Der Wutvogel

Am Morgen noch eben eine Hotelbuchungsanfrage verschickt, für zwei Tage im nächsten Monat. Der Rest des Urlaubsfeelings für dieses Jahr. In den Norden geht es dann, bis kurz vor Dänemark, schon im Sichtkontakt mit dem befreundeten Ausland. Immerhin zwei zweisame Tage in uns bisher nicht näher bekannter Gegend sind angedacht. Es kann noch vieles dazwischenkommen, aber man hofft so vor sich hin.

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Am Vormittag kommt der Eichelhäher auf das Balkongeländer. Zerzaust sieht er aus, er ist wohl arg mauserig. Etwas heruntergekommen, abgerissen, verlottert und schäbig wirkt er daher in diesen Wochen. Er wollte nur eben anmerken, fängt er heiser an, als er mich am Schreibtisch sieht, dass er zwar grundsätzlich damit klarkomme, dass wir die Nusslieferungen im Sommer routinemäßig einstellen, dass es jetzt aber schon fast September sei und ob wir nicht … Er atmet durch, legt den Kopf schräg und besieht sich einen Moment sinnend die letzten leeren Nussschalen, die immer noch in den Blumentöpfen liegen, seit Monaten nun schon.

Ob wir nicht gefälligst, fährt er dann fort, und er wird auf einmal deutlich lauter und verhaspelt sich mit kippender Stimme, vergisst sich dann schnell, verfällt bald ins Pöbelnde, gerät unversehens endgültig außer Fassung und schreit eine Weile wie von Sinnen in äußerstem Zorn herum, ein wahrer Wutvogel, so dass man nicht einmal mehr ansatzweise irgendeinen Sinn in seinen aufgebrachten Äußerungen finden kann.

Schließlich kackt er auf den Hauswurz im Blumenkasten unter ihm und schwirrt unter weiteren wüsten Beleidigungen ab, um auf den Ästen der alten Eiche auf dem Spielplatz eine grundlose Schlägerei mit einer überraschten Jungkrähe anzufangen, dass die Federn nur so fliegen. Eichelhäher haben sich, schon oft konnten wir das bei uns beobachten, emotional nicht immer im Griff.

Die beiden tantenhaften Ringeltauben im Holunder gucken pikierter denn je: Die Wohnlage, die Nachbarn, die Sitten, der Untergang.

Wie auch immer. Bei Gelegenheit werde ich wieder einmal Nüsse auf den Einkaufszettel schreiben. Ich habe es so weit verstanden, glaube ich.

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Weiter den Raymond Chandler gehört (Das hohe Fenster). Weiter sportlich im Zeno Cosini gelesen, den ich früher hätte kennen sollen, wie mir immer klarer wird. Es ist doch ein wenig schade um die Jahre der Unkenntnis.

Und immer weiter am Abend und auch zwischendurch die Maigret-Serie mit Bruno Cremer auf filmfriend gesehen. Einer der wenigen Fälle, in denen ich eine Serie, und sogar eine Krimi-Serie, was sonst überhaupt nicht mein Fall ist, gut und entspannend finde.

Es sind noch etliche Folgen übrig. Ich finde den Gedanken  angenehm und gebe mich beim Zusehen auch willig mit einer wohligen Nostalgie ab, die sich auf ein uns heute so ruhig und genügsam vorkommendes analoges Zeitalter vor der enormen Eskalation des Konsums und der Digitalisierung bezieht. Und die ich aus Gründen der Entspannung nicht einmal hinterfrage.

Auch einmal unreflektiert herumträumen! Andere machen das auch. Glaube ich.

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Und nicht immer nur die schicken Seiten von Hamburg im Bild zeigen. In Wahrheit sieht es hier um die Ecke nämlich so aus.

Blick in einen Innenhof zwischen Neubauten, unterkühlte Architektur

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Parzellenlotto

Und nun die sportlich anmutende Staffelstabübergabe. So etwas liegt nach den olympischen Spielen gerade noch in der Luft: Frau Herzbruch und Frau Novemberregen übernehmen die Reiseberichterstattung und melden aus der Normandie. Da war ich auch schon, wo die sich jetzt herumtreiben, aber damals gab es noch keine Blogs. Da mussten wir uns die Urlaubsabenteuer noch abends am Lagerfeuer erzählen. Heute alles viel komfortabler!

Am frühen Sonntagmorgen stand ich auf dem Balkon, witternd wie ein alter und kenntnisreicher Bauer. Ich habe wissend oder doch wenigstens ahnend „Ah, heute“ gemurmelt. Denn es war da etwas in der Luft, etwas schwer zu Beschreibendes, eine vage Ahnung von Schärfe vielleicht. Eine kaum wahrnehmbare Änderung des Lichtes, des Geruchs und der Stimmung. Ein betont spätsommerlicher Morgen war es, überraschend kühl nach einem warmen, staubig-stickigen Großstadtabend. Die Standardeinstellung 12 Grad war es auf einmal wieder. Und was ich da wahrzunehmen meinte, das war diese feine Änderung, deren jahreszeitliches Pendant man irgendwann Mitte März registriert, wenn man auf einmal weiß, dieser Winter ist durch. So geht es mir jetzt mit dem Hochsommer.

Immer habe ich dabei die Hoffnung, dass es etwas Instinkthaftes ist, dieses Wittern der großen Wechsel, dass ich damit richtig liege. Es wäre mir eine angenehme Vorstellung, soweit den Tieren noch nahe zu sein. Auch wenn ich erfahrungsgemäß aufgrund dieses Wechsels in der Luft jetzt im Gegensatz zu manchen Tierarten weder im Paarungs- noch im Zugverhalten besonders auffällig werde. Auch wenn ich mir keine passende Höhle für den Winter suche oder mich erst einmal in tiefere Wälder zurückziehe, um dort heiser herumzubrüllen.

Nein, Contenance. Man ist doch so weit Mensch.

Und es werden noch mehrere Hitzetage kommen, ich weiß, heute schon wird es so einer werden. Es werden auch noch Früchte heranreifen und etliches an sommerlichem Programm wird noch stattfinden. Aber es hat sich doch etwas verändert, ist in Schieflage geraten und rutscht. Langsam, langsam.

Wie auch immer. Erst einmal belästigen mich zwei aufgekratzte Wespen, die den Bildschirm des Notebooks und mich schon zu früher Stunde bei erstem Tageslicht unangemessen hektisch und für meinen Geschmack auch entschieden zu dicht umkreisen. Es ist noch einmal volle Möhre August, keine Frage.

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Apropos Möhre. Am Wochenende bin ich kurz im Garten gewesen, der dieses Jahr Schauplatz einer krachenden Niederlage ist. Eine Niete im Parzellenlotto, ein Beetdesaster erster Klasse. Mit der Herzdame habe ich eine Weile erörternd darüber gesprochen. So recht erklären können wir es uns nicht, selbst unter Heranziehung der üblichen Faktoren wie Wetter, Schneckenplage, nicht geschafftes Gießen, Pilze, Sporen etc. reimen wir uns das nicht recht zusammen.

Vielleicht ist es so, dass, wenn man einen Garten lange genug hat, schon qua Wahrscheinlichkeitsrechnung zwischendurch ein betont maues Jahr dabei ist, ein fast vorhersehbarer Totalausfall. Mag sein.

Vielleicht ist der Garten auch beleidigt, weil wir noch nie so wenig dort waren wie in diesem Jahr. Weil die Söhne mehr dort waren als wir, die es dort allerdings nicht aus gärtnerischen Gründen hinzog, wie man sich bei Teenagern vorstellen kann.

Vielleicht schmollt der Garten also einfach mit uns und wir müssen erst mühsam wieder etwas gut machen, wie es oft in Beziehungen ist. Vielleicht müssen wir ihn im Oktober mehr als sonst mit dem großen Laubrechen kraulen, was weiß ich.

