, wie charakterlich ausgeprägt sie geliefert werden. Mir war das nicht bekannt. Wie sehr sie bereits Persönlichkeit sind, auch wenn sie gerade erst angekommen sind. Und wie sich das dann durchzieht, selbst gegen Widerstände, mit welcher Vehemenz sich Neigungen und Abneigungen durchsetzen können oder sogar müssen.

Und dann noch einmal rückblickend in mein Selbstbild eingebaut, dass es bei mir also auch so war, warum sollte es anders gewesen sein. Eine Art Perspektivverschiebung.

Für den Freundeskreis Neurodivergenz ist in der Sendung auch kurz etwas dabei. Außerdem für Menschen, die sich für traditionelle Wahlergebnisse in gewissen Gegenden interessieren, für die Lust am Autoritären oder an liberaleren Einstellungen etwa. Auch ein faszinierendes Thema. Aber bloß nicht weiter einsteigen, wer hat Zeit für das alles, nur den einen Kernsatz noch eben mitnehmen:

„Man muss sehr lange suchen, um etwas zu finden, das nicht erblich ist.“

***

Ansonsten gab es noch einen Tag auf dem Land, mit Sonnenschein, korrekter Oktoberstimmung und allem. Dieser Gegend steht der beginnende Herbst ausgesprochen gut, aber für welche Gegend würde das nicht gelten.

Frühherbstlich anmutende Bäume an einer Landstraße

Die Maisarmeen stehen noch stramm auf den Feldern und sehen allzeit grimmig abwehrbereit aus. Die Felder mit den Sonnenblumen aber wirken, als würden da Tote immer weiter unheilig paradieren. Die riesigen Stauden haben jetzt etwas Zombiehaftes, mit ihren abgestorbenen, hängenden Köpfen, ein Wiedergänger neben dem anderen, die letzten Divisionen. Kopflos, aber aufrecht.

Über den bereits abgeernteten Feldern rüttelnde Greifvögel beträchtlicher Größe, die spähen nach Mäusen und Hasen. Ich habe es neulich doch geahnt, dass noch Vögel dieser Familie im Text vorkommen werden. Aber erkennen, nein, erkennen kann ich sie nicht, sie sind zu weit oben, zu fern. Wie Drachen stehen sie am Himmel, ich stehe mit dem Kopf im Nacken darunter, und dann fällt mir ein, dass der verstorbene Großvater der Söhne auf genau diesem Feld einmal Drachen mit ihnen hat steigen lassen. Etwa zur gleichen Zeit im Jahr, vor allerdings vielen Jahren.

Am Rand der Landstraße einige Rabenkrähen, die sich um die kleinen Opfer des Verkehrs kümmern. Ernst und sorgsam arbeiten sie das ab, in schwarzer Bestatterkluft.

Ein letzter Apfel an einem kahlen Zweig

An den Obstbäumen entlang der Straße ins Dorf hängen noch letzte Äpfel und Birnen. Unter ihnen fault es, aber auf den saftig vergehenden Stücken am Boden wimmeln nun keine Wespen mehr herum. Wir sind schon weiter.

Nachher zurück nach Hamburg, weiter im Großstadtprogramm.

Auf einem Weg an Feldern entlang steht mit Kreide: "Auf geht's"

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Oktober, fortschreitend

Unsere Korrespondentin in Frankreich schreibt: „Ich bin umzingelt vom Oktoberfest.

Da kann ich anlegen, das ist auch aus meiner Sicht richtig beobachtet. Da ändert sich gerade etwas und wir sind live dabei. Schon in den letzten Jahren deutete es sich an, jetzt wird es deutlicher. Es laufen mir auch in Hamburg immer mehr Menschen über den Weg, die sich durch Textilsymbolik klar ausgedrückt in Oktoberfeststimmung befinden oder aber in diese hineinwollen. Lederhosen, Dirndl und andere Trachtenversatzstücke als, nun ja, Verkleidung, anders kann man es nicht nennen. Dazu das stete Bemühen um Bier, es wird teils in größeren Mengen mitgeführt.

Die Zubehörgewandungen fallen teils auf den ersten Blick als ausgefeilt und teuer aus, teils auch als billig und in Grabbeltischoptik. Das Kostüm der letzten Minute, nimm diesem Hut mit Plastikfeder. „Morgen ist Oktoberfest, da brauche ich noch etwas Passendes“, und alle wissen dann, was man da braucht. Man kann es aufzählen, so viele Teile sind es gar nicht. Und wie bei den unsäglichen Junggesellenabschiedsfeiern gehen die Gruppen gerne in uniformen Kostümierungen, damit das Rudel als solches sofort zu erkennen ist.

Ich sehe Grüppchen in diesen Outfitvarianten beim Einkauf. Sie erwerben wie vorgeschrieben die Waren aus der blauweiß verzierten Sonderproduktpalette Oktoberfest beim Discounter. Sie werden vermutlich später Bierzeltgarnituren damit bestücken und es passende Dekoration nennen. Es sieht aus wie in einem Werbefilm, es ist aber echt und, das kommt mir wichtig vor, es sieht keiner mehr hin. Auffällig ist es nicht mehr, auch in Hamburg nicht, wenn zur Oktoberfestzeit Grüppchen im gleichzeitig reduzierten und überdrehten, also eigentlich karikaturhaften Bayernlook durch die Straßen gehen. Es ist nichts Besonderes mehr, nur ein weiterer Termin im Partykalender der Stadt.

