Wie man auffällt

Neulich im Hauptbahnhof. Genauer in der Grand Hall. Als ich dort in der neuen Rolle des Percy Puddletree am frühen Abend etwas unwürdig Pizza essend herumstand und um mich herum wie üblich die halbe Stadt durcheinanderlief, habe ich überlegt, wer dort eigentlich auffällt. In dieser unüberschaubaren Masse der Vorbeieilenden. Unter den Passanten, im Volk, zwischen den Komparsen meiner erlebten Szenen. Das sind vielleicht weniger Menschen, als man zunächst denkt. Es sind etwa nicht jene mit gewissen körperlichen Besonderheiten. Es sind nicht große Leute, kleine Leute, dicke Leute, dünne Leute, wie es im Kinderlied heißt.

Nein, nach denen dreht man sich nicht um. Und es sind auch nicht die, welche gerade etwas machen. Selbst dann nicht, wenn sie weinen oder lachen, was beides nicht so häufig vorkommt. Die fallen mir vielleicht auf, weil ich auf so etwas genauer als andere achte, denn es könnte immerhin einen Text ergeben. Aber sonst guckt mit großer Wahrscheinlichkeit kein Schwein.

Wenn Sie im Hauptbahnhof auffallen wollen, wird es also vermutlich nicht reichen, dass sie einfach sind, wie sie sind. Ganz egal, für was Sie sich halten und wie Sie sich finden. So schön sind Sie in Wahrheit nicht, so hässlich sind Sie auch nicht, so wild fällt Ihr Bad-Hair-Day nicht aus, so seltsam sehen Sie ungeschminkt nicht aus und so schick haben Sie sich dann doch nicht gemacht. So charismatisch sind Sie nicht und vermutlich auch sonst einfach nicht seltsam genug. Nehme ich jedenfalls stark an.

Sie und ich, wir gehen da vielmehr einfach unter, in diesen zigtausend anderen Menschen, die blicklos um uns herum wimmeln.

Sie fallen aber auf, also so, dass man sich vielfach, hundertfach und öfter nach Ihnen umdreht, wenn Sie dort als offensichtlich zeitreisender Mensch auftauchen. Wie etwa jene Frau im Mittelalterkostüm, die man direkt von einem Marktplatz im 14. Jahrhundert hierher gebeamt zu haben scheint. Und die nicht nach dem üblichen und oft etwas lieblosen Mittelaltermarktkostümstandard aussieht, sondern seltsam echt. Es umgibt sie eine schwer zu beschreibende Wirkung, eine merkwürdige Aura, bei der man unwillkürlich denkt: „Moment mal …“


Oder wie die beiden Herren aus dem viktorianischen London, die sogar mehrere Gepäckstücke aus ihrer Zeit dabeihaben. Und die wirken, als seien sie soeben aus einem Dickens-Roman in diese Szene gefallen. Oder gerade noch im Versuch begriffen, diese Stadt auf einem Zwischenstopp bei einer abenteuerlichen Reise um die Welt zu besuchen, für die sie vielleicht nur achtzig Tage Zeit haben. Natürlich, da könnte der nahe Hafen eine Rolle spielen.

Für ein Reiseabenteuer allerdings wirken sie irritierend entspannt, und der eine stopft sich seine Pfeife geradezu aufreizend langsam. Sieht sich gelassen dabei um, mit einer Selbstsicherheit im Blick, wenn nicht sogar mit einem gewissen Klassendünkel, welcher dermaßen selbstverständlich wirkt, dass man sich auch bei dem fragt: Wie echt kann man denn bitte wirken?

Mir fällt beim Kauen und Gucken ein, dass man denken kann, was man will. Also beschließe ich, dass es echte Zeitreisende sind, diese drei sonderbaren Menschen. Und die Grand Hall im Hauptbahnhof ist also aus Gründen, die herauszufinden noch ansteht, offensichtlich eine beliebte oder aber auch notwendige Station bei denen.

Kreideschrift auf dem Pflaster: "Du weißt"

Erst als ich wieder zu Hause bin, fällt mir ein, wonach ich in dieser halben Stunde nicht Ausschau gehalten habe. Wie ein bemerkenswert dummer Anfängerfehler im Denken kommt es mir im Nachhinein vor. Denn ich hätte doch die Menge weiter genau prüfen müssen, und zwar vor dem Hintergrund der leider nicht rechtzeitig von mir gestellten Frage: Wer kommt hier aus der Zukunft?

Das also demnächst nochmal abchecken. Und dabei lieber gut und mit aller Vorsicht überlegen, ob man die dann etwas fragt oder nicht, diese Menschen von morgen. Wobei – wenn ich die gar nicht finde, auch nach längerer Suche nicht, heißt das dann … Oh, oh.

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Anmerkungen zur Langlebigkeit, zum Autokauf und zur Medienkunde

Meine Mutter: „Wenn ich morgen versterben sollte …“

Ich: „Also Moment mal bitte, morgen passt mir nun wirklich überhaupt nicht!“

Meine Mutter: „Ja, das will ich dann natürlich berücksichtigen.“

Eventuell habe ich gestern eine weitere Methode gefunden, auf recht leichte Art ein bemerkenswert hohes Alter zu erreichen? Da mal weiter dranbleiben.