Wenn ich aber durch die Kolonie gehe, es ist immer gut, wenn man vergleichen kann, sehe ich, dass die Parzellen krass unterschiedlich ausfallen. Auch wenn sie ähnlich begärtnert werden. Hier der Garten Eden, und nur eine Hecke weiter deutliche Mangelbewirtschaftung, Steppe und dürres Kraut. Hier ein üppiger Bilderbuchobstbaum, der seine prachtvollen Äpfel, Birnen oder Pflaumen kaum noch tragen kann, daneben ein resignierendes Baumelend der genau gleichen Art, zwei grässliche Fruchtmumien im Geäst, zu früh welkendes Laub und sonst nichts.

Unterm Strich würde ich mich nicht wundern, wenn man die Unterschiede gar nicht erklären kann. Wenn alle immer nur meinen, sie erklären zu können, mit tausend abweichenden Theorien. Im Grunde ist das genau mein Humor. Wäre ich Gott (Gott bewahre!), ich hätte es exakt so eingerichtet und würde mich über den sinnlosen Ideenreichtum der Menschen endlos amüsieren.

Einzig die Tomaten neben unserer Laube haben auf der letzten Rille der Saison einen beachtlichen, nicht mehr erwarteten und unmöglich wirkenden Endspurt hingelegt. Sie schmecken fantastisch, eine sensationell aromatische Süße. Und es sind über Nacht auch unerklärlich viele geworden. Auch da muss ein Trick dabei gewesen sein. Man kann es nur so hinnehmen, nicht verstehen.

Und das ist nicht nichts. Das ist zumindest mehr als eine dürre Randnotiz, denn Tomaten sind wichtig als Geschmacksträger des Sommers und als entscheidendes Augusterlebnis. In das wir jetzt also gebissen haben.

Fleetblick in der Hamburger Innenstadt, rechts die Karl-Lagerfeld-Promenade

Rechts im Bild ein Stück Weg, das neuerdings Karl-Lagerfeld-Promenade heißt. Haben Sie das auch einmal gesehen.

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Standardstress und Perspektivverschiebung

Es waren noch einige Tage Urlaub übrig, die wir in Hamburg verbrachten. Und uns zum xten Mal sagten, dass das keine gute Idee ist. Zu viel Alltag kreiste um uns an diesen restlichen freien Tagen, Alltag der eher unangenehmen Sorte. Es waren zu viele Verpflichtungen zu spüren, zu viel Standardstress auch, der sich aus normalen Abläufen ergab. Zumal immer weiter unerfreuliche Post kam, wir haben einen etwas unerklärlichen Lauf.

Aber zuhause sein und nicht zum Briefkasten gehen, auch nicht in die Mails sehen – das klingt einfach, ist aber nicht leicht umzusetzen.

Sinnlos verschwendete Tage ohne nennenswerten Erholungswert waren es am Ende. Ich ärgerte mich darüber, was die Stimmung weiter verschlechterte. Man sollte sich im Urlaub nicht ärgern, es ist eine innere Fehlermeldung. In Spiralen tiefer nach unten, bis ich überzeichnet übellaunig drauf war, wie diese Figuren mit schwarzen Wolken über den Köpfen in den Lustigen Taschenbüchern etc.

Ich bin nicht deprimiert, es sind die Umstände, auch das wäre manchmal als T-Shirt-Aufdruck geeignet.

Sie hätte besser laufen können, diese Resturlaubswoche, sagte ich mir dauernd. Aber dafür hätten wir vermutlich woanders sein müssen. Den Urlaub im nächsten Jahr doch einmal etwas anders planen.

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Ansonsten werde ich neuerdings wie weithin bekannte A-Prominenz auf Schritt und Tritt gefilmt, sobald ich das Haus verlasse. Allerdings nicht nur ich, sondern viele mit mir, denn es gibt immer mehr Kameras in unserem kleinen Bahnhofsviertel, und nicht nur direkt am oder im Bahnhof. Sie erwischen mich auch auf den Wegen zum Einkauf etc., ich werde überall gut dokumentiert.

Aber nach wie vor würde ich es für sinnvoller halten, Menschen statt Technik auf den Straßen einzusetzen. Streifen etc., wie in den alten Edgar-Wallace-Filmen, in denen so verlässlich an jeder Ecke ein Bobby stand und aufpasste. Personalmangel, Personalkosten, dies, das, ich weiß.

Man hat manchmal altmodisch anmutende Wunschvorstellungen.

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Ich bin außerdem in der Ausstellung zum Werk des Fotografen Henri Cartier-Bresson gewesen, die noch bis zum 22. September im Bucerius Kunstforum läuft, direkt neben dem Rathaus. Darüber hat der geschätzte Kollege und formidable Kunstkenner Kid37 allerdings schon fast alles geschrieben, was mir nur einfallen könnte. Sämtliche Aspekte also bitte drüben nachsehen, er hat wenig übriggelassen.

Verwinkelt gestellte Wände mit Bildern in der Cartier-Bresson-Ausstellung, ein schwarzweißes Bild

Ich kann nur ergänzen, dass es auch an einem Sonntag mit strahlendem Sommerwetter direkt zu Beginn der Öffnungszeit schon gut gefüllt war, damit hatte ich nicht gerechnet. Und ich kann noch eben einen Besucher mit einer unerwartet vernichtenden Kritik zitieren. Es ist der Satz eines kleinen Besuchers, sieben oder acht Jahre alt wird er gewesen sein, den ich im Vorübergehen gehört habe. Er war mit seinen Eltern dort und stellte zwischendurch abwertend und missbilligend fest: „Es sind viel zu wenig Bilder aus Hamburg hier.“

Ich dagegen staunte, dass es überhaupt Bilder aus Hamburg gab. Die Perspektive auf so etwas verschiebt sich im Laufe der Jahre wohl etwas.

Zwei ältere Damen, von hinten vor Bildern der Cartier-Bresson-Ausstellung fotografiert, eine sitzt auf einem Klappstuhl, die andere hat diesen zusammengeklappt in der Hand. Ein schwarzweißes Bild.

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Mit Obst durch das Jahr

Die Reisebloggerei hat also wieder ein Ende gefunden und erneut nett bewiesen, dass einem das Unterwegssein die Zeit seltsam ausbeult. Ein Tag der Reise ergibt etwa zwei, wenn nicht sogar drei Tage im Blog. Und es sind dann in der Regel auch Tage, über die man sich mehr Gedanken als sonst gemacht hat. Wäre ich Reiseblogger und reich, ich lebte langsamer und länger. Oder was auch immer daraus abzuleiten ist.

Mehr Reisen bekomme ich nach dem momentanen Stand der Erkenntnis allerdings nicht hin. Schon wegen der fortwährenden Belästigung durch die Berufstätigkeit nicht, aber auch durch andere Hindernisse, die im Weg herumstehen. Bis hin zum eklataten Mangel an Fernweh, der auch eine Rolle spielt und mich Reisen stets erst genießen lässt, wenn ich unterwegs bin. Das ist nicht hilfeich bei der Planung, wie man sich vorstellen kann.

Jetzt gerade sollte ich etwa in Essen sein, was wir aber aus wenig angenehmen Gründen nicht geschafft haben. Ich muss die Berichterstattung daher anderen überlassen.

Wobei das zweite Halbjahr, welches zwar einerseits gerade erst begonnen hat, sich aber andererseits auch schon bedenklich dem Ende zuneigen wird, sobald ich mein Büro in der nächsten Woche wieder betrete, noch Überraschungen beinhalten kann.

Und zumindest einen kurzen Trip schaffen die Herzdame und ich vielleicht noch im frühen Herbst, es wird sich wohl eine Option ohne Söhne ergeben. Ich werde berichten.