Es wird eine deutliche Steigerung der Oktoberfestkopien in Betrieben, Firmen, Büros, Sportvereinen, Freundeskreisen, Altersheimen und was auch immer geben. Originell und seltsam abwegig ist so etwas nicht mehr. Aber lange her ist es nicht, dass das bei uns so war.

Ein weiteres Fest mit karnevaleskem Zubehör also, mit Kostüm und Dekoration. Siehe dazu auch den Hamburger Schlagermove, bei dem die Symbolik längst ähnlich präzise festgelegt ist, bei Musik, Kleidung, Zubehör, Alkohol etc. Diese Parallelen können einen begeistern, wenn man sich für Alltagskultur interessiert.

Offensichtlich wollen wir, also wir im Mehrheitssinne, so etwas haben und machen. Wir basteln uns neue, bunte Traditionen für alle, und wie schnell das geht. Bei den Söhnen wird es dann bereits ein „Das war schon immer so“ sein.

***

Wir sind ansonsten ins Heimatdorf der Herzdame gefahren. In Niedersachsen sahen einige Stellen der Landschaft immerhin nach althergebrachter Oktoberoptik aus, wenn ich schon bei Traditionen bin. Als die Sonne kurz durchkam, war es hier und da auch nicht ohne jede Schönheit. Man konnte die Gegenden hinter den überall fahrenden Treckern auf den Landstraßen auch in Ruhe und mit Muße betrachten.

Besonders die Birken sind dabei zu loben. Ihr Edelmetallflitterlook sticht heraus und leuchtet auffallend, auch streuen sie die Blätter teils schon vorbildlich in die Bilder. They drift by the window, diese Blätter, fast könnte man beim Anblick die Musik von damals auflegen.


Wir wollen uns den grauen Herbst vergolden, ja, vergolden.

Wobei wir dem Herrn Storm eine Strophe des Herbstliedes rot anstreichen müssen, sie hält der Klimawandelrevision heute nicht mehr stand:

„Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt
So gänzlich unverwüstlich!“

Ich denke, wir habe mittlerweile gut verstanden, dass sie sehr wohl verwüstlich ist. Und wie wörtlich man das nehmen kann.

Ein Schulwegschild an einer menschenleeren Landstraße

Alte und ramponiert aussehende Kaugummiautomaten neben einer zugewachsenen Sitzbank an einer Dorfstraße

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Die Heiz- und Nussperiode

Ich habe versehentlich ein neues Buch angefangen. Im weiteren Sinne hat Anke Gröner Schuld daran, die es irgendwann empfohlen hat, hier war das. Mit einer knappen, aber doch eindringlich lobenden Erwähnung hat sie es da als beeindruckendstes Buch des Jahres 2023 benannt. Ich habe das Buch damals vorgemerkt und verwunschzettelt. Ich sage es ja, Blogs wirken. Ein Mensch aus dem so überaus freundlichen Publikum hier ist im ebenfalls weiteren Sinne mitschuldig, das Buch wurde mir geschenkt, dafür noch einmal Dank.

Im engeren Sinne wollte ich allerdings nur eben etwas aufräumen, wollte ich nur nebenbei die Bücher auf dem Nachttischstapel ein klein wenig umsortieren und wieder pedantisch gerade ausrichten, las ich dabei wie versehentlich kurz in den Anfang dieses Buchs hinein. Blieb dann prompt hängen, setzte mich wohl auch ein wenig, las weiter und weiter, vergaß das Aufräumen – und da ging sie hin, die Konsequenz in der Abfolge der Lektüre und der geregelten Buchauswahl, die Selbstdisziplin auch und überhaupt die Ordnung in der Beschäftigung. Hat sich doch wieder ein Werk vorgedrängelt, ist es doch wieder alles ein furchtbares Durcheinander.

Anatol Regnier, „Jeder schreibt für sich allein“, über Autorinnen und Autoren im Dritten Reich. Das Thema passt zum einen gut, fast perfekt hinter Klaus Manns Wendepunkt, das Buch hat zum anderen aber auch einen starken Zug in die weiteren Kapitel, einen geradezu spannenden Anfang, wenn man bei dem Thema von Spannung überhaupt reden mag, und so einen Tonfall, der einen trägt und lockt … ich blieb jedenfalls hängen. Und das ist gut so.

Das Buch "Jeder schreibt für sich allein" von Anatol Regnier

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Im Fachblog für Bewölkung wird gerade nachgelegt.

Ich kann da kaum mithalten. Vielleicht müsste ich öfter auf Türme steigen, um mehr Wolken über Hamburg abbilden zu können. Das dann auch einmal vornehmen, die Petri-Kirche ist immerhin nebenan und ich war seit Ewigkeiten nicht mehr dort oben.

