Schön, schön

Am Samstagabend ging ich trotz allmählich überwältigender Müdigkeit in den Michel, um mir dort Bachs h-Moll-Messe anzuhören, die immerhin erfreulich früh begann. Das schloss eine nicht eben kleine Bildungslücke, denn Bedeutung und Grandiosität des Werkes, Schönheit und überraschendes Überwältigungspotential waren mir bis zu diesem Abend gar nicht bekannt. Wie immer gilt bei so etwas: Fantastisch und fast hoffnungsfroh stimmend, was man alles noch lernen und entdecken kann.

Warum das Werk aber kurz vor der Aufführung als „größtes Kunstwerk aller Zeiten“ angekündigt wurde, das habe ich erst hinterher verstanden, beim beflissenen Nachlesen in der Wikipedia nämlich. Es war ein Zitat von Carl Friedrich Zelter.

Nun bin ich selbstverständlich gänzlich ungeeignet, das ebenfalls zu beurteilen oder die Aufführung dieses Abends bewerten, irgendwie einzuschätzen oder im Rang gewichten zu können. Das vermag ich nicht einmal ansatzweise, es würde sicher auch schnell peinlich werden. Nur eher plump kann ich daher mangels Kompetenz berichten, dass es mir außerordentlich schön vorkam. Schöner auch als etwa das Weihnachtsoratorium. Um es einmal in meinem Kopf zu sortieren und das entsprechende Regal im Hirn also kurzentschlossen etwas umzuräumen. Ich lege mich auch dahingehend fest, dass ich mir das jederzeit wieder anhören würde, wenn es in einem ähnlichen Rahmen geboten wird.

Dieses lapidar anmutende „jederzeit“ allerdings, das will bei mir etwas heißen.

Die Sopranstimme sang, kurzfristig eingesprungen wegen eines Ausfalls, Hanna Zumsande. Ich sehe gerade, es gibt bei YouTube eine Version des Stückes vom Münchener Bach-Chor mit ihr in dieser Besetzung. Das kann man sich hier ansehen und anhören. Eine Stunde und fünfzig Minuten Bach sind das , eine zweifelsfrei gut geeignete Beschäftigung für den Sonntag.

Zwei Bemerknisse noch eben dazu.

Der Michel vor dunklem Himmel

Da wäre etwa das speziell Absurde des Ortes. Denn zum einen ist der Michel (Wikipedialink) natürlich auf den ersten Blick so sehr Hamburg, wie es ein Gebäude nur sein kann. Ein Stadtsymbol und Wahrzeichen erster Klasse. Vermutlich auch bundesweit bekannt und schon an der Silhouette für erstaunlich viele Menschen erkennbar als die weithin berühmte und zigtausendfach abgebildete Kirche in Elb- und Hafennähe.

Zum anderen ist der Michel aber, gerade wenn man an feierlichen Konzertabenden hineingeht, ein hochgradig außerhamburgischer und auch aus der Zeit fallender Ort. Denn wir haben hier sonst kaum Barock, wir wissen nicht, wo das liegt, um wieder bei Asterix zu landen. Wir kennen keinen Goldprunk, wir haben diesen Bezug zum schwelgenden Bombast nicht. Dann betritt man diesen Innenraum: Unvermutet eine Orgie in Gold und Schwulst, Prunk und Verschwendung, ein für unsere Verhältnisse krasses Übermaß an Dekor und kunsthistorisch zweifellos bedeutendem Tüdelüt.

Barock ist ernsthaft merkwürdig und staunenswert, wenn man sonst kaum etwas in der Art vor der Tür hat. Für Menschen aus München oder gewissen anderen Städten ist es vielleicht kaum nachvollziehbar, stelle ich mir vor.

Zum anderen las ich im Programmheft beim Hören den Text mit und staunte nebenbei, wie außerordentlich tief verankert, wie geradezu ins Hirn eingemeißelt etliche Lateinvokabeln bei mir sitzen. Was ich nicht erwähne, um damit Eindruck zu machen, das würde auch schon daran scheitern, dass ich „nur“ etliche Vokabeln kann, aber kein Stück Grammatik mehr. „Wieso nicht mehr“, würde mein Lateinlehrer von damals an dieser Stelle mit zweifelndem Blick fragen, der mir schon zu Schulzeiten alle tieferen Kenntnisse zu Recht abgesprochen hat. Also alle Kenntnisse neben meinen Standard-Einsen in den Vokalabfragen.

Woran das wohl liegt oder lag, überlegte ich. Es ist mir doch sonst aus der Schulzeit nicht allzu viel geblieben. Es liegt wahrlich wenig von der ganzen Lernerei aus dieser Zeit im Kopf abrufbereit herum. Keine binomischen Formeln finden sich dort, keine Elementetafel aus der Chemie. Keine Kenntnisse über Schaltkreise oder über die genauen Vorgänge bei der Fotosynthese. Kaum greifbare Geschichtszahlen und auch keine Abfolge von Königen und Kaisern. Nicht einmal norddeutsche Flüsse oder Nebenflüsse, auch keine Versmaße und Reimschemata oder unregelmäßige Verben aus Frankreich. Das ist alles größtenteils weg. Und nicht einmal das erneute und teils also dritte Lernen mit den Söhnen hat es so wiederbelebt, dass es mir diesmal geblieben wäre. Geblieben ist mir eher ein tiefes Desinteresse an sicher zu vielen Themen.

Aber den Text dieser Messe las ich und war noch einigermaßen orientiert, worum es da ging. Wäre sie in französischer Sprache gewesen, ich hätte weniger deuten können. Besonders klug und lebenstauglich ist das gewiss nicht.

Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, diese verbleibenden Kenntnisse liegen daran, dass ich damals Latein unbedingt lernen wollte. Es schien mir als Kind unabdingbar, Latein zu kennen, um später als gebildet durchzugehen. Und das schien mir, ich weiß gar nicht recht, wo der Gedanke eigentlich herkam, ungemein wichtig zu sein. Von elementarer Bedeutung fürs Leben.

Geradezu peinlich war es mir, bevor ich Latein in der Schule hatte, Latein nicht zu können, das wird die Vehemenz der ersten Lernphasen wohl erklären. Von denen ich dann doch insgesamt zu wenig im Leben hatte, um eigenen Ansprüchen beim Thema Bildung je auch nur ansatzweise genügen zu können. Aber wie auch immer, diese Deutung des Wissenserwerbs sollte ich auch einmal aus heutiger Sicht mit der Therapeutin besprechen, der Gedanke scheint mir naheliegend zu sein.