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An den ersten beiden Tagen nach der Südtirolreise haben die Herzdame und ich viel zu erledigen. Viel zu viel wird es dann, im Haushalt, bei den diversen administrativen Fragen und Komplikationen, bei den Vorbereitungen auf den Alltag in der nächsten Zeit. Die Herausforderungen und Probleme dabei sind teilweise so absurd und seltsam übersteigert, bis hin zum still und kläglich versagenden Automotor, zur nicht startenden Geschirrspülmaschine und zu streikenden Home-Banking-Apps und dergleichen, dass wir nach der unerwartet mühsamen Abarbeitung eigentlich sofort neuen Urlaub brauchen. Die Laune sinkt nicht unerheblich.

Frau Novemberregen hat den für mich passenden Tonfall zum Aktionsprogramm der verbleibenden Hochsommertage: „Okay, es ist Sommer, eine Million Grad, was soll ich schon machen? Meine Güte.

Ja, so in etwa die Gefühlslage.

Ich bin für die erlebte Hitze im Süden dennoch dankbar, das war wie bestellt. Denn ich habe durch sie wieder die obligatorische und sich unverzichtbar anfühlende Herbstbereitschaft erreicht. Es wäre ohne diese Reise vielleicht etwas knapp geworden in diesem Jahr, denn das regenreiche Wetter in Hamburg hat bisher keine befriedigende Sommersattheit herstellen können. Trotz der wie immer zu warmen Wohnung. Aber nach diesem Trip durch die für mich große Hitze da unten – es wird dann schon okay sein, wenn die Jahreszeit demnächst wechselt. Ich finde es beruhigend, wenn ich diesen Zustand erreiche. Es fühlt sich richtig an und gehört so.

Die Herzdame und ich essen passend zum etwas zu früh erwähnten Thema Jahreszeitenwechsel den ersten Pflaumenkuchen vom Bäcker. Er ist allerdings sauer wie Fruchtessig und keine rechte Freude. Aber gut, haben wir diesen Saisonmarker auch pflichtgemäß mitgenommen und verspeist. Mit Obst durch das Jahr. Ich werde es später bei den Mandarinen sicher wieder erwähnen, das Blog als Gebetsmühle betrachtet.

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Im Stadtteil sehen wir noch überall die Reste vom CSD, den wir diesmal verpasst haben. Es fallen immerhin noch einige Bilder an.

Eine mit Kreide bemalte Ziegelwand, ein großes Herz, unter dem Liebe steht

Eine mit Kreide bemalte Ziegelwand, der Schriftzug: "Gleiche Rechte für alle" und zwei Herzen

Ein Pappschild an einem Fenster, von Hand beschrieben: "Bitte nicht vor unserem Schlafzimmerfenster pinkeln! Danke und Happy Pride"

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Gesehen: Diese Doku bei arte über Meryl Streep.

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Gehört: Ein Zeitzeichen zu Tove Jansson. Ich hatte mit den Mumins nie Kontakt, habe diese Bücher irgendwie immer verpasst, aber ihr Sommerbuch etwa ist mir in guter Erinnerung, das mochte ich.

Außerdem habe ich nach längerer Pause wieder ein Hörbuch gehört, „Das hohe Fenster“ von Raymond Chandler. Deutsch von Ulrich Blumenbach, gelesen von Thomas Sarbacher. Einige Kalauer in den Smalltalksequenzen zwischen den ach so harten Kerlen klingen deutlich so, als hätten sie auch dem gerade verstorbenen Rainer Brandt gefallen können.

Gelesen: Weiter im Zeno Cosini, für den ich zu lange brauche. Es regt sich ein fast sportliches zu nennendes Gefühl der Bewältigungabsicht. Am Ende wirkt Olympia, wovon ich wenig, fast gar nichts mitbekomme, doch auch auf mich. Lesen bis zum Gold der letzten Seite.

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Es gibt alles und in obskurer Mischung

Früh alle geweckt und schwungvoll bis energisch aus den Betten geworfen. Früh das Auto erneut mit der wie immer erstaunlichen Gepäckmenge beladen und dann mehrere Navi-Systeme verglichen, welches meint wie lange und wo entlang. Dann das übliche und eher grotesk ausfallende Ferienwohnungsrestefrühstück. Es gibt alles und in obskurer Mischung, das Zeug ist schließlich bezahlt und muss weg.

Noch einmal sämtliche Ritzen und Winkel der Ferienwohnung gründlich nach vergessenen Kabeln, technischen Kleinteilen etc. abgesucht. Bei einigen Kabeln länger überlegt, ob sie zu uns oder nicht doch vielleicht zur Wohnung gehören. Hoffentlich dabei nichts demontiert und geraubt. Leise Zweifel bleiben.

Wir waren, es sei zumindest nebenbei erwähnt und ist keine bezahlte Werbung, nein, auf dem Mareithof der freundlichen Familie Battisti. Das war alles fein dort, ich kann es empfehlen. Mir gefiel besonders die Nähe zum Ort und zu den Einkaufsmöglichkeiten, es sind nur ein paar Gehminuten. Ich mag es, wenn ich nicht fahren muss, und ich kaufe ausgesprochen gerne Alltägliches ein. Auch im Ausland, auch im Urlaub.

Die zeitige Rückfahrt mit dem Auto über den Brenner verläuft ebenso reibungslos wie die Hinfahrt. Es hat aber immer etwas von glücklichem Zufall, verbunden mit einem eher unangenehmen Gefühl der Hochspannung.

Und vom nächsten Jahr an bis etwa 2030, was sind das für Planungszeiträume, scheint unsere Standard-Reiseform leider keine allzu gute Idee mehr zu sein: Die Brennerstrecke wird teils einspurig. Man will es sich nicht vorstellen, wie es dort dann zugehen wird, und ich weiß, dass auch manche Hoteliers etc. in Südtirol diese Aussichten einigermaßen schauderhaft finden.

Am Ende müssen wir demnächst sogar anders Urlaub machen, müssen wir ganz neue Pläne machen, also noch mehr im Vorwege nachdenken. Ich bin jetzt schon von der Vorstellung genervt, denn ich kann die Online-Recherche nach Urlaubszielen, Unterkünften etc. nicht ausstehen. Es ist eine furchtbare, freudlose und stark belästigende Beschäftigung, die nur unter fortwährendem Fluchen über die schwersten UX-Fails und Dämlichkeiten auf Ferienwohnungsseiten, in Buchungskalendern etc. zu ertragen ist. Und auch dann kaum.

Aber gut, andere mögen das gerne, ich weiß. Und sie machen es ganzjährig nebenbei, quasi hobbymäßig. Ich aber möchte lieber nicht. Egal.

Da wir in und um Kaltern viel mit dem Bus herumgefahren sind, was in Südtirol erheblich besser und zuverlässiger geht als in vermutlich jeder deutschen Provinz (die Gedanken wandern mit großem Bedauern kurz nach Nordfriesland), kommen wir hin und zurück und auch eine Woche vor Ort in den Bergen mit nur einer Tankfüllung aus. Das ist eine Premiere, eine günstige und umweltfreundliche, das freut mich. Das mit den Bussen hätten wir vor Jahren schon machen sollen, wir haben es zu spät erkannt und genutzt.

Ähnlich wie in den letzten Jahren haben wir dann exakt ab dem Brennerhöhepunkt schlagartig verlässlich grauen Himmel. Es ist eine beeindruckend präzise Wetterscheide. Wie bei diesen digitalen Werbetafeln im Stadtbild, auf denen das Bild ab und zu wechselt, so eingeschaltet wirkt dieser Effekt über uns. Ein öder Himmel erstreckt sich auf einmal wieder endlos weit über uns, über die Bergketten hinweg.