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Dann zu einem Thema, zu dem ich nur einen ausgeprägten Negativbezug habe. Etwa im Sinne von: „Hoffentlich muss ich mich damit nicht auch noch demnächst befassen.“ Weil mich kaum etwas so wenig interessiert wie Autos, also abgesehen von Fußball, versteht sich. Vanessa kaufte ein Auto, und einfach war es wohl nicht.

Wie bei allem, was sie beschreibt, ist es aber interessant und lesenswert, auch für mich als ausdrücklich Desinteressierten. Man kann durch Blogs eben auch zu Gedanken über Themen außerhalb der Komfortzone der eigenen Interessen geinfluenced werden. Keineswegs nur zu Produkten, Reisen und Trending Audios on Instagram oder wo auch immer.

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Ich bin außerdem bei einem Event in dieser Stadt neulich etwas unvorsichtig an den Kameras des NDR vorbeigestrolcht, wodurch ich etwa für eine halbe Sekunde bei denen im Bild war. Zwei Schritte lang, anderthalb vielleicht nur. Ein schwarz angezogener Mann deutlich jenseits der besten Jahre, mit hochgezogenen Schultern in der kompakten Dunkelheit des Novemberabends. Eher undeutlich zu sehen und auch nur sehr kurz. So kurz jedenfalls nur, dass ich, als ich den Beitrag später zufällig online sah, selbst nicht sofort sicher war, ob ich das am Ende war oder einfach irgendwer in halbwegs ähnlicher Ausprägung. In meiner Altersklasse gibt es immerhin ein paar mehr in diesem Land und in dieser Zeit.

Dieser grummelig guckende Schrat da im eiligen Vorbeimarsch, dachte ich, so sieht das dann also für andere aus, wenn ich durch meine Reviere geistere. Es war eine wenig ermunternde Erkenntnis, es war eher eine Folge aus der beliebten Reihe: „Kein Tag ohne Demütigung“, aber wer sieht sich schon gerne im Fernsehen. Also abgesehen von denen, die dort beruflich auftauchen. Egal, dachte ich dann, es ist am Ende egal, denn es merkt ja sowieso keiner. Diese halbe Sekunde, die versendet sich sicherlich.

Aber gleich am nächsten Tag strahlte mich prompt eine der Kassiererinnen auf meiner täglichen Einkaufsrunde sichtlich begeistert an, als ich den Laden betrat: „Sie waren im Fernsehen! Ich hab’s gesehen!“

Und genau das wollte ich nur kurz zur stets interessanten Frage anmerken, welches Medium wie wirkt, denn es hat mich doch etwas beeindruckt. Einige Regeln von damals, also aus der schon fernen Zeit, als wir alle noch zur gleichen Zeit das Gleiche im Fernsehen gesehen haben, sie gelten wohl doch noch.

Ich fand es staunenswert.

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Postkartenmäßiger Blick von der Kennedybrücke in Richtung Rathaus

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Klemmknoten, Kletterknoten, Schleifenarten

Ansonsten fehlt mir gerade in einem auch für mich ungewöhnlichen Ausmaß die Zeit, kommen meine Tage gerade nicht hin, holpert der bewährte Rhythmus bis zur Unkenntlichkeit und löst sich ein größerer Knoten einfach nicht.

Nun gibt es grundsätzlich zwei Sorten von Knoten in Lebenssituationen. Zum einen die, bei denen man sich mit größerem zeitlichem Abstand, Jahre später vielleicht erst, denkt, dass man damals doch einfach dies oder das hätte machen können. Eine Art verspätete Selbstanklage im Rückblickkonjunktiv wird das dann oft, die sich aber auch simpel umdeuten lässt zu: Wie doof warst du denn bitte in dieser Situation? Du hättest doch? Du Trottel.

Ein Aufkleber auf einer Lampe im Alstervorland: Leuchte nicht in Betrieb

Dann sitzt man auf dem Sofa, schlägt sich an den Kopf, ringt die Hände und grämt sich, ob der auf einmal so offensichtlichen Unfähigkeit dieses früheren Ichs. Mit dem man nicht immer gnädig umzugehen gewillt ist. Sie werden es kennen, nehme ich an.

Dann wieder gibt es die Knoten, bei denen man auch im sorgsam durchdachten Rückblick, auch im Urteil anderer und sogar im Urteil der härtesten, unerbittlichsten Selbstkritik dabeibleibt: Ja, das war echt schwierig in jener Phase. Da musstest du eben durch, da war damals einfach nichts zu machen. Es gibt Jahre, da tuste bei, um kurz einen Insider für ältere Mitlesende anzubringen.

Solange man aber noch live dabei ist und sozusagen gerade am Knoten herumfummelt, ist es wohl nicht gut möglich, sich ganz und gar sicher zu sein, welche von den beiden Arten man da diesmal vor sich hat. Oder mir zumindest fehlt das notwendige Erleuchtungsniveau.

Menschen, die sich auf eine manchmal etwas peinliche Art möchtegernmaritim einrichten, haben manchmal so ein Knotenbrett im Flur oder über dem Sofa im Wohnzimmer hängen. So ein Zierbrett, auf dem verschiedene Arten von Seglerknoten entweder abgebildet oder gar aus Bindfäden dreidimensional nachgebildet sind. Die waren auch bei den Rentnerinnen und Rentnern in Travemünde ungeheuer beliebt, diese für die Küstenstimmung zuständigen Dekogebilde. Mit Mahagonirahmen, nautischen Symbolen und allem, so etwas hatte man ausgesprochen gerne an der Wand. Und zwar selbst dann, wenn man ansonsten nicht einmal Steuerbord und Backbord unfallfrei unterscheiden konnte.