Ach, ich habe gar keine Therapeutin. Na, egal.

Schöne, sehr schöne Musik jedenfalls. Das wollte ich nur eben sagen.

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An der Novemberalster

Am Morgen komme ich durch Playlistbasteleien und Spielereien ähnlicher Art vom Bloggen ab und lasse es abwehrschwach zu. Ich lasse mich nach schlafloser Nacht sogar treiben und gehen. Für die schlaflose Nacht immerhin kann ich nichts, die wurde durch andere Personen begründet und verursacht. Nicht an jedem Tag, aber das hatten wir bereits, kann das Immerhin des Tages direkten Frohsinn auslösen.

Ich sortiere zu früher Stunde bemüht dieses Immerhin, den Kreislauf und die Kopfschmerzen; ich gewichte einmal so und einmal so, weiß nicht recht.

Der Weg zum Anleger Rabenstraße im Weitwinkel

Dann gehe ich noch vor der ersten Einkaufsrunde runter an die Novemberalster. An den Ufern das nun schnell und in großer Menge fallende Laub, es riecht intensiv nach Herbst und Verfall. Das Licht über allem in elegantem Grau, und viel heller als kurz nach der Dämmerung wird es den ganzen Tag über nicht werden, wie ich jetzt am Nachmittag weiß. Es ist sehr November heute, und es gefällt mir gut, ein mir angenehmer Monat.

Ich gehe eine halbe Runde an der Harvestehuder Seite entlang. Ich mache einige Bilder und Filme, das Blassblau des Wassers, das Grau des Himmels und das Schwarz der Kormorane und der Outdoorjacken einzelner Spaziergänger. Nur wenige joggende Menschen verausgaben sich an diesem herbststillen Morgen, einige eher lustlose Hunde beschnüffeln sich bei deutlich mangelnder Spielbereitschaft.

Abgedeckte Boote an einem Steg an der Außenalster

Ich verstehe das, ich würde in diesem Moment auch gerade niemanden kennenlernen wollen. Nicht jeder Morgen ist dafür geeignet, und einige noch deutlich weniger als andere.

Draußen auf dem Wasser sehe ich immer noch mehrere sporttreibende Menschen, die einzeln, zu zweit oder auch mit noch mehr Menschen im Boot ambitioniert rudern. Wie man sich zu so einer Beschäftigung hingezogen fühlen kann, wenn die Kälte einem doch schon am Ufer in die Jackenärmel kriecht, sich die Arme entlangarbeitet und eisfingrig nach den Nieren tastet … es bleibt mir unbegreiflich.

Ein Ruderboot auf der Alster, von oben von der Kennedybrücke aufgenommen

Aber es ist doch gut, dass sie ihren Sport so entschlossen dort treiben. Denn es ist dekorativ und richtig, wenn etwas lautlos durchs Bild gleitet, und nicht immer sind die Möwen willig und rechtzeitig strahlend weiß und segelnd zur Stelle. Der Reiher am Ufer steht gar hartnäckig wie aus Plastik gefertigt und denkt gar nicht daran, etwas für ein Bild zu tun. Keine Feder rührt er.

Ich sehe mir diesen Vogel lange an. Dann nehme die Vorbilder wieder, wie sie kommen, ich gehe also nach Hause und mache es ihm nach.

Ich verhalte mich den Rest des Tages einfach still und es passt schon.

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Ein Geruch nach Denkmalschutz und Staub

Am Donnerstagmorgen koche ich Suppe, noch bevor in den Häusern ringsum auch nur ein einziges Licht angeht. Ich brauche die Küchenzeit am Nachmittag für das kostenlose Orgelkonzert in der Innenstadtkirche. Ich muss irgendetwas anders als sonst machen, sonst wird mir der Besuch dort wieder nicht gelingen können. Es ist ein Tricksen und Schieben mit den Timeslots und To-Dos. „Man tut und macht, bis einem das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt“, wie man noch bei Kempowski geschimpft hätte, „… und was ist der Dank?“

Der Dank der Familie fällt später erwartungsgemäß aus. Ich teile die Erfahrungen aller Hausfrauen vor mir, aber die Tat birgt andererseits ihren Lohn doch in sich, ganz wie es sich gehört. Denn am Nachmittag schaffe ich es tatsächlich, rechtzeitig in die Kirche zu kommen, zum ersten Mal in dieser Saison und unter hektischer Einnahme eines Imbissessens unterwegs. Auch mal schön, wenn andere etwas für mich zubereiten.

Gut besucht ist die Kirche schon, als ich hereinkomme, diese Musikreihe findet Anklang. Ich setze mich auf den aus dem letzten Winter gewohnten Platz am Rand des Kirchenschiffes. Ein bekannter und vertrauter Geruch liegt in der Luft, ein Geruch nach Moder und Ziegel, nach Denkmalschutz und Staub. Auch nach alten Menschen riecht es, nach feuchten Jacken und klammen Schuhen, obwohl es an diesem Tag versehentlich gar nicht regnet. Es hat eine Ahnung von ÖPNV-Geruch im Herbst.

Und wenn diese tiefe, namenlose Trauer, die manche Menschen regelmäßig in Kirchen tragen, ebenfalls einen Geruch haben sollte, dann ist diese Note auch wahrnehmbar. Etwas unbestimmbar Schmerzhaftes im Hintergrund, es mag vielleicht auch ein vage erinnerter Friedhofskapellengeruch sein. Mit einer Ahnung von welken Blumen und offener Erde darin.

Eine leere Kirchenbank mit rotem Polster in St. Jacobi

Es ist etwas schummrig, angenehmes Kircheninnenlicht nach dem hell bestrahlten Büro. Man setzt sich, es wird langsam ruhiger. Ein Baby, das abwechselnd von der Mutter und vom Vater gehalten und geschaukelt wird, gibt ein letztes, etwas weh und weinend klingendes Einschlafquaken von sich. Es wird die erwartete Musik nicht weiter stören und beneidenswert selig schlummern, fest gehalten und gewiegt.

Verhaltenes Husten, Wartezimmergeräusche. Leises Reden auch. Man scharrt mit den unruhig bleibenden Füßen, die Bänke knarren. Ein altes, weißhaariges Paar steckt die Köpfe zusammen. Er streicht ihr über den Kopf, ihre Hand liegt auf seinen Knien. Ich gehe gerne allein aus, ich bin auch sonst gerne allein, öfter als andere vermutlich. Aber ich finde es andererseits respektabel und ausdrücklich lobenswert, wenn solche Paare herangereifte Zweisamkeit öffentlich und deutlich demonstrieren.