Er ist uns Hamburgern in seiner Anmutung so vertraut wie die Raufasertapeten zuhause, und er bleibt uns an diesem Tag auch prompt bis rauf in die Heimat erhalten, wir werden auf die Rückkehr eingestimmt.

Unter grauem Himmel ist es nicht heiß, ich will mich also nicht beschweren, ich schreibe nur mit.

Ab der deutschen Grenze, man kann es nicht übersehen, wird der Verkehrsstrom schlagartig deutlich anstrengender, stressiger und immer öfter gestört. Es stockt und staut. Der Verkehr wird ruckeliger und die Vorwärtsbewegung der Menge anfälliger für die vielen Irren mit Egoproblemen– das fehlende Tempolimit und die Folgen wieder.

Siehe dazu aber auch in anderen Blogs, bei Frau Casino etwa und bei Christian Buggisch. Alle Argumente sind schon hundertfach geschrieben worden, an so vielen Stellen. Ein Thema, dem man nur noch mit großer Lustlosigkeit begegnen kann.

Wobei wir wahrlich keinen Mangel an solchen Themen haben.

München erreichen wir überaus pünktlich, das Auto wird problemlos abgegeben, ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert. Drei Stunden lungern wir noch in der Stadt herum, bis unser Zug in den Norden fährt.

Wir sorgen für etwas Bewegung, wir gehen ein wenig und allerdings eher sinnlos im Zentrum herum. Wo gerade ein laustarkes Happening der Hare-Krishna-Leute stattfindet, mit enthusiasmiertem Mantra-Gesang, Glöckchenklingeling, unverständlichen Lautsprecherdurchsagen, vielfach gerufenen Heilsbotschaften und allem. Was ich einigermaßen absurd finde, da ich neulich erst im Blog behauptet hatte, den Begriff Sekte lange nicht mehr gehört zu haben.

Wie unfassbar zuverlässig die Wirklichkeit mich bei so etwas trickreich beliefert.

Wir essen ein wenig, auf Wunsch der Söhne bei einer großen Imbisskette, man macht etwas mit. Wir gehen zurück zum Hauptbahnhof München, in dem alles kaputt ist. Die überwiegende Mehrzahl der Schließfächer, die Wechselautomaten daneben auch, Toiletten, das Gebäude sowieso. Herumirrende Touristen aus diversen Ländern, ein mehrsprachiges „Das gibt es doch alles nicht!“ Man hört deutlich, dass man es allgemein nicht glauben kann, was das für Zustände sind. Das hat man sich so nicht vorgestellt.

Zwei blauweiße Werbefahnen des Hofbräuhauses in München in einem Park

Dann in den ICE, in dem es dem aktuellen Klischee entsprechend tatsächlich nur eine einzige funktionierende Toilette gibt. Aber vielleicht sollte ich lieber schreiben, in dem es immerhin eine Toilette gibt. Alles bemüht positiver sehen! Auch die unübersehbaren Zeichen des Niedergangs in diesem Land. Vielleicht auch irgendwas schön daran finden, den versteckten Charme im Abstieg suchen. Was bei fehlenden Toiletten allerdings nicht eben einfach ist.

Die erste routinemäßige Unwetterwarnung für Hamburg erreicht uns kurz darauf noch vor Würzburg, während hinter uns, ich sehe es später in den Nachrichten, die Autobahnen um München herum im Starkregen absaufen. Nur ein paar Stunden später, und wir wären wohl nicht so einfach durchgekommen. Womit es in diesem Jahr ähnlich wie im letzten ist, die Unwetter verfehlen uns auf unseren Wegen nur knapp – auch das wird wohl immer glücksspielhafter, wenn man reist.

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In Hamburg sind bei unserer Ankunft am späten Abend noch etliche stark aufgebrezelte und bestens gelaunte Party-People vom CSD unterwegs, der an diesem Tag stattgefunden hat. 250.000 Gäste waren dabei, oder zumindest eine Menge ungefähr in dieser Größenordnung. Zertretene Glitzerkonfettireste liegen überall auf den Wegen um den Bahnhof, leere Sektflaschen kollern herum und etliche neue Aufkleber mit politischen Botschaften etc. sehe ich an den Stromkästen und Laternenmasten.

Die queere Szene hat also ihren berühmten Bonbontanz … Pardon, ich muss beim Anblick von Partyresten aller Art heute noch verlässlich an diesen uralten Clip aus der Sesamstraße denken. Manche Szenen bleiben einem fürs Leben. Wir haben damals ungeheuer konzentriert ferngesehen, denke ich.

Es ist erfrischend kühl in Hamburg. Jedenfalls für Menschen, die ziemlich weit im Süden waren. Es tröpfelt auch ein wenig, freundlich zurückhaltend nur, ein angedeuteter Willkommensregen. Es ist mir alles recht so.

Nächtliches Kofferauspacken in der nur zögerlich durchlüftenden Wohnung, die noch backofenwarm von den letzten Tagen ist. Es ist kein akzeptabler Gedanke für mich, so etwas am nächsten Morgen erst zu machen. Es muss nach Reisen alles sofort verräumt werden.

Ankommen. Fertig werden, umschalten. Sich dem Alltag wieder annähern.

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Und apropos Ankommen, es kam eine erfreuliche Geschenksendung mit weiterer Herbstlektüre: Sämtliche Erzählungen der Adelheid Duvanel. Der erste Satz, besonders einladend: „Noch vor einigen Monaten bemühte ich mich, gesellig zu sein.“ Sofort ein Lieblingssatz. Ich hatte neulich die Radiowissensendung über die Autorin verlinkt – Schriftstellerin im Schatten. Herzlichen Dank!

Es kamen auch noch ein Eimer mit reichlich Eichhörnchenfutter für die Mitbewohnerinnen auf den Bäumen im Garten und zwei weitere Bücher, es war ein Fest der Geschenksendungen. Zum einen Wunschlektüre für den Stapel der Herzdame, „Sörensen am Ende der Welt“ von Sven Stricker, zum anderen das in den Feuilletons vielgelobte und von mir vor einiger Zeit bei Anke Gröner entdeckte „Jeder schreibt für sich allein“ von Anatol Regnier. Noch einmal herzlichen Dank!

Die Herbstlektüre wird damit reichlich leserinnengestützt ausfallen, es ist alles sehr fein.

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Verhaltensauffällig und renitent

Ansonsten bin ich in diesem Urlaub, auf dieser Familienreise mit Ansage verhaltensauffällig und renitent. Immerhin betrifft es aber nur ein bestimmtes Thema, denn ich verweigere das Kochen.

Wie alle gestandenen Hausfrauen möchte ich einmal Pause von dieser alltäglichen und manchmal nervtötenden Verpflichtung haben, und wie viele Dachgeschossbewohner habe ich im Hochsommer kaum Spaß in der Küche. Ich brate an sonnigen Tagen selbst schon genug, da muss ich nicht noch einen Herd anmachen und den Raum zusätzlich erhitzen. Also ich muss schon, normalerweise. Ich will aber nicht. Ich möchte lieber nicht, ich bin Bartlebohm, der Schreiber.

Eine ockerfarbene Fassade in Kaltern an einem Altbau

Und nachdem ich mich jahrelang leise motzend in mein Schicksal gefügt habe, auch im Urlaub stets im Küchendienst zu bleiben, befinde ich es nun für pädagogisch wertvoll, zumindest gegenüber den Söhnen, nicht unbedingt auf die Herzdame bezogen, sie auch einmal machen zu lassen.

Das hat zunächst zur Folge, dass ich nach langer Zeit wieder ein Fertigessen à la Spaghetti Mirácoli esse. Nicht die Originalversion, aber ein ähnliches Produkt. Ich bin damit nicht aufgewachsen, wie lange gibt es das überhaupt schon: „In Deutschland wurde Mirácoli 1961 eingeführt und entwickelte sich zu einem der bekanntesten Fertiggerichte.“ In meinem Elternhaus kam es damals nicht an, warum auch immer nicht.