Wolken über dem Ruderclub Allemannia an der Außenalster

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Am Dienstag wurde mein Home-Office zum ersten Mal zwischendurch von der Überlegung unterbrochen, ob das fortschreitende Frösteln noch durch einen zweiten Pullover gerichtet werden konnte oder ob doch schon die Heizperiode begonnen werden musste. 19 Grad am Schreibtisch, dann 18 Grad, Tendenz flott fallend. Ich beobachtete das wie ein Kapitän, der die Instrumente auf der Brücke ansieht, und übertrug die Daten dann ebenso ins Logbuch, also ins Blogbuch. Die Hand am heißen Kaffeebecher, kühle Zahlen auf dem Bildschirm und draußen der Dauerregen. Dazu der nasse Eichelhäher auf dem Balkongeländer, der das mit der Futterperiode auch noch einmal ansprechen wollte, assistiert von einer jungen Krähe: „Wir wollen mit ihnen über Nüsse reden.“

Aber selbstverständlich habe ich noch keine Heizung angedreht. Es macht zu wenig Spaß, wenn man sofort nachgibt. Sich erst etwas herausfordern, sich erst noch etwas vertrösten, dann schließlich zögerlich belohnen.

Affektkontrolle kann so bereichernd sein.

Eine absterbende Blüte in Großaufnahme, hängende Blütenblätter

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Beim NDR ein Beitrag wie von mir bestellt. Zum einen hatte ich das Thema gerade erst mit der Herzdame. Als wir vor ein paar Tagen, da war es noch Sommer, mehrere Stadtteile in kurzer Zeit passierten und die Temperatur-Unterschiede uns einigermaßen krass vorkamen. Als hätten wir zwischendurch die Stadt und die Klimazonen, wenn nicht gleich den Kontinent gewechselt und nicht nur drei, vier Stationen mit der S-Bahn passiert. Zum anderen hatte ich kurz darauf einen Call im Home-Office, mit anderen Menschen aus Hamburg, und es war schon an der Kleidung offensichtlich, dass wir diesen Tag grundverschieden wahrgenommen haben. Man sah, dass die Wohnungen deutlich abweichend temperiert sein mussten, T-Shirt und Rollkragen auf den Bildchen im Display.

Und das ist tatsächlich so. Die Temperatur hängt stark vom Stadtteil ab: „An heißen Tagen trennen Altona-Nord und Blankenese nicht nur acht Kilometer Distanz, sondern auch acht Grad Celsius.“

Das ist sogar noch ein wenig mehr, als ich angenommen habe. Der vermutlich eher klein ausfallende Freundeskreis Hammerbrook wird den seltsamen Stadtteil im Text drüben prominent erwähnt finden, als innerstädtischen Backofen. Wobei unser kleines Bahnhofsviertel in erwartbarer Weise als Stadtmitte nicht viel besser wegkommt.

Im Bild schön passend die lebensbejahende Bebauung im Backofengebiet.

Dunkle Bürofasssaden am algengrünen Südkanal

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Mit Übermut und Spontaneität

Es kam in den letzten Tagen der erfreuliche Ausschüttungsbrief der liebenswerten Einrichtung VG Wort, der vermutlich beste Brief des Jahres. Ich könnte mir einen materiellen Wunsch erfüllen, so erfreulich ist die im Schreiben benannte Summe. Einfach so könnte ich das, wie ein Mensch mit Übermut und Spontaneität. Also wenn ich denn einen Konsumwunsch hätte, dann könnte ich das. Aber ich scheine gerade nichts so dringend zu brauchen, dass der Erwerb eine echte, große Freude wäre – und wie toll ist das denn bitte, da muss man auch erst einmal hinkommen.

Ein billiges Vergnügen im Alltag – an Schaufenstern entlanggehen und permanent denken: „Brauche ich nicht.“ Befreiend fühlt sich das an.

Danke für’s Lesen, auch an dieser Stelle, diesen Brief hätte es sonst nicht gegeben.

Der Bug der Susebek an der Binnenalster, Anleger Jungfernstieg

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Ein Sohn gibt sich ansonsten seit Tagen verdächtig grippal. Die anderen Familienmitglieder umkurven ihn bemüht weiträumig, was in einer kleinen Wohnung nicht eben einfach ist, wir können uns hier nicht in den Westflügel zurückziehen. Wir warten also auf die Ansteckung, man wird sie am Ende doch nicht vermeiden können. Auch das ist wieder ein Saisonbeginn, diesmal immerhin passend zum Kalender. Da muss man sich schon freuen, etwas Ordnung in dieser Welt.

Nachts einmal aufgewacht und gefroren, gleich einen Verdacht gehabt. Es war dann aber nur das Wetter, kein Virus, die Heizperiode rückt in unerwartet großen Schritten näher. Regen auf den Fensterscheiben hörte ich in dieser wee small hour, und wie viel davon, schwallartiges Erbrechen der Wolken über Hamburg. Morgens beim Aufwachen dann erst einmal kurz überall hingefühlt. Halsnasenohren, Gelenke, Haut und alles, hat es mich schon erwischt, fühlt sich etwas falsch an … nein, heute wird es noch gehen.

Durchatmen, weitermachen.