Damals, als ich dort noch gewohnt habe.

Eine Knotentafel für Lebenslagen gibt es dagegen wohl nicht. Zumindest habe ich noch nie eine gesehen. Ich wäre aber gerade interessiert, sogar an verschiedenen Ausführungen. Beziehungsnoten, Berufsknoten, Overthinkingschleifen und dergleichen. Die Klemmknoten der Zweisamkeit, die Kletterknoten der Karriere, die Schleifen der Schwermut

Und gleich kommt mir die naheliegende Frage in den Sinn – verblogge ich hier nur irgendeine beliebig spinnerte Morgenidee oder lasse ich eine naheliegende Marktlücke aus? Ginge da am Ende was?

Ach, wenn doch nicht alles immer gleich eine Denksportaufgabe wäre. Aber es bleibt so, ich weiß. Der Sänger hier unten sang noch mit über 80 Jahren davon.

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Von hier aus gut

Ich lese weiter in Simenons „Pedigree“, seinem mehr oder weniger autobiografischen Roman. Die darin beschriebene Familie, seine Familie oder eine, die seiner zumindest stark ähnelt, ist arm. Nicht gerade bitter- oder bettelarm, aber doch eindeutig unterhalb der Mittelschicht. Man hat also nicht viel, abgesehen von Sorgen, und wie immer bei Simenon wird es gut vorstellbar geschildert, wie der Alltag abläuft, wenn man nicht viel hat und wenn auch nicht viel passiert, diese leeren Stunden. Simenon schafft es bei mir immer, dass der innere Film ohne zu ruckeln und außerdem stets in Farbe, scharf und mit allem läuft. Es gibt gar nicht so viele Schreibende, bei denen das so ist. Ich lese viele Bücher, ohne dabei ein interessantes inneres Bild zu entwickeln. Oder zumindest kein allzu deutliches.

Auch darin übrigens unterscheiden sich Menschen erheblich voneinander, in dem, was sie beim Lesen wie von selbst sehen oder aber sich bemüht vorstellen. Das fällt vermutlich viel diverser aus, als man zunächst denkt. Ich habe es schon einmal irgendwo geschrieben, dass ich etwa Räume und Gebäude, die Kulissen aus den Romanen also, meist präzise und detailreich vor mir habe, Personen und Gesichter aber nicht. Bei anderen ist es andersherum usw.

Aber das nur am Rande.

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Auf arte läuft die Serie „Patrick Melrose“ mit Benedict Cumberbatch, und ich bin zwar erst am Anfang, aber ich denke, die ist gut.

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Ich hörte einen Podcast über das Alter beim SWR, 29 Minuten,  in dem es um unser Altersbild ging. Um unsere Vorstellung vom Älterwerden, wie diese Vorstellung den Verlauf beeinflusst. Mit der markanten Formel: „Menschen, die positiv auf diese Lebensphase blicken, leben länger.“

Beim Hören fiel mir auf, worüber ich vermutlich noch nie nachgedacht habe, weil es mir so lange schon selbstverständlich ist, nämlich dass ich bezüglich der angenommenen späteren Seelenlage durch mein Schreiben ein ausgesprochen positives Altersbild habe. Schreiben kann ich im besten Fall fast immer. Beim Schreiben kann ich mich zumindest in der Theorie auch immer weiter verändern, vielleicht sogar noch verbessern, in jedem Fall aber angenehm und tagesfüllend beschäftigen. Und dazu noch mit immerhin gefühltem Sinn betanken. Auch dieses Immerhin ist gar nicht so klein.

Sogar Kontakt zur Außenwelt kommt dabei, wenn man das denn möchte, auf die eine oder andere Art zustande.

Zum Schreiben braucht man außerdem, siehe Spitzweg und sein „Armer Poet“, weder viel Geld noch viel Komfort. Es scheint mir also, zumindest von der Gegenwart aus betrachtet, eine ausgesprochen günstige Beschäftigung für die seniorigeren Jahre zu sein. Es ist auf jeden Fall einer der entscheidenden Gründe, warum ich das Alter nicht als drohende Zone der Verelendung im Kopf habe, zumindest bisher nicht.

Das kann auch anders kommen, ich weiß, aber nun. Ich kann es nur von hier aus betrachten, und von hier aus sieht es jedenfalls noch gut aus. Da es aber so viel gar nicht gibt, was von hier aus betrachtet gut aussieht, will ich mich daran erfreuen, solange die Aussicht das hergibt.

Und wenn es sich ändern sollte: Na, ich werde nach Möglichkeit berichten.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Be Happy

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Vor und nach der hellen Stunde

Eine unterhaltsame Instagram-Empfehlung ist der Account „Myartbroker“. Auf dem es eine ganze Reihe von Filmchen gibt, in denen eine Frau mit dem faszinierend filmreifen Namen Erin-Atlanta Argun in stets auffälliger Kleidung Passanten die immer gleiche Frage stellt. In einer überartikuliert klaren Aussprache, die man von Sprach-Cassetten aus den Siebzigern zu kennen meint: „Excuse me, can I ask you a question about art?“

Wird das bejaht, folgt stets: „If you could own any kind of art in the world, what would it be and why?