Ein Torbogen an der Kirche in Kaltern

Ich habe dieses Produkt also im Gegensatz zu anderen Fertiggerichten nicht oft gemacht oder gegessen. Ich habe nur, wie alle in meiner Generation, in den Siebzigern und Achtzigern tausendfach die Werbung dafür gesehen. Das ist auch etwas kaum zu Erklärendes geworden, wie unvorstellbar oft wir bestimmte Werbeclips gesehen haben. Ohne sie wegklicken oder -wischen zu können, ohne auch nur den Ton auszumachen, alles so hingenommen. Ich nehme nicht an, dass die Generation der Söhne davon eine realistische Vorstellung hat.

Dann gibt es, eine deutliche Steigerung, fertig gekaufte Gnocchi mit Mozzarella und immerhin frischen Tomaten, was alle Beteiligten vor ein unerwartet großes Problem stellt. Denn der Käse soll auf das fertige Gericht und nicht vorher direkt aus der Packung gegessen werden. Eine schwere Lektion in Selbstbeherrschung, Geduld und Mäßigung, ich habe nicht wenig Spaß beim Zusehen.

Blick durch Gassen neben der Kirche in Kaltern

Schließlich kommt der Wunsch nach besserem Essen auf. Man geht Möglichkeiten durch und überlegt hin und her, man erinnert sich an diverse Gerichte und fragt sich, wie schwer deren Zubereitung sein mag. Ob nicht irgendwas mit möglichst wenigen Zutaten dabei ist? Es gibt schließlich Pasta Pollo, nach dem alten und vielbewährten Rezept.

Mit frisch gepflückten Kräutern aus dem Garten vor dem Haus, mit Rosmarin also, der bei uns immer noch Großmarin heißt, weil er in Südtirol so riesig wird, und mit Thymian. Es ist im Vergleich zu den Tagen davor ein Fest der Kochkunst.

Altstadtgassen in Kaltern

Und nach einer Woche Pause und etlichen Fertiggerichten habe ich fast schon wieder Lust, über das Essen selbst und vor allem allein zu bestimmen, in der Küche bei geschlossener Tür gänzlich ungestört zu sein, den Speiseplan ohne jede lästige Abstimmung festzulegen, habe ich also fast schon wieder Lust, der Familie wieder etwas zu kochen.

Es wird schon werden. Wie der ganze Rest vom Alltag.

Blick vom Kirchenvorplatz in Kaltern ins Tal, der Schatten der Kirche liegt auf Weinpflanzungen, im Hintergrund die Berge

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Bis einer heult

Nun zum weniger erfreulichen Teil des Urlaubs, der sich als unerwarteter Rückgriff auf die Familienbloggerei gestalten lässt.

Die Söhne sind selbstverständlich stundenlang im Pool an der Ferienwohnung. Die Söhne schwimmen, tauchen und toben darin herum, wie früher, als sie kleiner waren. Es spritzt so, dass der Wasserstand im Becken irgendwann sinken wird, denke ich.

Ein tauchender Sohn im Pool, von oben fotografiert

Man kann bei diesem Hochsommerwetter kaum auf eine bessere Beschäftigung kommen, als im Wasser zu bleiben und sich dort zu verausgaben, bis schon wieder Hunger auf die nächste Pizza entsteht. Zumindest nicht, wenn man noch jung ist, ausgeprägt bewegungsfähig und dem Sport zugeneigt. Das ist der Grund, warum wir immer Wohnungen mit Pool buchen. In meinem Alter fallen mir mittlerweile andere Interessen auch an heißen Tagen ein, etwa im so umfangreichen und mir zusagenden Zeno Cosini von Italo Svevo ein, zwei Kapitel irgendwo im Schatten weiterzulesen. Aber das ist die Normalverteilung in der Welt, das gehört so.

Die Söhne ringen im Wasser miteinander, auch unter Wasser, und ich komme nach einer Weile auf einen Gedanken, den ich lange nicht mehr hatte, seit Jahren nicht: „Bis einer heult.“ Auf einmal steigt die Erinnerung daran hoch, wie oft wir das als Eltern früher gedacht und vermutlich auch gesagt haben. Es war einer der anstrengenderen Aspekte der frühen Kindheit. Eskalationen ständig kommen sehen, als sei man hellseherisch begabt, sie manchmal sogar auf die Minute abschätzen können – alle Eltern können das. Es ist eine Fähigkeit, die einem so zuwächst, wenn man Kinder bekommt, man muss nichts dafür tun.

Es ist außerdem eine Fahrradfahrfähigkeit, also eine, die man nicht leicht verlernt, auch nach langer Zeit nicht. Man sieht tobende Kinder und weiß Bescheid, diesmal passiert nichts, diesmal passiert gleich etwas. Ich könnte Geld auf das Ergebnis setzen, ich würde viel gewinnen. Wie ich kurz darauf merke, denn es passiert tatsächlich etwas, kaum dass ich diesen Satz gedacht habe. Ein Sohn macht den anderen gründlich kaputt, der Spaß ist vorbei. So erwartbar passiert es, wie es immer schon gewesen ist, und wie es bei uns aber seit ich weiß nicht wann nicht mehr vorkam. Es lag schon nicht mehr in meinen Erwartungen, wofür man prompt bestraft wird, schon klar.

Das Knie des einen Sohnes dengelt jedenfalls mit erheblicher Kraft an das Ohr des anderen Sohnes. Unabsichtlich immerhin. Wofür man dann schon dankbar ist, wie mir ebenfalls wieder einfällt.

Das Ohr tut erheblich weh, es scheint etwas ernster zu sein. Es schmerzt im weiteren Verlauf so, dass wir nach ein wenig Wartezeit erst ahnen und bald auch wissen, dies ist ein Fall für medizinische Betreuung. Ich googele und diagnostiziere ebenso laienhaft wie zutreffend die Art der Verletzung. Es wird besser sein, den Sohn einem Menschen mit Fachausbildung und besonderen Geräten vorzuführen, das lese ich auch.

Wir suchen eine Praxis in Kaltern. Wie schön, dass auch so etwas über Navigations-Apps funktioniert, mit korrekt angezeigten Öffnungszeiten, Rezensionen und allem, es ist heute wirklich einfach. Allerdings kümmert sich die überaus schnell gefundene Ärztin nicht um Unfälle und verweist auf das große Krankenhaus in Bozen.

Womit dann gegen Ende der Kindheitsphase doch noch das eintritt, was wir jahrelang befürchtet haben, nämlich ein medizinischer Ernstfall bei einem Sohn im Ausland. Irgendwas ist eben immer, wie sich erneut zeigt.

Wir steigen in den Mietwagen, fahren nach Bozen und machen dort immerhin gute, wenn nicht beste Erfahrungen. Es ist alles hervorragend ausgeschildert und schon die Aufnahme im Krankenhaus geht schnell und ist kein großer Verwaltungsakt, wie ich angenommen hatte. Noch einmal ein großes Lob der EU-Nähe unserer Staaten, was für eine Vereinfachung. Die Menschen in der Klinik sind so nett und entspannt, dass wir es kaum glauben können. Es wirkt außerdem alles fast verdächtig gut und geräuschlos, geschmeidig organisiert … als sollte uns einmal gründlich vorgeführt werden, wie mangelhaft und stressig es im Vergleich dazu in den uns bekannten deutschen Krankenhäusern zugeht. Mit denen wir in der früheren Kindheit der Söhne nicht eben die besten Erfahrungen gemacht haben.