Nassgeregnete Stühle und Tische in der nächtlichen Außengastro

Verblüffend übrigens, was für Aufnahmen so ein Smartphone mittlerweile bei schwachem Licht hinbekommt. Ich schaffe meine Spaziergänge kaum noch bei Tageslicht, Hamburg bei Nacht wird auf den Bildern hier in der dunklen Jahreszeit eine Rolle spielen müssen.

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Der nächste und leider letzte Band der unterhaltsamen Tagebücher von Manfred Krug ist erschienen: „Ich beginne wieder von vorn“. Das Hörbuch wurde erneut hervorragend einfühlsam gelesen vom Sohn Daniel. Dessen Stimme dermaßen nach seinem Vater klingt, dass es einem nach einer Weile ununterscheidbar vorkommt.

Für geschichtlich interessierte Menschen eine unbedingt empfehlenswerte Reihe, diese Tagebüchersammlung. Im Moment ist er im Jahr 2000, und wie schon in den letzten Bänden kommen Namen vor, die ich merkwürdig gründlich abgelegt habe. Manfred Kanther etwa. Ich höre seinen Namen, ich bin überrascht – ach ja, den gab es auch. Wie entlegen weit weg kann das Hirn manche Figuren und Umstände archivieren, wie tief im Keller der Erinnerung liegt mein Wissen um diese Jahre? Helmut Kohl und der Bimbes, all das, ewig nicht mehr daran gedacht. Hundert Jahre muss es mindestens her sein und es war eine Epoche, mit der ich mich kategorisch nicht mehr zu beschäftigen scheine. Auch interessant.

Dabei gibt es selbstverständlich wieder Bezüge zur Gegenwart, und nicht zu knapp. Manfred Krug notiert über Sarah Wagenknecht: „Die blöde Sarah Wagenknecht, die in allerlei Talkshows ihre Sehnsucht nach dem schweinemäßigen DDR-System nicht verbergen kann.“ 

24 Jahre ist es her, dass er diesen Satz geschrieben hat.

Er ist ansonsten fast durchweg irritierend zufrieden mit sich und seinen Leistungen. Immer wieder stolpere ich darüber und kann mich kaum entscheiden, ob ich es beneidenswert, nur beeindruckend oder doch eher unangenehm finden soll. Er ist überzeugt von sich als Schauspieler, als Autor, als Musiker, als Denker, als Mensch. Er ist oft geradezu begeistert von sich selbst und findet sich sympathisch. Eine Gefühlslage, die mir in dieser Ausprägung vollkommen unbekannt ist.

(Die Geschichte dieses Auftritts kommt ausführlich in dem Buch vor)

Es gibt humorige Passagen, da klingt seine Haltung sich selbst gegenüber nicht abstoßend, eher anziehend. So ein kumpelhaftes Verhältnis zu sich selbst zu haben, das ist also auch eine Möglichkeit. Ein für mich faszinierender, schwer vorstellbarer Gedanke – mit sich so grundlegend einverstanden zu sein.

An einem Fallrohr steht das Wort "Love"

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Stühle unter Regenschauern

Einer der öffentlichen Bücherschränke hier ist eine ausgediente Telefonzelle, in die man einige Regale montiert hat. Ihr Geruch entspricht nicht mehr dem, an den wir uns aus dem letzten Jahrhundert erinnern, vermutlich weil die hängenden Telefonbücher mit ihrem leicht süßlichen, seltsam fahlen Papieraroma fehlen. Aber wenn man an einem frühen Herbstmorgen die Telefonzellenbücherschranktür öffnet, gibt es eventuell dennoch einen starken sensorischen Reminder an vergangene Jahrzehnte. Nämlich das gruselige Gefühl auf der Haut, wenn man beim Betreten einer Telefonzelle durch ein in der Nacht entstandenes Spinnennetz geht. Wenn sich dieses einem sachte ums Gesicht legt und man fein verschleiert und bei aktivierten Urinstinkten panisch hinspürt, ob etwas irgendwo auf einem herumkrabbelt. Sehr präsent werden sie einem dann wieder, die Telefonzellen von früher. So vollgeraucht, verdreckt, versponnen, versifft und ungemein wichtig, wie sie für uns waren.

Eine meditative und entspannende Übung für Menschen aus dem letzten Jahrhundert ist es übrigens, sich noch einmal in Ruhe vorzustellen wo in den Gegenden, die man gut von früher kennt, damals die Telefonzellen standen. Ein Bild der Stadt, das man nach und nach anreichern kann.

Der Bücherschrank steht neben dem katholischen Dom und einigen kirchlichen Einrichtungen, etwa einem Seniorenheim, der Bistumsverwaltung etc. Auf den Regalen des Schranks sehe ich Ratzingers aussortierte Schriften neben denen von Karl Marx und Konsalik. Da wächst etwas zusammen, in den Buchreihen dort. In der ausgedienten Zelle die ausgedienten Meinungen vergangener Debatten. Daneben noch ein Schwung aktueller Küstenkrimis und der in jedem Bücherschrank unweigerliche Mankell mit gleich mehreren Titeln. Dazu die ebenso erwartbare Pilcher und der ewige Hundertjährige, der aus dem Fenster … diesmal steht er da in zwei Exemplaren. Er kam auch schon dreifach vor.