Es gibt dann selbstverständlich vorhersehbare, gewissermaßen brav und durchschnittlich anmutende Antworten, die bei Van Gogh, Monet, Chagall etc. landen. Bei all dem also, was man als Poster, Postkarte, Kalender und Bettwäsche überall kaufen kann, und ja auch nicht zu Unrecht. Ich will es nicht kritisieren, es ist vollkommen in Ordnung, Van Goghs Sonnenblumen anzubeten. Und es gibt erfreulicherweise keine Pflicht, einen cooleren Geschmack zu haben.

Es gibt aber auch etwas abgedrehte Antworten, die man dann vielleicht noch interessanter findet. Es gibt Verweise auf unbekanntere Kunstwerke und manchmal höchst persönliche Bezüge. Und es gab den einen Typen, der kurz überlegte, was wohl gerade am meisten wert sei – um das dann zu verticken und das Geld einzustreichen. Das halte ich für eine gut nachvollziehbare Fantasie.

Ein Aufkleber an einem Laternenpfahl "Moin Giorno", darüber angeklebte Strickblüten

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Am Sonntagmorgen erwischt auch mich die übliche norddeutsche Winter-Irritation. Der Zusammenhang zwischen Uhrzeit und Blick aus dem Fenster wirkte gegen halb acht am Morgen seltsam unplausibel. Gefühlt hätte es heller sein müssen, und gefühlte Wahrheiten, das wissen wir alle, gelten viel in unseren Zeiten, gelten mehr als fast alles. Vor dem Fenster aber sah ich weiterhin die Nacht in der unerbittlichen Novemberversion, eine schwarzgraue Decke über der Stadt, und nur funzelhaftes Fensterleuchten hier und da darunter.

Ich sah online nach, wann die Sonne aufgeht, und kam wieder zu meiner These, dass wir gemeinsame Wahrheiten verlieren. Denn ich fand auf Anhieb sechs (!) verschiedene Angaben zum Sonnenaufgang in Hamburg an diesem Tag. Früher, so möchte man da doch ausgesprochen boomerhaft und lebhaft krückstockfuchtelnd anmerken, früher stand diese Zeit jeweils kleingedruckt am Rand unserer Notizbuchseiten. Und wir haben die dann einfach geglaubt, das war dann eben so. Für alle! Denn dort stand es ja, guck!

Heute aber findet jeder irgendwo irgendwas. Die Wahrheit ist zu einem bloß noch geschätzten Mittelwert von Fundstellen herabgesunken. Einmal mehr und einmal weniger akribisch ermittelt, denn wer hat schon die Zeit, die Lust und die Kompetenz.

Im Wetterbericht tauchte währenddessen die erste Schneeflocke auf, wo sie sich allerdings noch rechts am Bildschirmrand im Unwägbaren verlor. Vielleicht aber muss ich mich ein wenig ranhalten mit meiner „Winter ohne Weihnacht“-Playlist.

Am Abend, also nach der gefühlt etwa einstündigen Helligkeit, hörte ich die ersten Silvesterraketen hinter unserem Haus. Als hätte ich zwischendurch ein paar Wochen verpasst, als hätte ich schon wieder zu konzentriert gearbeitet oder Musik gehört oder Gott weiß was gemacht. Aus Gründen jedenfalls nicht aufgepasst, man kennt das.

Kurz darauf heulten Wölfe in der tiefen Dunkelheit unten auf dem Spielplatz. Im besten Fall waren es Kinder, die dort in der Dunkelheit Wolfsrudel spielten, das Heulen dabei verblüffend gut trafen und auch lange durchhielten. Eigentlich zu lange für ein Kinderspiel. Im schlechtesten Fall war es eine schnelle Eskalation, denn neulich erst wurde wieder ein Wolf irgendwo am Stadtrand gesichtet. Nun schon ein Rudel in der Stadtmitte, das apokalyptische Szenario tritt da doch etwas deutlicher hervor.

Aber egal! Ich stand unbeeindruckt am kurz geöffneten Fenster und schloss es einfach wieder. Denn ich habe bildungsbürgerlich längst vorgebaut und irgendwo Tolstois berühmte Schneesturmgeschichte im Regal stehen. Ich müsste das Buch nur etwas suchen, ich weiß, dass es da ist. Vielleicht in zweiter Reihe, aber es wird doch zu finden sein. Ich sitze hier oben also auch in grimmen Novembernächten in Sicherheit und kann stets Passendes lesen, während draußen das Unheil dräut und heult und winselt.

Das Immerhin des Tages fiel damit wieder besonders günstig für mich aus, so können auch Novemberwochenenden in brauchbarer Weise enden. Von denen es ohnehin nur noch zwei geben wird, wir werden es wohl bewältigen können.

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But honey, all that’s gone

Es ist Musiksonntag, den ich heute passend zum Monat bespielen möchte. Zum November abzüglich der Weihnachtsmarktaufbaubemühungen, also zum puren, tristen, grauen November. Wie er gehört und sich für manche, etwa für mich, auch gut und passend anfühlt. Dazu gehören dann selbstverständlich Songs mit deutlichen Nostalgie-Eintrübungen, mit mehr oder weniger schmerzhaften Rückblicken, wehmütigen oder bitteren Erinnerungen und überhaupt mit gesungenem Bedauern aller Art. Ach, hätte ich doch, ach, hätten wir doch. Aber man hat ja nicht, wir haben ja nicht, Nun ist es eben, wie es ist, so etwas kommt von so etwas, im November fällt es besonders auf. Und die Haare werden dabei auch schon großstadtnebelgrau.