Die Menschen brauchen Ziele, das ist unbedingt einzusehen.

Die Leute auf den harten Bänken vor mir biegen und recken sich. Wie sitzt man da jetzt am besten und dann auch noch für länger. Ein Mann stöhnt, er scheint große Schmerzen im Rücken zu haben. Ächzend sucht er die einzig mögliche und rettende Position, und das dauert. Es ist eine längere Versuchsreihe, mir tut schon beim Zusehen nach einer Weile die Gegend um einen bestimmten Wirbel weh.

Eine junge Frau setzt eine überdimensionierte Kapuze auf und versinkt dann in ihrer Kleidung wie in tiefem Schatten. Bis nichts mehr von ihrem Gesicht zu sehen ist, da ist nur schwarzer Stoff, der ein Nichts umhüllt. Es hat etwas von einer Disneyfigur, so hat man in den alten Filmen mystische Frauenfiguren dargestellt.

Eine andere Frau setzt sich und scheint sofort einzuschlafen. Der Kopf kippt nach vorne, sie atmet tief. Wer weiß, vielleicht ist es ein wöchentlich wahrgenommenes Entspannungsritual.

Eine andere Frau weint still und bebend, beide Hände vor dem Gesicht. Eine Frau nicht weit von dieser, in meinem Alter etwa wird sei sein, macht sich Notizen, so wie ich. Wir sehen uns kurz an und schreiben uns auf.

Ein Mann wechselt viermal den Platz, nein, fünfmal, sechsmal. Er sieht sich dabei immer wieder zur Orgel um, er versucht womöglich, die Akustik der Kirche korrekt zu schätzen. Noch vor dem ersten Ton.

Dann wird es kurz ganz still, hier beginnt es stets pünktlich auf die Minute. Man meint zu ahnen, wie der Organist die Hände hebt und einen kleinen Moment über dem Instrument schweben lässt. Und schließlich wird die letzte quengelnde Unruhe im Kirchenschiff  weggeorgelt, vergeht das alles mit dem Bach, mit dem Mendelssohn Bartholdy.

Und mit diesen Chorälen

erheben sich die Seelen,

möchte man da vielleicht gerne denken. Ob es aber stimmt, das dürfen wir nicht voraussetzen und werden es selbstverständlich auch nicht erfahren. Zumindest bei mir ist es jedenfalls zweifelhaft, so wie immer. Genossen habe ich die Musik dort dennoch, und wiederholen werde ich den Besuch sicher. Am Wochenende wird es außerdem reichlich Bach im Michel für mich geben.

Die h-Moll-Messe, was ich aber nur so kennerhaft hinschreiben kann, weil es auf dem Ticket steht. Ich werde nach Möglichkeit berichten.

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Winterliche Bastelarbeit

Ein weiterer Dank ist erfreulicherweise abzustatten, es geht hier zu, als sei schon Weihnachten. Weitere Bücher kamen als Zusendung aus dem Publikum an, und sehr gute Bücher sind es wiederum. Zum einen der „Billy Budd“ von Herman Melville, Deutsch von Richard Moering und mit einem Essay von Albert Camus. Ein Buch, das ich aus eher undurchsichtigen Gründen noch nicht kenne. Es ist eine dieser Lücken, die man sich selbst nicht recht erklären kann.

Zum anderen „Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt“. Letzte Texte vom geschätzten David Graeber, mit einem Vorwort von Rebecca Solnit, hier die Verlagsseite dazu.

Herzlichen Dank!

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Neulich kommentierte jemand unter dem letzten Artikel mit etlichen Links zu Musik auf YouTube, ich möge dafür doch bitte eine Playlist anlegen, das sei einfacher als das Einzelgeklicke. An Playlists auf YouTube hatte ich bis dahin noch nicht gedacht. Aber ich habe das dann, serviceorientiert wie ich bin, auch gleich umgesetzt, so dass es jetzt dort die Playlist zu den im Text besprochenen Telefonsongs gibt: „Operator, number please …“

Dafür musste ich aber erst einen Kanal einrichten. Wie einer dieser Creators, von denen jetzt alle sprechen. Als würde ich mich dauernd selbst filmen und dann auf YouTube versenden. Das habe ich schon mangels Kameragesicht nicht vor, aber wenn man so einen Kanal hat, kann man ja auch noch mehr Playlists machen. Dachte ich kurz. Und dann hatte ich dummerweise eine Idee. Denn ich könnte doch, ob nun auf YouTube oder sonstwo, meine längste Playlist mit weit über tausend Songs, die mit den traurigen, melancholischen Songs, in der ich quasi geistig wohne, auf die eine oder andere Art sortieren und gruppieren, etwa nach Phasen von Beziehungen.

Also vom ersten Blick bis zu den beginnenden Brüchen, über den Niedergang und die Trennung, das Doch-Noch-Einmal und das endgültige Aus bis zur Einsamkeit und der finalen Erkenntnis, von Louis Aragon ein für alle Mal und für uns alle verbindlich konstatiert und von Georges Brassens später vertont: „Il n’y a pas d‘amour heureux.“

[Soeben gelernt: Es ist ein Gedicht des Widerstandes, nicht nur der Liebe.]

Hier gesungen von jemandem, der tragische Lieder vortragen kann wie kein anderer: Paco Ibáñez.

Lauter Kapitel und Abschnitte jedenfalls, die en détail mit Songs zu unterfüttern sind, jeder denkbare Standardmoment wurde längst einzeln besungen. Dazwischen im detailliert abgebildeten Liebesverlauf noch Sonderformen wie One-Night-Stands, Orgien, Wahnvorstellungen, Todesfälle und Verbrechen, alles jeweils aus zwei oder noch mehr Richtungen betextet und besungen. Er zu ihr, sie zu ihm, sie zu ihr, er zu ihm, irgendwer zu irgendwas, jetzt ist sie weg, jetzt ist er weg, jetzt ist alles weg, love is all around us.

Auf einem Brückengeländer in der Hafencity steht "Ich liebe dich"

Dann habe ich mir die ersten Titel unverbindlich etwas genauer angesehen, also was man so unverbindlich nennt. Ich habe überlegt, wie man das am besten macht, und ob mit KI oder ohne. Die KI-Option habe ich etwas durchforscht, aber es wurde mir dann zu technisch und erforderte am Ende Skripte und Gottweißwas. Ich hätte mehr lernen müssen, dazu reicht die aktuelle Nerd-Phase aber gerade nicht aus.