Aber diese Klinik in Bozen – entweder ist es der Zufallsfaktor eines extremen Glückstages oder sie sind dort wirklich so gut organisiert. Ich kann es nicht wissen und die Einheimischen sind, als ich davon erzähle, eher skeptisch und winken lächelnd und vermutlich auch wissend an. Sie werden gewiss Gründe dafür haben, aber wir können, warum auch immer, zufrieden eine eher positive Erfahrung mitnehmen. Also positiv für eine so schlechte Veranlassung.

Eine Erfahrung, die uns fast einen Tag der nicht eben langen Reise kostet. Was ärgerlich ist, aber im Ergebnis immerhin so beruhigend ausfällt, wie man es sich nur wünschen kann.

Kein großes Drama, das alles, so lautet das Resultat der Untersuchungen. Aber es ist doch gut, dass wir dort gewesen sind, wird uns freundlich und mehrfach bestätigt. Nun wissen wir also, wie dass geht, diese Sache mit Krankheit oder Unfall im Ausland.

Immerhin also wieder etwas gelernt. Auch die wunderbare italienische Vokabel Otorinolaringoiatria. Lange sitze ich vor diesem Wort auf dem Schild an einer Rezeption in der Fachabteilung und finde es sehr faszinierend. Ich sehe die Aussprache des Wortes online nach und spreche es leise nach, gleich mehrfach. Ich versuche konzentriert, mir Begriff, Schreibweise und Aussprache zu merken, ich habe in dieser Stunde da auch keine bessere Beschäftigung. Es fällt mir aber erstaunlich schwer.

Irgendwann kann ich es endlich, ohne noch einmal nachzusehen. Und ich hoffe, dass es sich dabei um in der Zukunft vollkommen nutzloses Wissen handelt.

Zurück in die Ferienwohnung, es ist noch Abend übrig.

Eine altmodische Uhr an einem Juwliergeschäft in Kaltern, darunter der Schriftzug "Gebr. Grattl" in ebenfalls alter Typo, geschwungene Schreibschrift

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Fallendes, stürzendes Wasser

Da es in Südtirol heiß bleibt, aus meiner Sicht unangenehm heiß bleibt, aber bitte, es ist Sommer und wir sind im Süden, es passt also schon, da ich mich aber dennoch nicht braten lassen möchte wie eine deutsche Wurst auf dem obligatorischen Grill im Garten, fahren wir aus Kaltern rauf zur Rastenbachklamm. Dort ist es tiefschattig und angenehm dunkelwaldig. Der feine, wabernde Sprühnebel des spritzenden Wassers vom wild strudelnden Bach kühlt zusätzlich.

Schon das Geräusch des unentwegten Plätscherns nimmt einem den Hitzedruck der sengenden Sonne, der im Städtchen für mich schier unerträglich war. Man atmet gleich wieder etwas tiefer. Es kommt mir fast vor, als würde ich jetzt überhaupt erst wieder atmen. So fühlt es sich tatsächlich an. Es ist ein ausgesprochen linderndes Geräusch, dieser Klang fallenden, stürzenden Wassers.

„Und kecker rauschen die Quellen hervor.“ Da ist man dann auf einmal bei Mörike angekommen und bei einem Adjektiv, das längst aus der Mode gekommen ist.

„Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.“

Aber so spät ist es zur Stunde unseres Ausflugs nicht, mir geht die Lyrik etwas vor.

Es ist jedenfalls überaus angenehm dort unten, in dieser tief in die Felsen geschnittenen Klamm, die sich bis hinunter zum See erstreckt. Man kann eine ganze Weile im etwas dämmerigen Licht der Schlucht herumgehen, stundenlang kann man das. Dem Wasser folgend abwärts oder ihm entgegen wieder hoch, was längst nicht so mühsam ist, wie es auf den ersten Blick aussieht.

Die Herzdame auf einem metallenen Steg über den Bach in der Rastenbachklamm, unter ihr sprudelndes, stürzendes Wasser

Die Schrittzählerapp vermeldet hinterher, ich sei 35 Stockwerke gestiegen, das könnte ein Rekord für mich sein. Aber es hat wohlgetan und war bei weitem nicht so sportlich, wie es klingt. Es passt dann noch weiteres Programm in den Ferientag.

Man braucht auch keine besondere Ausrüstung für den Weg dort unten. Es ist alles keine ernsthafte Herausforderung, es ist eine eher angenehme Bespaßung. Was allerdings die überwiegende Mehrheit der Besucherinnen nicht davon abhält, in teils dramatisch überkandideltem Outfit dort zu erscheinen. Als sei die Klamm eine hochalpine Herausforderung und nicht etwa ein freundlich ausgebauter und vielfach abgesicherter Spazierweg mit ordentlich Gefälle.

Der durch Geländer gesicherte Weg durch die Rastenbachklamm

Praktisch alles, was auf den Wegen dort an Kleidung getragen wird, trägt ein „Funktions-“ vorweg im Namen und war vermutlich recht teuer, war auf jeden Fall aus dem Handel für den Spezialbedarf. Ich finde es faszinierend, wie das einen Markt belebt, dessen Erfolg zu einem erheblichen Teil darauf beruhen wird, dass man nur meint, ihn zu brauchen.

Obwohl man, wenn man nicht eben auf Gipfeln herumkraxelt oder wochenlang durchwandert oder radelt, auf ihn auch ebenso gut verzichten kann.

Wie wir uns nun schon seit etlichen Jahren immer wieder erneut beweisen und daher mit Überzeugung aussagen können, was wohl fast alle überraschen wird, unserer Beobachtung nach: Es ist möglich, Südtirol als Durchschnittstourist zu bereisen, ohne sich speziell dafür auszurüsten.

Normale Hosen erfüllen ihren Zweck auch dort unten einwandfrei. Man zieht sie morgens an und abends wieder aus, man geht zwischendurch in ihnen herum, es läuft. Ebenso verhält es sich mit T-Shirts, Hemden, Unterwäsche und Schuhen. Wirklich.

Man kann es von der Ferienwohnung zur nächsten Pizza im Ort einwandfrei ohne Wanderschuhe schaffen. Wir haben es mehrfach gewagt und gewonnen.

Eine metallene Stele mit der Inschrift "Mut/ Coraggio", Teil eines Kunstprojektes in der Rastenbachklamm

Am nächsten Tag fahren wir mit der Mendelbahn hinauf zum Pass. Wir haben da oben kein besonderes Ziel. Wir haben nicht einmal recherchiert, die Hitze macht mich nachlässig, unkonzentriert und etwas unmotiviert. Uns fehlt jeder Ehrgeiz, auf dem Berg etwas erleben zu müssen. Wir haben uns nur gedacht, wenn es da schon diese Seilbahn gibt, eine der steilsten in Europa, das immerhin lese ich während der Fahrt nach, und wenn der Fahrpreis doch im Ferienwohnungspreis mit drin ist – dann macht man das eben auch einmal.

Lose vereinbaren wir während der Fahrt nur, oben etwas herumzuwandern, wenn wir einen Weg mit viel Schatten finden. Und nur dann.

Diesen Weg finden wir aber nicht, wobei unsere Bemühungen als schnell endenwollend zu bezeichnen sind. Denn die Sonne brennt immer weiter, und obwohl es oben etwas weniger heiß als unten ist, kann man sich gar nicht so viel eincremen, wie man es an solchen Tagen müsste. Unentwegt müsste man sich das ekelhafte Zeug in Mengen auf den Körper kippen. Ich hasse Sonnencreme auf der Haut, die ganze Familie hasst Sonnencreme. Dafür verwenden wir sie immerhin äußerst vernünftig, wahre Muster an Selbstüberwindung.

In meinem Kopf singt es auf dem Weg durch die Sonne schon wieder, nicht recht zur gebirgigen Gegend passend: „Brennend heißer Wüstensand, fern, so fern dem Heimatland …“

Was soll man machen gegen seine Stimmen und Gesänge im Hirn. Sie albern und tollen herum, sie brabbeln und singen irgendwas und scheren sich nicht um Logik, Dezenz und Harmonie. Es ist ihnen egal, was zu was passt, sie folgen eigenen Regeln oder keinen.