Solche Lieder meine ich. Mal etwas gnädiger und milder, mal etwas verzweifelter und verlorener ausfallend.

Was ich aus meiner Sammlung in diese Schublade stecken kann, das ist allerdings recht viel. Die Liste umfasst bereits fast 50 Songs, und dabei wird sie noch weiterwachsen. Ich scheine also eine ausgeprägte Neigung zu diesem Untergenre zu haben. Die hatte ich allerdings immer schon, nicht erst nach dem Ablauf von ein paar Jahrzehnten, Misserfolgen, Beziehungen etc.

Direkter Link zur Playlist „Nostalgia“ hier, nachfolgend eingebettet.

Ich muss früh wohl schon gemütsalt gewesen sein, zumindest geschmacklich. Es sind oft Ton- und Satzfolgen für mich, die sich seelenheimatlich anfühlen.

Obwohl Klassiker des Genres gerade die Mehrheit stellen, oft mit den mir genehmsten Coverversionen daneben, sind vielleicht auch noch Entdeckungen für Sie dabei. Etwa Andrew Bird mit „Cathedral in the Dell“ oder Brett Anderson mit „A different place“:

“I thought I’d write you a letter,
about all of the things that have changed
Since the days when we were king and queen,
Of all of we surveyed.

Went in all the coolest places, wore the future in our skin,
And we stood outside on winter nights
And smoked ourselves thin.
And we were clever and cynical and fashionably bored,
We were walking and talking, time out in New York.

But, honey, all that’s gone,
Baby, all that’s gone.“

Zu entdecken sind auch Chris Staples mit „Always on my mind“ oder Bill Fay mit dem schlichten „Arnold is a simple man”.

Oder aber der Mann, der die Kernbotschaft dieses Schubladeninhalts in einer einzigen Zeile zusammenfasst, nämlich Daniel Norgren: „Everything you know melts away like snow.

Wenn Sie ab und zu mal wieder auf diese Playlist sehen, in einigen Wochen vielleicht, dann wird es dort sicher noch mehr geben. Oder auch einige Lieder schon nicht mehr, denn Playlists führen bei mir ein Eigenleben und passen sich fortwährend an.

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Währenddessen nimmt aber, November hin oder her, die Verholzhüttung der Innenstadt stark zu und der Dezember drängt wie immer mit Vehemenz in den Monat vor ihm ein und wird auch den nach ihm noch schwer belasten, wir kennen das. Eine übergriffige Angelegenheit ist dieser herandrohende Dezember und als Monat ohne Weihnachten kaum zu greifen. Wie überhaupt der „Winter ohne Weihnacht“, es ergibt sich fast von selbst, noch vor Ablauf der Jahreszeit eine eigene Playlist wert ist. Mit gar nicht so vielen Fundstücken, nehme ich an.

Die Holzhütten stehen mir im Weg, buchstäblich auf meinen Spazierstrecken stehen sie. Wie in jedem Jahr nehme ich es indigniert zur Kenntnis. In Kürze stehen da auch die zuverlässig angetrunkenen Stadttouristenmassen und dazu dann noch die vielen, vielen Terrorsperren aus Betonklötzen. Es sind wieder mehr als im letzten Jahr und sie stehen auch an neuen Stellen, es sind noch mehr in meinem Weg.

Die Hütten des Weihnachtsmarktes auf dem Gänsemarkt

Eine noch geschlossene Bude auf dem Weihnachtsmarkt am Gänsemarkt

Als ginge es neben der Terrorabwehr auch darum, die glühweinselige Gesellschaft vor meiner grinchmäßigen Laune zu schützen. Aber ich sickere durch, denke ich mir, als ich zwischen den Klötzen durchschreite.

Auf dem Weihnachtsmarkt um die Ecke immerhin, ich lese es doch gerne, sind laut Beschilderung Fremdenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit und Hass verboten. Ich gucke da auch etwas freundlicher, wenn ich vorbeigehe. Sicher ist sicher.

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Holy Mother of the humble and the weak

Vorweg ein erneuter Dank für eine überaus freundliche Buchzusendung. Diesmal kam ein winterabenddickes Romanwerk, das ich schon lange, lange lesen wollte: Middlemarch von George Eliot (Mary Ann Evans). In neuer Übersetzung von Melanie Walz, hier die Verlagsseite dazu.

Herzlichen Dank!

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Eine Art Hausmitteilung. Weil es mir jetzt öfter auffiel, dass es ein kleines Problem mit meinem momentanen Tagesablauf gibt. Denn nachdem ich morgens gebloggt und den Link zum Text noch an diversen Stellen vermeldet habe, bin ich oft über viele Stunden nicht mehr in irgendeinem privaten Kontext online.