Welche Gesellschaft bildet das ab und möchte man das wissen. Aber wo ich schon dabei bin, immer an die große Chronik denken – rechtslastige Bücher kamen in den Bücherschränken bisher kaum vor, nur einmal ein vereinzelter Sarrazin. Woraus kaum etwas abzuleiten sein wird, ich stelle es nur eben nebenbei fest. Die entsprechenden Bestseller sind noch zu frisch, um dort zu stehen. Die kommen in zehn, zwanzig Jahren dazu.

***

Draußen sehen wir nun die Schlussphase der Außengastro, nasses Gestühl unter dem nur zögerlich fallenden Herbstlaub. Eng zusammengedrängte Stühle unter Regenschauern. Klatschnasse Sonnenschirme und die bereits abgebaute Gastlichkeit.

Tisch und Stühle unter nassem Herbstlaub

Demnächst werden die Sommerrequisiten wieder irgendwo eingelagert. Es verbleiben im Straßenraum die üblichen zwei, drei Stühle neben den Eingangstüren, die Stammplätze für die Winterraucher in den dicken Daunenjacken.

Zusammengeklappte, weggestellte Tische der Außengastro

Die Fußwege im Viertel werden wieder leerer, breiter und luftiger. Das soll mir recht sein, es gibt bald mehr Platz für mich und meine ausladenden Einkäufe, ich muss endlich keine aperolseligen Touristengrüppchen mehr knurrend umkurven wie der einheimische Nörgelrentner vom Dienst.

Lassen Sie mich durch, ich habe eine Familie zu versorgen.

Zusammengestapelte Stühle der Außengastro

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Wünsche, Ziele und Termine

Den Wendepunkt von Klaus Mann am Sonntag durchgehört. Immer weiter durch die Kapitel, die immer furchtbarer werden, immer tragischer, und es gibt über die ganze Strecke nirgendwo einen Mangel an aktuellen Bezügen. Man hört oder liest ein paar Absätze, man macht die Nachrichten an und es passt.

Haben wir nicht gewusst, dass Österreich fallen wird, und sind dennoch wie vor den Kopf geschlagen?“

Aber gut, es war ein etwas anderer Zusammenhang damals, 1938 war kein Wahlergebnis gemeint.

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Zur Soziologie des Alltags: Nils Minkmar über die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen.

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Wir winken Kris Kristofferson, einem der ganz großen Songschreiber, der nun nichts mehr zu verlieren hat. Hier ein Nachruf im Guardian.

Gehört: Eine neue Folge Radiowissen über Tschingis Aitmatow und Kirgisien: Nomaden, Jurten und Kolchosen. Mit einer feinen Querverbindung zur neulich von mir besuchten Ausstellung in Lübeck über Thomas Manns Zauberberg. Die attraktiven Züge der Hauptfigur Clawdia Chauchat werden, und ich hoffe, mich richtig zu erinnern, im Roman auch als kirgisisch bezeichnet.

Apropos Aitmatov, ich war in der letzten Woche zum ersten Mal in der neuen Rathauspassage. Die so neu nicht mehr ist, ich brauche oft eine beklagenswert lange Anlaufzeit bei neuen Projekten und Adressen in dieser Stadt, ich komme zu nichts. Ich war auch als vielleicht letzter Hamburger noch nicht in dieser modernen Elbphilharmonie da unten am Hafen.

Aber da ich mich gerade kulturell bemühter und jedenfalls umtriebiger gebe, komme ich womöglich in den nächsten Monaten dazu. Man hofft so vor sich hin.

Die Rathauspassage ist ein soziales Projekt mit Flächen in bester Lage. Ich war angenehm überrascht, dass das Angebot im Antiquariat dort ansprechend und auch günstig war. Da demnächst mit mehr Zeit hingehen, da demnächst einige Bücher abräumen. Etwa die Erzählungen von Aitmatow. Die hätte ich gleich mitnehmen sollen, wie ich hinterher dachte und mich ärgerte, die standen da bereit für mich.

Die Rathausarkaden und die Schleuse in der blauen Stunde

Der nächste Monatswechsel steht bevor. Ich habe einen ersten Blick in den schmalen Band mit den Oktobergedichten geworfen (aus der empfehlenswerten Reclam-Reihe), wie ein feingeistiger Prepper. Lyrisch gesehen entspricht die Lage aber dem, was ich neulich bei den Äpfeln erwähnt habe: Es gibt eine Abweichung von zwei oder eher schon drei Wochen zum althergebrachten Rhythmus. Wir sind bezogen auf die lyrischen Bilder noch Anfang September, denn das Obst geht vor, etliche Natureindrücke aber gehen nach, die assoziativen Verbindlichkeiten gehen überall baden.

Es ist ein großes Durcheinander da draußen, siehe auch die allgemeine Weltlage. Zu der wir uns am Wochenende im Altonaer Museum außerdem die Ausstellung World Press Photo 2024 angesehen haben. Hier der Museumslink, hier ein Bericht im NDR dazu, die Ausstellung läuft bis 14. Oktober.