„Kein Gruß, kein Herz
Kein Kuss, kein Scherz
Alles liegt so weit, so weit.“

Denke ich so, immerhin nur innerlich singend, und besehe mir die fantastische Aussicht.

Am besten ist der alte Freddy-Quinn-Song natürlich in dieser Version hier.

Wir suchen den Wanderweg kurz darauf nicht weiter, wir suchen lieber Eis und Schatten.

Ein kleiner Eisbecher (Schokolade und Walnuss) vor der Aussicht vom Mendelpass, der Hintergrund ist unscharf

Und sehen nur nebenbei, dass dort oben mehrere Gebäude, fünf oder noch mehr, besonders große Gebäude in einigermaßen ehrwürdiger Grand-Hotel-Anmutung, wohl seit Jahren schon leerstehen, verfallen, längst zu Lost Places geworden sind.

Schöne Gebäude sind das, waren das. Erstklassige Filmkulissen wären es immer noch und falls jemand die Story kennt, warum an einem attraktiven Ausflugsziel so vieles offensichtlich vor die Hunde geht – ich wäre interessiert. Ein Streit der Besitzerinnen, ein Unternehmensschicksal, die Pandemie? Was steckt dahinter?

Wir spekulieren herum und schleichen um die Ruinen, die uns noch mehr begeistern als die Landschaft. Es ist gegenüber den Bergen und dem Panoramablick nicht fair, aber wir mögen nun einmal Gebäude und Geschichten.

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Gehört: Der letzte Zug nach Auschwitz – Vor 80 Jahren enden Deportationen aus Belgien, eine Sendung vom Deutschlandfunk.

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Fortwährende Ereiferung

Wir sitzen vor einer Pizzeria in Kaltern am See. Pizza ist selbstverständlich Pflicht, wenn man schon in Italien ist, und sie ist prompt wieder hervorragend. Am Nebentisch liest eine Frau ihrem Mann die digitale Version von Springer-Presse-Meldungen vor. Passend und stimmig in dauerempörten Tonfall, mit stetem Kopfschütteln und weit hochgezogenen Brauen: Was erlauben Welt, nein, also wirklich, was sagt man dazu, hör doch mal, das gibt es doch nicht, das jetzt auch noch! Versatzstücke der Aufregung. Fortwährende geifernde Ereiferung als Grundhaltung, es muss auch anstrengend für die Betroffenen sein. So bekommt man diese Weltsicht wieder einmal in extenso mit, und schön ist das nicht.

Vor vielen Jahren hatte der Herr Korten, die Älteren erinnern sich, einmal den Begriff des Empörungsfastens geprägt, fällt mir dabei wieder ein. Es ist immer noch ein guter Gedanke.

Fassadendetails in Kaltern, alte Dachziegel, marode Fensterläden

Aber Stichwort Politik: Von der sehe und höre in diesem Urlaub abgesehen von dieser Begegnung sonst nichts, überhaupt nichts. Keinen einzigen Aufkleber an irgendeinem Laternenpfahl finde ich, kein halb abgerissenes Plakat einer Partei sehe ich. Keine Terminhinweise auf politische Veranstaltungen oder Demos und dergleichen, überhaupt nichts. Das ist mir, glaube ich, bisher in Südtirol nicht passiert.

Aber es wird nur ein weiterer Zufall sein, diese komplett unpolitische Woche. Bei der mir erst später auf der Rückfahrt in München wieder Botschaften in der Stadt auffallen werden, die dann denen in Hamburg ähneln, Gaza, Putin, Rechtsradikalismus, zu hohe Mieten etc.

Fassadendetails in Kaltern, ein alter Torbogen, schadhafte Holzelemente in einer alten Mauer

Plakate sehe ich in der Reisewoche ansonsten nur für ein Konzert von Umberto Tozzi. Für das uns sogar spontan und freundlich Karten angeboten werden. Umsonst könnten wir dorthin gehen, aber wir schaffen es dann nicht, wir sind zu hitzegeschädigt und durch.

Etwas schade ist es schon, denn ich hätte das hier einmal im Original hören können, es hätte mich interessiert:

Wir hören das Konzert dann abends vom See her, es klingt nach großer Veranstaltung. Wummernd weht es heran, auch Gloria, der andere große Kracher des Sängers.

Ein Apfel an einem Südtiroler Apfelbaum

Beim späten Abendspaziergang in der endlich etwas milderen Luft an den Weinbergen entlang sehen wir etwas, das mich musikalisch wieder auf andere Gedanken bringt, und mit dem ich nicht gerechnet habe: Glühwürmchen am Wegesrand. Vor Jahrzehnten habe ich die zuletzt gesehen. Es ist gefühlte Ewigkeiten her und war damals auch im Süden, in Bulgarien. Sie kommen in Schleswig-Holstein und Hamburg nicht vor.

Sie begegnen mir sonst nur noch in älteren Erzählungen, Romanen und Liedern. Aber jetzt, ich glaube, ich gucke nicht richtig: Ein helles Auffunkeln und Blinken in der Nacht, erst nur eines, dann vielfach, den Weg entlang.

Wir machen sinnlose Fotos davon, ein schwachgelber Punkt auf schwarzem Grund, als ob es etwas beweisen würde, als ob es ein brauchbares Souvenir wäre. Wir würdigen die für uns so seltenen Insekten einigermaßen ergriffen und angemessen. Wer weiß, ob wir die noch einmal sehen werden.

Ich lese nach, die Art ist auf dem Rückzug, es gibt zu viel anderes Licht in den Nächten, wie es nicht anders zu erwarten war. Oder, wie die Söhne sagen: Unsere Kinder sehen die dann aber nicht mehr. Die Zukunftserwartungen dieser Generation allerdings sind ein zu weites Feld, darüber müsste man, nein, darüber müssten sie Bücher schreiben.

Weintrauben an einer Rebe, noch grün mit einem Anflug von erster Röte

Jedenfalls habe ich auf dem Rückweg zur Ferienwohnung das Lied vom Glow Worm im Kopf, etwa in der Aufnahme von den Mills Brothers. Es gibt etliche Versionen des Songs, Bing Crosby, Dean Martin und Konsorten. Alle haben es gesungen, es ist ein swingender Klassiker.

So versorgt mich der Urlaub diesmal nicht nur mit Pizza uund Eis, sondern auch mit Musik und erstaunlich buntem Programm. Shine, little glow-worm, glimmer, glimmer. Leise pfeifend zurück in die Ferienwohnung.

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Gehört: Eine Folge Radiowissen über die drei Bibliotheken von Lion Feuchtwanger. Am Rande kommt auch sein Roman „Erfolg“ in der Sendung vor, der hier auf dem Lesestapel für den Frühherbst (ab Holunderbeerendunkelfärbung- und Haselnussfruchtreife übrigens, wir werden das beachten und berichten) bereitliegt.

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Sie können hier Geld in die virtuelle Version des Hutes werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch. Die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Die große Gnade einer Wolke

Wo ich im letzten Text gerade beim Thema Kommunikation war, es ereignet sich im Urlaub in Südtirol noch etwas Erstaunliches: Ein Sohn schreibt Postkarten. Von sich aus, und sogar innerhalb seiner Altersgruppe. Es wird noch eine weitere Generation in dieses Phänomen und vermutlich auch in die altbekannte Erwartungshaltung der Zuhausegebliebenen involviert, das hätte ich nicht gedacht.