Meine Neugier auf Social Media gehört zumindest im Moment definitiv der Vergangenheit an. Höchstens gucke ich noch Bilder und Filmchen zwischendurch oder mache solche und poste sie dann. Das sind aber nur Minuten-Aktionen, kein Vergleich mehr dazu, wie man früher auf dem damaligen Twitter Zeit durchgebracht hat, die Älteren erinnern sich. Das meiste interessiert mich heute tagsüber eher nicht mehr, was auch daran liegt, dass mich mein Job etwas mehr interessiert hat in den letzten Monaten. Es hat Vor- und Nachteile. Auch private Mails können gerne auf mich warten, das ist ebenfalls neu bei mir. Die ganze Dringlichkeit des Internets fällt mit anderen Worten allmählich von mir ab. Und vermutlich ist es auch gut so.

Der Nachteil für Sie ist manchmal nur, dass Ihre Kommentare dadurch erst nach Stunden freigeschaltet werden. Falls Sie sich also darüber gewundert haben: Pardon, so kam es dazu.

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Gesehen habe ich eine Doku über Joyce Carol Oates. Die darin erfrischend viel Unerwartetes zu sagen hat und vermutlich etlichen Erwartungen und gängigen Meinungen entgegentritt. Etwa mit ihrer Auffassung, über ihre Probleme mit absolut niemandem reden zu wollen, und zwar aus Prinzip nicht.

Ich fand es interessant.

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Kid37 weist auf eine Kunstausstellung hin, das könnte man auch beachten. Welche allerdings an einem Ort stattfindet, den nur Verrückte, Touristen und Menschen mit sehr dringendem Sonderbedarf an einem Wochenende aufsuchen. Alle anderen warten doch lieber die Durchschnittstage ab.

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Im Podcast von Bill Bighy, von dem Sie allmählich wissen, dass ich ihn sehr schätze, weist er in der Vorrede darauf hin, wie er die Fragen aus dem Publikum beantworten möchte: “I will attempt to answer your questions without actually making things worse.”

Das ist ein Satz, den man sicher leicht überhört. Aber im Grunde ist er als Lebensregel gut verwendbar, scheint mir. Denn so sollte man wohl mit vielen Fragen umgehen, wenn nicht mit fast allen: „Without making things worse.“

Denn, sehen Sie, das ist auch wieder eine schöne Inschrift für den nur herbeifantasierten Grabstein: „He tried to live without making things worse.“ Selbst wenn man das „tried“ wohlweislich einbaut, um den Größenwahn nicht zu deutlich anklingen zu lassen, ist es selbstverständlich immer noch eine gewagte, gewiss kaum haltbare Behauptung.

Aber es ist eine, die mir gefällt.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Be Good

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Hier noch ein Lied. Das ich gerade bei der „Arbeit“ an den Playlists wiederfand und sofort erneut mochte: „I don‘t care to dance.“

Wunderbare Lyrics, auch heute noch aus eher seltener Perspektive, von Männern aus betrachtet:

“And you laugh as I stare down at my feet
Holy Mother of the humble and the weak
You gently lift my chin so I can look into your eyes
And you rebuke the bullshit and the lies, all those people who told me how to be a man
Well I don’t want to follow them any longer
So twirl me around the floor.”

 

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Cathy, Margot und die Großmutter

Während meiner herrlich sinnfreien, dabei aber besinnlichen und eben doch sinnvollen „Arbeit“ an den Playlists, lese ich manche Texte nach. Ich merke, dass es da Lieder gibt, deren Texte so lyrisch oder so seltsam abgedreht sind, dass ich sie weder durch das reine Nachlesen noch durch Übersetzungen und auch nicht durch das Recherchieren von bemühten Nachdichtungen verstehe. Bei manchen Songs kann man nun die Geschichte dazu im Internet nachlesen, kenntnisreiche Deutungsversuche ebenfalls. Manchmal von Expertinnen, manchmal von einer User-Vielfalt zusammengetragen. Oder auch zusammengeraten: „Ich glaube, es geht um Liebe.“ Und alle so: „Ach was?!“

Manchmal verstehe ich dann immer noch nichts. Vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen. Wie es John Prine in einem Song gesagt hat: „Wir sind Songwriter. Für Bedeutung sind wir nicht zuständig.“ Eine ebenso grundsätzliche wie auch wahre Aussage, vielleicht nur etwas erstaunlich von jemandem, der doch so etwas wie der Inbegriff von gut erzählten, klaren Songs ist, also von jemandem, der immer wieder erkennbare Geschichten gesungen hat.

Falls Sie John Prine nicht oder nicht gut kennen, „Far from me“ etwa ist so eine klar erzählte Geschichte. In einfachen, bemerkenswert treffenden Bildern erzählt. Mit einer ersten Strophe, bei der man als schreibender Mensch wieder auf diese gute Art neidisch werden kann, weil es so zielgenau ansetzt.

Blick durch das Fenster in ein nächtliches, leeres Restaurant

As the café was closing on a warm summer night
Cathy was cleaning the spoons
The radio played the hit parade
And I hummed along with the tune
She asked me to change the station
Said the song just drove her insane
But it weren’t just the music playing
It was me she was trying to blame.”

Abgesehen von diesen sich sofort erhellenden Songs: Rätselhaftes Zeug bleibt übrig, das ich daher auch nicht kategorisieren kann. Abgesehen von der Ablage unter K wie Kryptik.