Dann fiel mir auf, dass ich mir, bei welcher Methode auch immer, die Titel, und zwar auch die, die am längsten auf der Playlist sind, also seit zwanzig Jahren oder so, noch einmal genauer anhören müsste. Am besten natürlich so, dass ich dabei den Text in Ruhe mitlesen kann, um auch die Feinheiten erfassen zu können. Vielleicht auch noch nebenbei etwas über das Lied nachlesen. Über den Interpreten, über die Komposition, den Text, es bietet sich doch an. Und wenn man schon so weit ist, kann man auch einige Coverversionen noch einmal durchgehen.

Kurz, es eröffneten sich mir in einer Phase, in der ich keine Zeit für gar nichts habe, ganz neue Möglichkeiten und Dimensionen der überaus attraktiven Zeitverschwendung, und ich wäre nicht ich, wenn ich dem nicht auch gleich etwas Schlaf geopfert hätte. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, und ich glaube, ich habe nun für die ominösen langen Winterabende, die so oft in der Literatur vorkommen, erneut eine überaus anziehende Bastelarbeit gefunden. So komplett sinnlos oder aber überaus wertvoll wie das Verfertigen von Strohsternen. Es ist wie immer alles eine Frage der Betrachtung.

Schön, schön.

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Dazwischen die Dämmerung

Mek schreibt über die Dunkelheit in Hamburg. Mir fiel es auch gerade wieder auf, dass natürliches Licht für Menschen mit Drinnenberufen nun eine Weile nicht mehr vorkommen wird. Auf dem Weg ins Büro ist es Nacht, auf dem Weg zurück ist es Nacht, dazwischen gibt es nur etwas Dämmerung. Der Rest ist neonsonnenbeschienen.

Immer zu dieser Jahreszeit der Gedanke an den Kollegen aus Süddeutschland, der den Job nach nur einem Winter in Hamburg wieder aufgab, weil es ihm hier viel zu dunkel war. Denn etwas weniger Licht als in Bayern etc. haben wir, und einige merken es sehr.

Mich stört es nicht. Ich hätte nur gerne mehr Zeit für die Grautöne der Tage. Mehr Ruhe und mehr Leere in dieser Phase des Jahres fehlen mir, ich hätte es also gerne angemessener. Na, vielleicht erlebe ich es in sieben Jahren. Oder so.

Bis dahin in dieser Jahreszeit nur auf die Lichter achten, die in der Stadt immerhin bunt und vielfältig ausfallen.

Neonschriftsschild: Love your body, take a massageNeonwerbung, eine Ramen-SchüsselFriseursalon bei Nacht, Neonschrift an der Wand: Farb-Bar"Rathausplatz und Rathaus in der Dunkelheit

 

Davon abgesehen rutschte ich im Discounter auf einer Weintraube aus. Wobei ich mich dermaßen cartoonhaft hingelegt habe, dass es wohl auch für die Menschen um mich herum einigermaßen beeindruckend war. Man sieht es dann an den besorgten Gesichtern, wenn man sich wieder aufrappelt nach so einem Sturz. Nach so einem Stunt, bei dem man sich auch final etwas hätte brechen können. Und nach dem man eine erstaunlich lange Weile braucht, um erst einmal bemüht konzentriert in diverse Körperteile zu fühlen, ob und was sie noch zurückmelden. Unangenehm spannende Minuten.

Kurz verspürte ich die ausgesprochen unfreundliche Neigung, die netten Menschen neben mir, die mich sofort fragten, ob alles okay sei, anzugiften mit: „Wie soll ich das jetzt schon wissen, Gott verdammt!“ Gerade noch zusammengerissen, eben noch durchgehalten.

Und es war dann auch gar nichts. Gut, mein Kopf hat den Boden eher hart getroffen, ich sehe seitdem alles doppelt und komme nicht mehr auf die Namen der Söhne, aber sonst … Nein, das war nur ein Scherz, versteht sich, es ist tatsächlich nichts. Bisher zumindest. Ich muss wegen der potentiell magischen Wirkung des Geschriebenen vorsichtig formulieren, sonst erlaubt sich die Wirklichkeit gleich den nächsten Scherz mit mir, noch bevor ich mir einen neuen mit ihr erlauben kann. Ich weiß es ja allmählich, wie das läuft.

Aber, und das fand ich dann doch äußerst passend in dieser Zeit des allgemeinen und saisonal vollkommen korrekten Totengedenkens, in der Zeit des, siehe gestern, Dunkeltutens und der fast allmächtigen Grautöne, wie lapidar es einen mal eben zerlegen kann!

Es ist doch immer wieder beeindruckend, finde ich. Eine zertretene Weintraube braucht es nur, auf einer Fliese vor dem Obstregal im Discounter. Blassgrün, banal, billig und bedrohlich.

Denn mitten im Leben sind wir von Rutschgefahr umfangen.

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Dunkeltuten im Bahnhof

Frau Novemberregen schreibt u. a. über den Hamburger Hauptbahnhof, und es ist bemerkenswert, herausstechend und äußerst seltsam: Sie urteilt nicht negativ. Ihre ersten und zweiten Gedanken zum Bahnhof sind nicht hart urteilend, angewidert oder auf der Flucht notiert. Das fällt auf, denn der Hamburger Hauptbahnhof, er hat kein gutes Image und sehr wenig Freunde.

Er ist im Erleben für viele zu groß, dabei ist er objektiv zu klein für die durchrauschenden Massen. An den Rändern zeigt er zu viel Elend, auch im Untergrund, er ist zu kommerziell oder hat zu wenig Geschäfte in sich, je nachdem. Er wirkt furchterregend und abstoßend, er ist gruselig und nachts entschieden unheimlich. Auf viele wirkt er so, auf die meisten. Nicht auf mich.

Man fragt in Medien Menschen gerne nach Lieblingsorten in Städten. Ich wäre da insofern auffällig, als ich ohne langes Nachdenken den Hauptbahnhof nennen würde. Und zwar nicht, um damit wieder als besonders exzentrisch, witzig oder interessant rüberzukommen, sondern weil es tatsächlich so ist.

Ich gehe da bekanntlich jeden Tag Menschen gucken. Enorm viele davon bekomme ich dort zur Auswahl, Tausende und Abertausende, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und ein wenig ist es wohl wie bei denen, die Tierfilme drehen: Es ist oft für Beobachtende interessanter, wenn etwas passiert. Ein Elch am Waldrand, der zehn Minuten lang neben dem blühenden Weißdorn steht und stumpf in den Sonnenuntergang glotzt – das sendet man dann nicht, auch wenn es gut aussieht. Trifft er aber eine attraktive Elchfrau und findet er die interessant, bahnt er etwas an, geht er auf sie zu … Die Spannung steigt, die Doku-Minuten füllen sich. So einfach ist das.