Vermutlich wird es auf den postpandemisch stark geschrumpften Büroflächen der Zukunft immer noch irgendwo eine Pinnwand mit vergilbten Karten geben. Strandansichten, Berghüttenbilder und berühmte Gebäude aus fremden Millionenstädten. Gesendet mit lieben Grüßen von Kolleginnen, deren Namen niemand entziffern kann. Aber stets getreulich angesteckt, hat mal jemand eine Stecknadel, die XY hat aus Paris geschrieben, guck mal.

Ich erkläre dem Sohn, wie man in der Fremde zu Briefmarken kommt. Ich zeige ihm auch, wo diese auf die Karten geklebt werden, was alles in die Adresse muss und dergleichen. Man weiß so etwas nicht von Natur aus, wenn man es noch nie gemacht hat. Danach gehen wir einen Briefkasten suchen.

Eine Spaziergangsmotivation wie aus dem Geschichtsbuch ist das. Man geht mit einem anderen Blick als sonst durch den Ort und sucht die Hauswände ab. Wo mag so etwas sein und wie sehen die Dinger in Italien eigentlich aus. Sind sie gelb wie bei uns oder rot oder was sonst. Nie haben wir bisher darauf geachtet. Die Herzdame und ich schreiben im Urlaub keine Postkarten. Längst nicht mehr.

Ein Torbogen in Kaltern

Die Hauswände, die wir dann in der Altstadt auf der Suche sichten, sind erstaunlich schön. Der ganze Ort ist schöner, als wir dachten. Kaltern am See hatten wir auf unseren Reisen bisher nur auf Durchfahrten gestreift. Am Ortsrand einmal zum Einkaufen gehalten, das Freibad besucht, so etwas.

Übrigens keine bezahlte Werbung für Urlaub in Südtirol, nein.

Wir gehen zum ersten Mal überall im Städtchen herum und finden Faszinierendes und Altes. Wir sehen Verfallendes, das auf diese ansprechende Art zerbröckelt, die bei der Bachmann in den Briefen an Frisch einmal als „in Würde verarmt“ beschrieben wurde. Wunderbare Altstadthäuser, die mit nonchalanter Lässigkeit vor die Hunde gehen. Apartes Flickwerk an Gemäuern aus früheren Jahrhunderten. Uralte Torbalken, figürlich ausgestaltete Türklopfer, unbeachtet an Eingängen, die seit langer Zeit nicht mehr benutzt wurden. Längst blinde Fester im Gemäuer daneben und dergleichen.

Fassaden in Kaltern

Einleitungsdekoration für Geschichten aus alter Zeit ist so etwas, das kann man sich gut vorstellen. Daneben toprenovierte Denkmalschutzperlen, eine erfreuliche Mischung für die touristische Betrachtung. Jedes nebenbei geschossene Foto ein weiteres Postkartenmotiv.

Und wäre es nicht so unfassbar heiß und schwül, ich würde öfter und länger in dieser Altstadt herumgehen und Bilder machen. Ich bin ein Fan urbaner Schönheit und als Hamburger eher bedürftig. Denn, schönste Stadt der Welt, wie einige bei uns immer eher waghalsig behaupten, hin oder her, Hamburg ist nur an wenigen Stellen schön.

Ein eisernes, kunstvoll geschmiedetes Ladenschild, es stellt die Kirche in Kaltern dar

Aber es ist mir mittlerweile entschieden zu heiß für alles. 35 Grad und mehr sind es, über die Berge ziehen Gewitter heran oder auch nicht. Man spürt sie jedenfalls, diese oben kreisenden Gewitter, sie nehmen einem die Luft. Aber das heißt nicht, dass man sie erlebt. Blitze in weiter Ferne, ein anderes Tal. Die Kleidung klebt, man zerfließt schon beim bloßen Existieren. Ein Zustand bedenklicher Auflösung, wenn man sich nicht gerade im Pool treiben lässt oder darin flotte 700 Bahnen zieht. So wie Sohn II, der hier auf einmal beachtlichen Ehrgeiz entwickelt.

Nach dem gerade noch rettenden Schwimmen sehe ich aufs Handy und finde sofort eine Meldung, die mich freundlich bestätigt. Ich fühle mich abgeholt: Schwimmen fördert die Hirnleistung. Ich merke es auch schon, es schreibt sich gleich viel leichter, that escalated quickly.

Allerdings steht da auch etwas von regelmäßig. Ich werde also jeden Tag in diesen Pool müssen. Man macht etwas mit.

Eine menschenleere Gasse in Kaltern

In der Stadt aber, wir gehen noch einmal Eis essen, sind die Schattenstreifen an den Häusern manchmal nur schmal, viel zu schmal. Noch weitere zehn Meter mit absurder Steigung und es gibt mich womöglich nicht mehr. Was von mir bleiben wird, das ist nur eine Pfütze, diese Lache der letzte Lacher.

Irgendwo im Städtchen arbeiten Dachdecker. Sie klettern über neugelegte Ziegel auf einen uralten Dachstuhl. Wir sehen sie oben in der flimmernden Luft und wissen nicht, wie das möglich ist, wie hält man das aus. Vielleicht wissen sie es auch nicht. Vielleicht fragen sie es sich jetzt gerade selbst und schon seit Tagen und Wochen ihren Chef oder ihre Chefin.

In einem Text bei der taz kommen auch Dachdecker bei Hitze vor, sehe ich. Im Sommer haben sie in diesem Beruf mittlerweile mehr Ausfälle als im Winter. Wir haben einen angehenden Dachdecker in der Familie, wir müssten einmal bei ihm nachfragen.

Eine leere Schlangenhaut liegt am Wegesrand. Elegant gewunden, ein wenig restglitzernd, so etwas sehen wir bei uns nicht. Daneben über die Straße huschende Eidechsen. Wenn man hinsieht, sind sie schon weg, über die Wege und an Hauswänden entlang. Bewegungen im Augenwinkel. Libellen patrouillieren durch den omnipräsenten Oleander und immer wieder hört man an den stilleren Ecken der Gassen die zurückhaltende Percussion von Palmwedeln auf Balkonen und in versteckten Gärtchen. Das Grün bewegt sich rhythmisch in einer Brise, die nicht einmal ansatzweise kühlt.

Schwalben jagen tief über den Pool an der Ferienwohnung und dann zwischen den Apfelbaumreihen hindurch. Sie fliegen irrwitzig rasante Figuren im warmen Wind, der über die bepflanzten Hänge streicht und nebenbei die Weintrauben und Äpfel lässig schaukelt.

Nur ab und zu die große Gnade einer Wolke. Die Stadt und die Menschen unten am Seeufer atmen kurz auf.

Aus Deutschland lese ich in den Timelines die ersten Mauerseglerabreisemeldungen aus verschiedenen Landesteilen. Ich werde in Hamburg nach unserer Rückkehr wohl keine mehr hören, nehme ich an.

Der Sommer, er hat damit seinen ersten phänologischen Knick, auch wenn er aus Hamburger Sicht nicht eben groß war. Die Mirabellen sind in Italien reif, in Deutschland ebenfalls, das war das erwartete Zeichen der nächsten Stufe. Es gibt auch schon die ersten Pflaumenkuchenerwähnungen, dazu die Rezepte in den Foodblogs. Es werden wie immer viele werden.

Wir sind im Spätsommer, wie wir neulich erst gelernt haben, und auch im August angekommen.

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Klimawandel-Update: Die Adria wird tropisch, wie das Meer vor den Malediven. Es kommen in diesem Artikel auch wieder die Algen, die Mikroalgen vor, ich hatte neulich erst diese Sendung dazu verlinkt.

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Ein Essay über das Spätwerk von Leonard Cohen, über Lateness. Aufgrund meines aktuellen Spezialinteresses möchte ich ergänzen, dass der späte Leonard Cohen auch beim Outfit einen mir besonders sympathischen Stil in der letzten Phase gefunden hat. Dieser Hut zum Anzug … also es hatte etwas.

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