Unverständliches, aber doch oft schönes Zeug. Bei dem man vielleicht hier und da eine Zeile versteht, eine einzelne Wendung nur, lediglich den Refrain. Stellen, die man vielleicht immer schon gemocht oder sogar geliebt hat, die man auch endlos oft im Kopf wiederholt und mitgesungen hat. Teils mit schamanistisch anmutenden Zauberspruchqualitäten.

Als ich zum ersten Mal etwas Französisch lernte (das klingt, als könnte ich es heute, aber dem ist nicht so), was ein wenig vor der Zeit war, in der ich es in der Schule bekam, aber das ist eine andere Geschichte, hatte ich die Hoffnung, bald diese ganzen Chanson-Texte verstehen zu können. Der grenzenlose Optimismus der Jugend, er hatte Vorteile. Die Texte jener Lieder wollte ich verstehen, die viele Erwachsene um mich herum so großartig fanden. Die mir musikalisch teils auch gefielen, die mir aber inhaltlich rein gar nichts sagten. Sie hätten auch in spanischer, portugiesischer oder japanischer Sprache gesungen werden können, ich hätte ebenso wenig verstanden.

Aber nun! Mit ein paar wenigen Vokabeln und den ersten Anfängen in der Grammatik, da musste doch endlich etwas gehen. Also was sang Georges Moustaki da, auf dem 73er Album „Déclaration“:

“Pour faire pleurer Margot

Pour faire danser grand-mère …”

Viel weiter kam ich damals nicht. Und ich hatte kurz darauf auch schon wieder andere Themen im Sinn und kam dann davon ab, mir Chansons akribisch zu erarbeiten. Aber ich weiß noch, ich fand ihn sehr schön, diesen Anfang. Um Margot zum Weinen zu bringen und die Großmutter zum Tanzen … das gefiel mir sehr. So fingen gute Texte an, das war klar.

Ich habe diese beiden Zeilen nie vergessen. Und für den größten Teil meines Lebens nicht die geringste Ahnung gehabt, worum es im Rest des Liedes ging. Was es denn nun war, das Margot zum Weinen und die Großmutter zum Tanzen brachte, wieso überhaupt fünf Instrumente und wer ist diese Margot eigentlich, was soll das alles.

Warum auch immer, ich habe da nie weiter nachgeforscht.

Das mit Margot und der Großmutter, das sang ich seitdem aber auch ab und zu unter der Dusche. Das war immer in meinem Standardrepertoire, es klang im Badezimmer auch verlässlich gut und gefällig. Leicht war es weiter aufzufüllen mit unsinnigen, nur vermeintlich gut und halbwegs französisch klingenden Silben.

Weder habe ich jemals selbst eine Margot kennengelernt, noch habe ich eine meiner Großmütter auch nur einmal beim Tanz beobachten können. Und doch sind mir die Zeilen vertraut, als besänge ich da unter der Dusche immer wieder ein Stück der eigenen Biografie.

So ist das mit Liedern, die man aus irgendwelchen Gründen liebt.

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Gemütlichkeit im ewigen Jetzt

In der Innenstadt ist währenddessen der Begriff Karstadt verschwunden. Ausgetauscht wurde er auf allen Schildern und Hinweisen, eingewechselt gegen das moderner und gefälliger klingende Galeria. Ein weiterer Wortzauber, wieder Umbenennungsmagie. Man kennt es auch aus vielen anderen Kontexten. Raider hieß dann Twix, und man weiß seit jener Zeit auch, denn der Slogan war aus heutiger Sicht sensationell ehrlich: Sonst ändert sich nix.

Dekorierte und beleuchtete Tannenbäume schießen in den Fußgängerzonen aus dem Boden. Immer mehr Holzhütten, die obligatorischen Gemütlichkeitskästchen unserer Volkskultur, stehen nun wieder überall im Weg herum, Weihnachtsmärkte ein paar Tage vor dem Start. Man geht durch die Stadt und kann hinterher sich und den anderen aufsagen, dass man „es“ noch nicht fühlt. Oder fühlst du es etwa schon? Nein, er, sie, es fühlt es auch noch nicht. Er, sie, es schüttelt vielmehr den Kopf.

Smalltalkrituale, so festgefügt, als würden wir sie seit dem Anbeginn der Welt aufführen. Am achten Tag nämlich schuf Gott die zerlegbare und transportable Holzhütte für den Winter im deutschsprachigen Raum.

Gestern erzählte ich diversen Menschen, nicht nur Ihnen, von dem Abend im Theater, und als Regel konnte ich ableiten: Sämtliche Menschen, die jünger waren als ich, kannten Serge Gainsbourg nicht. Das kann man noch als Ergänzung zum im letzten Text erwähnten frühen Vergessen mitnehmen.

Und ich bleibe dabei, dass es etwas unterschätzt wird, mit welcher Selbstverständlichkeit die Menschen ungefähr meiner Generation das kannten, was vor uns war, und mit welch ähnlicher Selbstverständlichkeit man das als eher jüngerer Mensch heute nicht mehr kennt. Es ist selbstverständlich kein Vorwurf, ich wundere mich nur immer wieder, wie wenig dieser doch einigermaßen drastische kulturelle Bruch thematisiert wird.