Und was machen die Menschen im Bahnhof? Nahezu alles machen sie. Sie gehen herum, sie laufen, sie kaufen, essen, trinken, stolpern und schleppen Gepäck. Sie überreichen sich Blumen und Geschenke und Luftballons, sie verabschieden und begrüßen sich, sie weinen, lachen und schimpfen. Sie erziehen ihre Kinder, und die laufen ihnen weg und werden wiedergefunden. Sie füttern Tauben und laufen vor Mäusen weg, sie machen sich Notizen und lesen Bücher und gucken aufs Smartphone und tippen auf Notebooks und spielen Geige – es ist fantastisch.

Blick von der Galerie der Wandelhalle in die Wandehalle

Ein Wimmeltheater mit endloser Szenenauswahl für mich. Es ist fast immer irgendetwas interessant. Und wenn nicht, muss ich nur etwas weitergehen oder vielleicht mal hinunter zu einem Gleis, wo gerade ein Zug steht, und der fährt nach … Kopenhagen. Da kann ich dann gucken, wie eigentlich die Menschen aussehen, die nach Kopenhagen fahren. Vielleicht ja anders als die, die nach Zürich fahren. Man müsste es beobachten und man kann es dann auch. Ist es nicht großartig?

Ich finde es großartig.

Und, um einen vermutlich etwas albern wirkenden Trick zu verraten: Man kann sich dort auch gegen seelische Abstürze selbst helfen. Oder ich zumindest kann das, auf eine denkbar einfache Art, die vermutlich etwas dumpf nach Ratgeberliteratur klingen wird, die aber gleichwohl wirkt. Ich habe es ausführlich getestet, über viele Jahre.

Wenn ich nämlich sehr schlecht drauf bin, also schwarzgestimmt bis zum Anschlag, novembriges Dunkeltuten im Hirn (falls Sie den merkwürdigen Begriff „Dunkeltuten“ nicht kennen, ich habe vor Jahren einmal erklärend darüber geschrieben und schalte den Artikel eben wieder frei, er passt gerade) und sonst nicht mehr viel, dann gehe ich auch in den Bahnhof. Zu einer der Treppen zu den Gleisen gehe ich, und ich trage, es klingt wirklich kitschig, ich weiß, irgendeiner steinalten Dame oder einem gebrechlichen Rentner den Koffer runter oder rauf.

Also natürlich erst nachdem ich gefragt habe, ob das okay sein könnte. Ich entreiße keinen Fremden ihre Koffer einfach so. Denn im Bahnhof haben ja alle Angst vor allen, und zwar besonders ältere Menschen, die sich in ihr Gepäck verkrallt haben.

Blick von der Empore der Wandelhalle über die Gleise

Ich aber trage meist Anzug, wirke daher auf den ersten Blick noch halbwegs seriös und bemühe mich in solchen Momenten außerdem, täuschend echt freundlich zu gucken. Und dann geht es meist. Ich trage ihnen den Koffer hinauf oder hinunter und wir wechseln dann noch zwei, drei harmlose Sätze. Woher und wohin und das Wetter, das Wetter – und ganz erstaunlich oft ist es so, dass es dann wieder geht.

Dass also selbst gewählte „random kindness and senseless acts of beauty“ dem eigenen Hirn eine Möglichkeit der Milderung vermitteln können. Ich halte das mittlerweile für eine klar anwendbare Methode. Und so exzentrisch bin ich auch wieder nicht, obwohl ich entschieden zu den eher seltsamen Freaks gehöre und auch großen Wert darauf lege, dass sich diese Methode nicht auf andere Menschen übertragen ließe. Nehme ich jedenfalls stark an.

Kleine, sogar ganz kleine freundliche Interaktionen – that’s it. Also manchmal jedenfalls. Nach meiner Theorie und Erfahrung braucht man dafür allerdings unbedingt fremde Menschen. Es klappt nicht in der Familie und es klappt auch nicht im Büro.

Aber bitte, vielleicht finden Sie anderes heraus. Man kann da interessante Versuchsreihen starten.

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To squander time

Da mir klassische Musik saison- und also programmgemäß wieder gefällt und mir die Vorliebe zur Orgel geblieben ist, suche ich mir wieder die beiden regelmäßigen Termine der Kirchen um die Ecke heraus. Diese Termine, bei denen man in jeder Woche kostenlos (!) etwas vollgeorgelt werden kann: mittwochs um 17:15 in Sankt Petri und donnerstags um 16:30 in St. Jacobi. Mit anspruchsvollem, wechselndem Programm. Ich fand beide Termine im letzten Winter sehr anregend.

In diesem Jahr wird es allerdings deutlich schwieriger, mir selbst so kurze und frühe Termine zu ermöglichen, wie es aussieht. Aber wie immer heißt das am Ende nur: Dann also erst recht.

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Falls es Ihnen wie mir geht und Ihnen also auch die neue Woche wieder wie eine weitere Hürde vorkommt: Ich fand vor der Galerie der Gegenwart am Wochenende ein bemerkenswertes Hinweisschild. Das mir nicht nur zu den Stufen dort, sondern auch zum Leben und der Abfolge der Ereignisse zu passen scheint: Mind the steps.

Ein Hinweisschild vor der Galerie der Gegenwart: "Achtung, dies ist ein Kunsterk. Die Stufen sind höher als Sie denken."

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Jetzt ans Schenken denken: Ich nehme an, dass es für einige von Ihnen allmählich so weit ist, daher werfe ich ab und zu unter diesem Stichwort etwas in die Artikel, wenn es mir gerade in den Sinn kommt. So sah ich im Vorbeilesen an einem Buchhandlungsregal, dass es „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis, Deutsch von Klaus Bonn, mittlerweile auch als Taschenbuch gibt. Vermutlich ist es nach wie vor ein Geheimtipp auch für Literaturkennerinnen. Ein ungemein beeindruckendes und originelles Buch, die Jubelmeldungen auf der Verlagsseite bei mare täuschen in diesem Fall nicht.