Es war zu voll dort für meinen Geschmack, man musste einen langen Hals machen, um die Beschriftungen neben den Bildern lesen zu können. Die alternde Gesellschaft rückte auf und zusammen, so dicht es nur ging, man setzte Lesebrillen auf und ab und suchte allgemein nach der einzig richtigen Entfernung zur Schrift auf den kleinen Erklärtafeln, einen Schritt vor und zwei zurück.

Es interessiert also, was da gezeigt wird, und so soll es sein.

Nimmt man die gezeigten Aufnahmen als Abbild der Gesamtsituation, kann man seine Stimmung gleich wieder tagelang vergessen, das rauscht dann so ab. Was man da ausgestellt sieht, es ist in vielen Fällen nicht eben leicht zu betrachten. Man fragt sich vor manchen Bildern auch, wie man es aushalten kann, so etwas zu fotografieren, und man denkt sich vielleicht nebenbei: Ich könnte das ja nicht.

Aber wer weiß schon, was man alles könnte.

Eine Bildstrecke in der Ausstellung zeigt die ersten Klimaflüchtlingen in den USA. Dazu hatte ich vor längerer Zeit einen Reportage-Podcast (52 Minuten) verlinkt, das war dieser hier, und er ist sicher immer noch hörenswert. Eine kaum bekannte Geschichte, glaube ich. Aber doch eine, die im Geschichtsbuch landen könnte, am Anfang eines längeren Kapitels über unsere Zeit und das Klima.

***

Außerdem waren wir erstmalig im Loki-Schmidt-Garten, wo es wegen der Norddeutschen Apfeltage ebenfalls zu voll war. Der Mainstream des Hamburger Veranstaltungskalenders war an diesem Wochenende gut besucht, wir können das bezeugen. Wir waren dabei und darunter, die Mitte sind wir.

Zwei gläsnerne Pyramiden im Loki-Schmidt-Garten

Eine leere Bank im Loki-Schmidt-Garten vor allmählich dezent herbstlich aussehender Umgebung

Ein von Entengrütze bedeckter Bach im Loki-Schmidt-Garten

Dieser Garten hat mir sehr gefallen, er ist größer, als ich dachte und es war natürlich, aber das hatte ich schon geahnt, ein absolutes Unding, den nicht zu kennen. Da also demnächst auch noch einmal hin. Wenn das Laub endlich bunter wird, in drei, vier Wochen oder so, wenn der goldene November kommt.

Wir basteln uns Wünsche, Ziele und Termine.

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Es geht schon wieder

Ein erster Herbststurm, etwas unbeholfen und tapsig, eher noch kindlich verspielt und ungeübt, sah kurz in der Stadt vorbei und kühlte sie um einige weitere Grade ab. Er verbog auch einige Regenschirme und durchnässte die Passanten in den Fußgängerzonen mittels einiger hastig hingeworfener Schauer. Schubste hier und dort etwas von den Balkonen, einige kleinere Blumentöpfe zerklirrten auf den Fußwegen neben umgestürzten Werbeaufstellern vor Läden. Mit etwas Mühe verschob er auch einige Stühle und Tische in der Außengastro um wenige Zentimeter, spielte außerdem unkonzentriert mit dem herumliegenden Laub in den Parks und verpasste Alster, Bille und Elbe nebenbei einige flüchtige Wellen. Nichts davon wirkte ernstgemeint und entschlossen.

Leere Stühle und Tische in der Außengastro, Regentropfen darauf

Rauschte dann schnell wieder ab, dieser Sturm, und murmelte im Verwehen noch etwas von großen Brüdern und später, es sollte sicher bedrohlich klingen. Na, man wird es dann ja erleben.

Die Menschen in den Fußgängerzonen nahmen die Kapuzen wieder ab und schlossen die Schirme. Sie öffneten die Jacken, sahen noch einmal nach oben und sagten, was sie nach dem Regen immer sagen: „Geht schon wieder.“

Die Elbe unter grauem Himmel, am Bildrand das Kreuzfahrtterminal

Ich las weiter und zufrieden in „Es waren Habichte in der Luft“ vom Lenz. Es liest sich umso besser, wenn draußen wieder ein Wetter stattfindet. Währenddessen meldete die Herzdame, die trotz Wind und allem in unseren Garten gefahren war um sich mit Brombeeren anzulegen, von dort mit Bildbeweis einen toten Bussard. Der lag mit weit ausgebreiteten Flügeln von beträchtlicher Spannweite vor der Laube. Noch nie einen Bussard so deutlich und nah gesehen. Dazu musste er erst das eigentlich Bussardhafte aufgeben, um so betrachtet werden zu können. Spuren von Gewalteinwirkung waren an dem großen Vogel nicht zu erkennen, auch Bussarde sterben irgendwann einfach so, nehme ich an.

Habichte in der Luft also, dazu ein Bussard am Boden. Wenn es traditionell zugeht und wie es sich gehört, wird bald noch ein weiterer Vogel aus dieser Familie ins Spiel kommen. Wo mag der auftauchen und was mag es dann sein, ein Sperber, eine Weihe, ein Milan, ein Adler? Ich passe weiter auf.

In den Gärten, das immerhin wissen wir, wohnen auch große Eulen. Ich weiß die Art nicht exakt zu benennen, es werden wohl Waldkäuze sein. Eine Belehrung aus der Wikipedia dazu: „Die Differenzierung der Bezeichnungen „Eule“ und „Kauz“ ist eine Besonderheit der deutschen Sprache und hat keine Entsprechung im Sinne einer zoologischen Systematik.