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Der Sonntag war verkaufsoffen in Hamburg. Weil die Menschen sonst ja nicht genug kaufen können und am Ende gar nicht genug von allem haben. Es wäre nicht auszudenken, deswegen muss man da Verständnis haben. Entsprechend kamen sie auch alle oder doch nahezu alle und kauften tatsächlich dies und das, was gewiss wirklich gefehlt haben wird. Zumindest in der Innenstadt war es so, und aus dem neuen Rieseneinkaufsdings am Hafen las ich Ähnliches. Es ist übrigens nicht so, dass die Innenstadt erkennbar an Besuchermassen verloren hat, seit sie das Ungetüm da eröffnet haben. Man sieht den Effekt nicht. Und er ist wohl auch bisher nicht so groß wie befürchtet, stand neulich irgendwo.

Die Temperaturen steigen hier gerade ins Frühlingshafte, aber an der Binnenalster wird die Weiße Flotte wieder zu winterlichen, weihnachtlichen Märchenschiffen umgebaut. Wie in jedem Jahr, die Arbeiten haben gerade begonnen. Ich ging an einem Stapel mit bereitliegenden Deko-Elementen vorbei, an einem stand: „Froschkönig von unten“.

Man konnte nicht gut erkennen, was es sein sollte, aber das ist bei Fröschen wohl so, nehme ich an. Insofern realitätsnah.

Schiffe der Weißen Flotte am Anleger Jungfernstieg

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Ansonsten hatte ich beim Spaziergang ungewöhnliches, fast lottosechsermäßiges Glück beim geshuffelten Musikhören und fand enorm viel Neues für meine Playlists. So dass ich am Nachmittag immer weiter und weiter ging, bis in die Dunkelheit und bis in die Randgebiete der Innenstadt. Und bis es sich dann nach einem sinnvoll verbrachten Sonntagnachmittag angefühlt hat. Because I squandered time, wie es Bill Nighy in seinem nach wie vor gerne gehörten Podcast „Ill-advised“ immer wieder und wieder und mit Nachdruck empfiehlt.

Wenn Sie sich für etwas traurigere Musik und für die etwas schrägeren Figuren im Umfeld von Indie und Americana interessieren, ist der folgende Clip etwas für Sie, allerdings auch nur dann. Micah P. Hinson mit seiner Version von „500 miles“.

Nur kurz, nur angedeutet. Aber gut.

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Dreierlei vom Sonnabend

Zum einen habe ich auf arte eine Doku über Syd Barrett und Pink Floyd gesehen. Das ist auch eine Geschichte über Kunst und Musik, über Drogen und über das Abdriften von Personen. Über Schicksale und über die Zeit, aus der ich komme, in der ich auf die Welt kam. Ich denke ab und zu darüber nach, was es für mich und meinen Lebenslauf, für meine Haltung bedeutet, aus genau dieser Zeit zu kommen, die so oft als besonders bemerkenswert geschildert und hervorgehoben wird Aber das Thema verlangt vermutlich eine Antwort in Familienromanlänge, und nach Familienroman ist mir gerade so gar nicht.

Eine interessante Frage ist es dennoch.

Es spannt jedenfalls einen Bogen, wenn man an diese Zeit denkt. Denn es war eine Phase der progressiven Welle, während wir nun, rund sechzig Jahre später, bei der erzreaktionären Welle angekommen sind. Und es nach jetzigem Kenntnisstand bedauerlicherweise auch noch ein klein wenig dauern wird, bis das Pendel wieder die andere Seite erreichen kann. Ich zweifle nicht an der Existenz der Pendelbewegung und an ihrer historischen, politischen und kulturellen Bedeutung. Ob ich den Rückschwung aber noch erleben werde, es erscheint mir zumindest als fraglich.

Es gibt etliche Theorien zur Bewegung dieses geschichtlichen Pendels, zu politischen und kulturellen regelmäßigen Wellen und Zyklen durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Nach den meisten Denkmodellen ist es eher unwahrscheinlich, die Wiederkehr des Pendels in nur einer Lebensspanne zu erleben. Unmöglich ist es andererseits aber auch nicht, denn all diese Theorien zu den bereits stattgehabten Zyklen sind nur Beobachtungen ex post. Sie legen daher nichts fest und lassen uns Gegenwärtigen etliche Möglichkeiten offen.

Falls Ihnen also morgen früh auf einmal nach einem kulturellen Backlash ins Progressive zumute sein sollte: Wir sind dann schon zu zweit. Und irgendwo müssen Mehrheiten ja anfangen. Just saying.

Zum anderen aber hörte ich eine der interessanteren Sendungen über Nostalgie, die dann seltsam zu den obigen Gedanken passte, nämlich beim SWR-Kultur-Forum: „Früher war alles anders – warum sind wir so nostalgisch?“ 44 Minuten, ich fand es interessant.

Drittens kam ich neulich schon beim Nachdenken über KI etc. zu dem Schluss, dass dem Menschengemachten mehr Raum ausdrücklich gewährt und eingeräumt werden muss. In einem sehr praktischen Sinne, und auch in meinem Leben. Weswegen ich eben über die Brücke und ins Museum ging. Ich habe hier immerhin alles um die Ecke und sehr greifbar.

Blick von der Ernst-Merck-Brücke auf die Gleise am Hauptbahnhof

Das Ausstellungsplakat für Anders Zorn in der Kunsthalle

 

Eine große Ausstellung der Werke des schwedischen Künstlers Anders Zorn (Wikipedialink) gibt es gerade in der Galerie der Gegenwart. Seine Hauptwerke malte der etwa um 1900, da haben Sie eine grobe Einsortierungsmöglichkeit. Ich kannte seinen Namen nicht, dabei hatte ich einmal eine gar nicht so kurze Phase, in der ich mich mit so etwas auszukennen meinte. Das Wissen von damals aber, es war mangelhaft, wie ich gestern erneut lernte. Denn Anders Zorn etwa, den hätte ich ruhig kennen können.

Die Ausstellung ist ebenso groß wie kurzweilig. Ungemein lebendige Porträts, bei denen sich Parallelen zur modernen Porträtfotografie spontan aufdrängen, auch Instagramgedanken sind vor manchen Werken nicht abwegig.

Querverbindungen zur neulich erst gesehen  Doku über John Singer Sargent auf arte bieten sich nebenbei auch an. Er hatte wohl einen modernen Blick, der Herr Zorn. Hier im Selbstporträt.

Ein fotografiertes Gemälde, ein Selbstporträt von Anders Zorn

Ich könnte jetzt – allerdings habe ich es nicht versucht, ich theoretisiere nur herum – ein Bild von mir oder einem mir lieben Menschen nehmen, es durch eine KI jagen und sagen, sie solle mir ein Gemälde im Stile von Anders Zorn daraus machen. Vermutlich wäre das Ergebnis ziemlich beeindruckend, vermutlich würden wir staunen, was die Software da kann.

Aber wie viel großartiger ist es, vor diesen Bildern zu stehen und zu denken: Das hat der echt gemalt. Stundenlang, tagelang, der konnte das und guck mal, hier ist das Ergebnis. Mit der Hand, mit seinem Blick, mit seiner Einschätzung der Personen und sicher auch mit der Gesprächsführung bei den Porträtsitzungen. Es ist dann doch ein anderes Staunen, das ich vor solchen menschengemachten Werken erlebe.

Ein fotografiertes Gemälde, ein Porträt einer Dame von Anders Zorn Ein fotografiertes Gemälde, ein Porträt von Anders ZornEin fotografiertes Gemälde von Anders ZornBesucherinnen vor Bildern von Anders Zorn, hier die Porträts des Ehepaars Liebermann

Man wird die KI nicht mehr wegbekommen und es ist ja auch im Ernst unfassbar, was die etwa bei Bildern zustande bringt, aber man kann und sollte andererseits dafür sorgen, dass wir die menschlichen Künstlerinnen und Künstler auch nicht wegbekommen. So kann man sich etwa den Besuch von Ausstellungen nun schon als Akt der Gegenwehr erklären, denke ich. Und Gegenwehr, da stehen wir doch drauf.

Den Herrn Zorn fand ich dann dermaßen ansprechend, ich habe nach dem Besuch der Galerie sogar Merch im Museumsshop gekauft, das habe ich wohl seit Jahrzehnten nicht mehr getan.

Sie können sich diese Ausstellung auch dann ansehen, wenn Sie einen konventionellen oder eher unkundigen Kunstgeschmack haben, sie wird Sie wahrscheinlich dennoch begeistern. Ich unterstelle das aber auch, wenn Sie einen betont arrivierten Geschmack und bedeutend viel Ahnung haben. So eine Ausstellung ist das nämlich.

Läuft noch bis zum 21. Januar im zweiten Stock der Galerie der Gegenwart. Die norddeutschen oder reisewilligen Leserinnen und Leser fühlen sich bitte angemessen geschubst.

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Wasn’t this supposed to be a musical?

Vorweg ein Dank für frisch zugesandte Bücher! Post von Leserinnen oder Lesern ist meist die beste Post, ach was, ist immer die beste Post.

Bücher von Maar und Forster, siehe Text

Zwei Bücher vom Wunschzettel. Im Bild E. M. Forster mit einem schmalen Band: „Die Maschine steht still“ (Verlagslink), Deutsch von Gregor Runge. Nach dem Text auf dem Buchrücken ist es die früheste Beschreibung des Internets, lange bevor es auch nur die ersten Computer gab, eine Dystopie.

Und dann noch Michael Maar mit „Das violette Hündchen – große Literatur im Detail“ (Verlagslink). Eine voluminöse Abhandlung, es wird mir sicherlich ein Fest sein.

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Wenn man Titelsammlungen wie die gestern hier gepostete per KI recherchiert, wenn man also mit einem anständigen Prompt, den man länger durchdacht hat, nach Songs sucht, in denen es beispielsweise um Anrufe in die Vergangenheit geht, ist im Ergebnis bei den großen Anbietern etwa ein Viertel falsch, da inhaltlich deutlich unzutreffend. Es geht in den aufgezeigten Liedern nicht um das entscheidende Telefon, es geht vielleicht auch nicht um Liebe usw. Etwa ein weiteres Viertel ist frei erfunden, komplett halluziniert, lediglich aus Wahrscheinlichkeiten plausibel klingend zusammengebastelt. Was aber, zugegeben, fast schon eine eigene Kunstform ergibt, im Sinne von „Titel, die bei Hildegard Knef plausibel gewesen wären.“ Aber es gibt die Songs nicht mit diesem Titel, nicht von diesem Menschen.

Etwa die Hälfte oder vermutlich noch weniger ist richtig. Das ist besser als es noch vor etwa einem Jahr war, okay. Man kann das im Ergebnis für viel oder eher für wenig halten, in jedem Fall aber gilt, dass es mehr einfach nicht ist. Wie man es auch dreht und wendet: Überwältigend ist das nicht gerade.

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Draußen laufen in dieser Saison und zumindest in der Stadtmitte weniger Halloween-Fans in Kostümchen herum als im letzten Jahr. Ich vermute, das ist ein Fall von schwer zu ergründenden Großstadtrhythmen, dass es mal üppiger und mal knapper ausfällt, oder gibt es da noch andere Deutungen? Gibt es einen sinnigen Hinweis auf weniger Partys in diesem Jahr? Mir ist nichts bekannt. Wie auch immer, wir verzeichnen in der Chronik gelassen eine geringere Geisterdichte. Es stört keinen großen Geist, wie ein berühmtes schwedisches Mädchen gesagt hätte [edit: von wegen, es war ein Junge, wie sich herausstellt].

Auf den Wegen habe ich nun wieder mehr Platz, die Außengastro zog sich zurück. Die Stühle und Tische wurden weggesammelt und über mir wird in diesen Tagen die große Winterdeko auf ihre stabilen Strippen gezogen. Tausende von Lichtern werden montiert und wir rücken alle wieder ein Feld vor, auf der Ereigniskarte steht Vorweihnachtszeit. Erste Schaufenster schalteten bereits komplett in den Christmas-Modus und im Discounter wurde der Weihnachtsware ein weiteres Regal eingeräumt, die Lebkuchenauswahl wurde vergrößert. Alles geschieht so pünktlich, wie es die Bahn einmal war.

Ich sehe nach dem Feiertagsspaziergang an Alster und Elbe im großen Park nach, und richtig, in Planten un Blomen ist auch schon wieder Betrieb auf der Eisbahn. Man kann gleiten, stürzen, lachen und tanzen, friedlich inszeniertes Großstadtwinterleben.

Menschen auf der Eisnbahn in Panten un Blomen am Abend

Menschen auf der Eisnbahn in Panten un Blomen am Abend

Ich lehne mich auf der oberen Ebene an die Brüstung und sehe eine Weile auf die Menschen auf dem Eis hinunter. Wie sie da kreisen und sich manchmal in die Arme, manchmal auch in die Quere laufen. Aus meinen Kopfhörern singt Billy Joel dazu äußerst passend:

„Where’s the orchestra?

Wasn’t this supposed to be a musical?

Here I am at the balcony

How the hell could I have missed the overture?”

Denn es ist nun einmal so: Wenn nur lange genug herumgeht und dabei Musik hört, dann passt irgendwann ein Stück perfekt zur Szenerie. Und dafür gehe ich meilenweit, wie man so sagt.