Das kann man dem nächstbesten komischen Kauz dann mal klarmachen, dass er eigentlich eine Eule ist. Und schon wird man selber einer oder eine.

Der Hamburger Hauptbahnhof vor grauem Himmel

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Zeit ohne Zukunft

23 interessante Minuten beim Deutschlandfunk über Leonard Cohen und die Religionen ausgesprochen gerne gehört – „Gebrochenes Halleluja“.

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Ab und zu ist es schön, Bestätigung zu finden, da wird es mir ebenso gehen wie allen. In einem zu Recht viel verlinkten Interview mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bei T-Online lese ich einen Satz, den ich seit Jahren denke und sage, wenn nicht predige. Und bei dem ich bisher stets den Eindruck hatte, dass das sonst kaum jemand zu denken scheint, dass es auch kaum jemand ernst nimmt. Obwohl ich es so offensichtlich finde, was da ausgesagt wird. Obwohl es aus meiner Sicht unsere Zeit bis tief in den Alltag hinein klar definiert:

Unsere Zeit ist durch eine welthistorische Einzigartigkeit geprägt. Wir leben nämlich in einer Zeit ohne Zukunft.

Der Satz wird dort zunächst auf den zeitlichen Faktor bezogen. Zu ergänzen ist sicher, dass uns auch jegliches Modell für eine zu gestaltende Zukunft fehlt. Sei es ideologisch, religiös, philosophisch oder wie auch immer ausgeprägt, und dass wir auch darin wohl einzigartig sind: Vor uns ist nichts. Vor uns ist nur Nebel. Vor uns sind nur beschlagene Rückspiegel, in denen wir dies und das zu erkennen meinen. Einiges davon sieht dummerweise sogar verlockend aus, auch für mich.

Vielleicht gehören wir zu den ersten Generationen überhaupt, bei denen das so ist. Es war für denkende Menschen bisher nicht vorgesehen, es hat sich nie so ergeben, es gab nie einen derartigen Mangel an überzeugenden Ideen oder Richtungen für den weiteren Ablauf des Ganzen. Es ist eine Art geistesgeschichtlicher Unfall, ein bisher nie genommener Abzweig ins Ungefähre, Vage. Vermutlich ist es auch ein Abzweig ins tendenziell Verlorene – wobei sich die Geschichte bisher bekanntlich als einigermaßen erfinderisch erwiesen hat, also wer weiß.

Ein Rettungsring an einer Wand neben dem Alsterfleet, im Hintergrund die Elbphilharmonie, über eine Brücke ragend

Na, aber das sollen Geisteswissenschaftler bitte in ein paar erhellenden Bänden ausarbeiten und ausführlich ableiten. Ich würde sie dann lesen wollen, diese Bände, dringend sogar. Es fasziniert mich kaum ein anderes Thema so sehr.

Wir haben nicht einmal mehr eine Vorstellung von der Zukunft. […] Es werden auch keine positiven Angebote unterbreitet, sondern alles, was die Zukunft betrifft, hat einen bedrohlichen Anstrich.

Ein Aufkleber an einem Stromkasten: Der Struggle so real

Wenn wir die bisher abgenudelte und aufgeschriebene Weltgeschichte als Vorlage für Weiteres nehmen, dann können wir einen Aspekt doch vorhersehen, wenn er auch noch recht abstrakt bleibt. Denn die Nation oder das Land, die Religion, die Ideologie, die Gruppe, die Bewegung oder auch die Region auf der Weltkugel, die zuerst ein Zukunftsmodell entwickelt, das wieder richtig zieht, so als würde man nach langem Rühren im Getriebe doch wieder einen Gang finden und endlich mit neuem Schwung weiterfahren– die wird zweifellos die Überschrift des nächsten Kapitels in der Weltgeschichte sein.

Spannend ist es schon auch. Wenn ich es richtig verstehe, dann können wir diese nächste Überschrift jetzt noch nicht erkennen. Vielleicht wird es zu unseren Lebzeiten auch nichts mehr, vielleicht klärt es sich in Kürze. Vielleicht übersehe ich auch bereits etwas. Die diversen autoritären Bewegungen um uns herum sind durch die Bank ausdrücklich rückwärts ausgerichtet, die werden es eher nicht sein. Wenn sie sich nicht ändern.

Man kann und muss weiter hoffen, dass sie das dauerhaft nicht hinbekommen werden.

Ein roter Aufkleber an einem Laternenpfahl: Spaziert nicht mit Nazis!

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Kröten im Gras

Weiter Klaus Manns Wendepunkt gehört. Gestern war ein unfassbar passender Tag dafür, wie ich nebenbei beim Lesen der Schlagzeilen mitbekam. Allerdings, so viel Pessimismus muss sein, wird in absehbarer Zeit so ziemlich jeder Tag ein guter Tag sein, um erneut nachzuforschen, wie es in der Vergangenheit mit dem Faschismus war. Wie man damit umging oder daran einging. In diesem und auch in anderen Ländern, etwa in den benachbarten, von wegen tu felix etc. Nein, man möchte eigentlich nicht darüber nachdenken.