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Ach, das Schöne an der Shuffle-Funktion

Die Mehrheit von Ihnen wird heute keinen Feiertag haben. Aber die Menschen in Hamburg geben sich verhaltensauffällig und tun so, als hätte der Reformationstag eine tiefe, zu würdigende Bedeutung für sie. Und warum auch nicht, andere tricksen mit anderen Feiertagen und Festen. Es gibt nach wie vor gewisse Bundesländer da unten (der Autor fuchtelt unwillig in Richtung Südelbien), in denen es zwei Feiertage mehr im Jahr gibt. In jedem Jahr. Ungerechtigkeiten überall.

Während ich am selbst für mich allzu frühen Morgen im Badezimmer vor dem Spiegel stehe, nach einer Woche, in der es nennenswert zu wenig Schlaf und deutlich zu viel von nahezu allem anderem gab, während ich da also stehe und mich noch bemerkenswert gedankenlahm frage, wie müde und verbraucht ein Mensch an einem Feiertagmorgen aussehen kann, shuffelt mir das so oft trostreiche Smartphone die passende Textzeile aus einem Song zu:

„We are ugly, but we have the music.”

Nicht schlecht, Zufall, denke ich da anerkennend und immerhin auch dezent amüsiert, wirklich nicht schlecht.

Es ist ein Lied, welches mir am Herzen liegt. Schon wegen der Zeile „You told me again, you preferred handsome men, but for me you would make an exception.“ Welche mir in nahezu wörtlicher Übereinstimmung in diesem Leben bereits begegnet ist: Man macht was mit und kein Tag ohne Demütigung, es treffen beide Regeln zu.

Ich weiß bis heute nicht, ob es sich dabei damals um ein halbwegs witzig gemeintes Zitat handelte oder um ein lediglich zufällig mit dem Songtext übereinstimmendes, wahr empfundenes Statement. Ich tendiere aber zu der zweiten Deutung, versteht sich.

Der Schriftzug "Liebe" als Grafitti an einer Wand

Längst habe ich keinen Kontakt mehr mit jener, es gibt keine Möglichkeit der späten Aufklärung. Wobei späte Aufklärungen, so jedenfalls mein Verdacht, ohnehin eher kategorisch nicht anzustreben sind und Wiederbelebungen aller Art eher unterbleiben sollten. Womit ich mich textlich auf einmal unerwartet Halloween und den Untoten annähere, was macht das Unterbewusstsein da nun wieder.

Wiederbelebungen jedenfalls, wie sie etwa Tom Waits in „Martha“ so berühmt und selbstverständlich auch so schön und rührend besungen hat, sie sollten in Songs bleiben. Da gehören sie hin, da klingen sie romantisch, da haben sie eine Chance und einen Wert.

Er ruft die alte Liebe an, und „It’s been forty years …“, hören wir – meine Güte, überlegen Sie mal. Vierzig Jahre. Lass bloß die Finger von dem verdammten Telefon, möchte man da doch mit Vehemenz raten.

Es gibt ein todtrauriges Cover dieses Songs von Mick Flannery, treffend und angemessen, das depressive Element stark betonend.

Oder aber man interpretiert es ganz anders, wie etwa Sam Harris hier, bühnentauglich, theatralisch und dabei nicht weniger verzweifelt:

Ich habe, aber das erzählte ich bereits einmal, die große, die aus jugendlicher Sicht ganz große Liebe von vor langer, langer Zeit beim Wiedersehen in einem größeren Kreis nicht einmal erkannt. Und sie dann im Gespräch irgendwann wie irgendeine Fremde nach ihrem Namen gefragt. Ich wäre in den Minuten danach an der Peinlichkeit gerne gestorben, und ich finde es, obwohl es mittlerweile auch schon wieder Jahre her ist, immer noch schmerzhaft. Es hat mich von allen Wünschen, solche Anrufe jemals zu tätigen, gründlich geheilt.

Beachten Sie, wenn wir schon dabei sind, bitte auch die selbstverständlich unschlagbare Originalversion des Liedes von Tom Waits. Er war erst 23 Jahre alt, als er es schrieb und aufnahm. Dann die Version von Tim Buckley, in der die zeitliche Distanz auf etwas überschaubarere zwanzig Jahre verkürzt wird. Sowie, besonders nuancenreich, Bette Midler, bei der aus dem singenden Tom Frost kurzerhand Betsie Frost wird.

Auf den Plätzen ferner Lee Hazlewood, der sowieso allem eine besondere Note gibt, und Freddie White, bei dem man etwas Irland aus dem Tonfall heraushören kann.

Es ist aber, wenn man erst einmal anfängt, sich damit zu beschäftigen, ein ganzes Genre, das sich auftut. Wenn man über Songs nachdenkt, die sich mit Anrufen in die Vergangenheit beschäftigen, könnte man auch einmal eine Playlist dazu anlegen.

Ein Genre ist es, in das dann in einem weiteren Sinne auch Adele mit „Hello“ gehört: „But I ain’t done much healing“. Wer hat das schon, Adele, wer hat das schon.

Oder die neulich erst verlinkte Laura Marling mit der Gegenposition in „Caroline“, die als Angerufene singt. Mir fällt gerade keine andere Version ein, in der es so gedreht wird: „I‘d like you not to call again.“ Eine vernichtende Zeile, Laura Marling ist eine herausragende Texterin.

Was noch … Jim Croce natürlich, mit „Operator“, zeitlich und textlich nah an Tom-Waits-Song dran oder umgekehrt.

“Operator, well, could you help me place this call?
See, the number on the matchbook is old and faded,
She’s living in L. A. with my best old ex-friend Ray
A guy she said she knew well and sometimes hated.”

Die Älteren tauschen an dieser Stelle kurz wissende Blicke aus und erinnern sich angemessen wehmütig an handgeschriebene Nummern auf Streichholzschachteln und ähnlichem Material. Ach ja.

Die deutschen und französischen Versionen von Martha sagen mir nicht zu, aber ich schließe das Kapitel mit einem anderen großen deutschen Telefonsong, komplett mit Wählscheibengeräusch am Anfang und einem enorm anschlussfähigen Text, der die alles entscheidenden Zeilen enthält: Nämlich „Ab dafür“ und „Muss ja auch nicht.

Ich gehöre da vielleicht einer Minderheit an, aber ich finde immer noch, Stefan Remmler („das einzige noch lebende Mitglied der Band“, wie die Wikipedia trocken anmerkt) hat als Texter ein paar sehr gute Momente gehabt.


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