Vor allem zwei Aspekte erschienen mir bei den gestern gehörten Kapiteln erwähnenswert. Zum einen die Passagen, in denen ausführlich von den Zeitungen erzählt wird, Medien würden wir heute sagen, die vor 1933 in unfassbar suizidaler Freundlichkeit interessiert um die immer stärker werdenden Nazis herumschwänzelten. Sie sind in einer Weise auf die Gegenwart übertragbar, diese Passagen, dass einem spontan übel wird. Man möchte sich ins Straßenbegleitgrün erbrechen, noch während man es zur Kenntnis nimmt. Also im Falle eines Hörbuchs beim Spaziergang jedenfalls.

Die Parallelen fallen nicht nach und nach auf, die Parallelen schreien einen an. Wüsste Klaus Mann um unsere Talkshows, mit ihren so zuverlässig und konziliant empfangenen rechtsextremen Gästen, es wäre sicher vorbei mit seiner ewigen Ruhe. An die er allerdings kaum geglaubt haben dürfte.

Zum anderen sind seine meist wohlwollenden Beschreibungen der Dichterinnen und Dichter im Exil unbedingt empfehlenswert für alle, die sich auch nur ansatzweise für die deutschsprachige Literatur jener Zeit interessieren.

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Wo ich gestern gerade die protestantische Arbeitsethik im Text erwähnte – ist Ihnen auch aufgefallen, dass selbst im Statement der soeben ausgetretenen Prominenz bei der Grünen Jugend das Wort „Arbeit“ noch vollkommen selbstverständlich von dem Wort „hart“ begleitet wird? Ganze Essays könnte man über die Wortwahl in diesem Kontext schreiben, so interessant und aussagefähig finde ich das. Wobei es mir nicht um politische Kritik geht, nur um die Soziologie des Alltags und der Sprache.

„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ Was für ein außerordentlich langlebiges Statement der Herr Luther da übersetzt hat.

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Die Herzdame und ich waren, um doch noch etwas unsere hart erarbeiteten 20 Jahre zu feiern, in der Mirou Mezze Bar am Hallerplatz. Dort serviert man israelisches Essen, und es war sehr gut. Wir konnten uns gar nicht erinnern, wann wir in einem Restaurant zuletzt so fein gegessen haben. Wir gehen aber nicht oft aus, wir sind da also kein Maßstab, meinen nur ohne viel Feldforschung herum und genießen einfach so.

Da jedenfalls ruhig mal hingehen, unserer Meinung nach.

Mezze-Auswahl im Restaurant Mirou

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Zur Strafe für meine ausgeprägte Sehnsucht nach dem Herbst hatte ich gestern einen mehrstündigen Outdoortermin bei Regen, Kälte und Wind. Es erschien mir nur fair, ich konnte das weitgehend einsehen und machte also willig mit. Ich hatte nur etwas Mühe, überhaupt geeignete Kleidung dafür zu finden.

Ein Arbeitseinsatz im Brotberuf war es, zur Abwechslung für etwas Gemeinnütziges. Wir waren zur Ernte und für andere harte Arbeiten auf der Streuobstwiese Appelwisch, die ich noch nicht kannte. Die man aber durchaus kennen kann, es ist ungemein beeindruckend dort. Bei der Gelegenheit bin ich auch zum ersten Mal an der S-Bahn-Station Wellingsbüttel ausgestiegen, denn es gibt auch beim Hamburger Nahverkehr immer noch Premieren für mich. Das könnte man sich nebenbei vornehmen, überall einmal ausgestiegen zu sein, eine verlockende Projektidee. Also falls man noch nicht genug Nebenbei im Leben hat.

Über zwei Hektar Streuobst wie früher gibt es dort jedenfalls, der Begriff Wiese ist bescheiden gewählt. Etwa 10.000 Arten wimmeln darauf, wie der Fachmann vor Ort uns sagte. Man hat etwas Mühe, es sich vorzustellen, denn man sieht keine davon auf den ersten Blick. Abgesehen von der Art Apfelbaum, die man auch als Laie sicher definieren kann. Für den Rest braucht man Geduld und sieht dann vielleicht zumindest die Kröten im nassen Gras. Und das ist auch schon etwas, was man als Hamburger aus der Stadtmitte nicht jeden Tag sieht.

Für den Freundeskreis Phänologischer Kalender wird es noch von Interesse sein, dass in diesem Jahr bezogen auf die Äpfel alles etwa zwei Wochen früher war, wie uns bestätigt wurde. Also verglichen mit einer nicht näher definierten Vergangenheit, mit einer früheren Normalität. Blüte, Frucht etc. – alles deutlich nach vorne verlagert.

Und niemand, das fand ich auch interessant, kann dort alle Apfelsorten benennen.

Die Streuobstwiese Appelwisch, Bänke unter alten Apfelbäumen

Volle Kisten mit frisch gepflückten Äpfeln

Ein abschließender Hinweis noch für dieses Wochenende: Die Norddeutschen Apfeltage im Loki-Schmidt-Garten. Wo ich auch noch nie war. Schlimm.

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