Erst deutlich nach meiner Jugend nämlich wurde die Gegenwart als endlos interessant eingeführt. Davor war die Vergangenheit deutlich reicher als jedes gegenwärtige Wochenende, das irgendwie mühsam herumzubringen war. Deswegen lasen wir die alten Bücher aus den Regalen der Eltern, guckten die Western von gestern und hörten im Radio immer noch Sinatra, die Beatles etc., die alle schon vorbei waren. Deswegen legten wir fast unweigerlich die Musik von damals auf: Es war eben die Musik, die da war. Und deswegen kennen wir die heute noch, obwohl sie so viel älter war als wir.

Man brauchte erst viel mehr Fernseh- und Radiosender, man brauchte vor allem auch das Internet, YouTube, TikTok, Instagram, Smartphones etc., um endgültig und ausweglos im Jetzt hängenbleiben zu können. Im nie mehr aufhörenden Jetzt.

Welches sich die esoterische Fraktion damals übrigens auch irgendwie anders und ein klein wenig seliger vorgestellt hatte. To say the least.

Der Anleger Jungfernstieg am Abend

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Kultur und Ambition, der nächste Abend

Ich habe die Erzählungen von Nossack beendet und verstehe jetzt, wieso sein Name auch mal in Verbindung mit Kafka genannt wird, was mir zunächst doch erstaunlich vorkam. Ich schätze ihn nun auch mehr als vor dieser Lektüre, das ist sehr gut, so soll es sein.

Dann las ich in die abgegriffene, hellgrüne Suhrkamptaschenbuchausgabe aus dem öffentlichen Bücherschrank von „Mein Name sei Gantenbein“ hinein, Max Frisch. Mit dem ich aber ohnehin nur bemüht warm werde, seit dem Briefwechsel mit der Bachmann kaum noch und bei diesem Buch so gar nicht. Es war auch nicht mein erster Versuch. Aber es muss ja auch gar nicht von mir konsumiert werden, dieses Buch. Man kann in nur einem Leben nicht alles lesen.

Das Buch Mein Name sei Gantenbein von Frisch

Nebenbei dachte ich wieder daran, wie prominent, bedeutend und vieldiskutiert dieser Frisch noch in meiner Jugend war, wie präsent seine Werke, auch etwa in Schulen. Was auch für andere Namen aus der Zeit gilt, etwa für Nossack. Und wie weit weg die nun schon sind, wie entlegen sie bereits wirken, wie gestrig und fast vergessen. Sie verschwinden etwas unerwartet schnell in der Versenkung, so kommt es mir jedenfalls vor. Es wird aber nicht nur an ihnen oder ihren Werken liegen, sondern auch an unserer überhöhten Entwicklungsgeschwindigkeit von ihnen weg.

Es ist vielleicht hier und da etwas unfair, dieses schnelle Vergessen. Immerhin aber habe ich in den letzten beiden Absätzen den äußerst naheliegenden Scherz mit dem Wort „unfrisch“ ausgelassen, da will ich mich kurz selbst für die Beherrschung loben.

Hängegeblieben bin ich anschließend an einem der wenigen Simenons, die ich noch nicht kenne. Ein Non-Maigret und ein nicht-autobiografischer oder eben doch autobiografischer Roman. Das könnte man so oder so ausdeuten, und der Autor übernimmt es freundlicherweise selbst in einem Vorwort. Das ist ebenso angenehm wie entgegenkommend und für alle interessant, die in dieser Richtung gerne lesen oder schreiben.

Das Buch Pedigree von Simenon

Drei Prozesse gegen Personen, die sich vermeintlich im Roman wiedererkannt haben, hat Simenon verloren. „Pedigree“ heißt er, und es ist sein umfangreichster Roman, Deutsch von Hans-Joachim Hartstein.

Hier die französische Wikipedia-Seite dazu, die auch schon interessant ist.

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Am Abend dann weiter mit einem anderen Herrn aus dem französischsprachigen Raum. Diesmal nicht belgischer Abstammung, sondern aus ukrainisch-jüdischer Richtung: Serge Gainsbourg. Dominique Horwitz erzählte, sang und spielte sein Leben in den Kammerspielen.

Das Programmheft zum Gainsbourg-Abend mit Horwitz auf dem Titelblatt

Wofür er geeignet wie kaum ein anderer sein dürfte. Vor etwa 25 Jahren habe ich dort schon seinen Brel-Abend gesehen, in Begleitung von … Und sehen Sie, da ist es wieder, das Erinnerungsproblem. In Begleitung einer Frau sah ich es jedenfalls, so viel immerhin wird feststehen, und der Abend beeindruckte damals sehr.

Vier Musiker begleiteten Horwitz in einer wilden, aparten Mischung aus dem Sound der Sechziger und Jazz. Es waren großartige Musiker, soweit ich das beurteilen kann, und es ging nicht um brave Begleitmusik, sondern um üppig inszenierte Melodien und Stimmungen.

Der Abend lohnte sich schon wegen der rauschhaften, exzessiven Version von „Bonny & Clyde“ und wegen der geschickt inszenierten, wehen Varianten von „Je t’aime“ und von „Je suis venu te dire …“.

Einige französischsprachige Frauen um mich herum gingen bei den schnelleren Stücken dermaßen ab, dass die ehrwürdigen Sitzreihen in den Kammerspielen bedenklich in Bewegung gerieten. Es war eine Wirkung, mit welcher der geehrte Künstler fraglos hoch zufrieden gewesen wäre.

Seine Schattenseiten, an denen bekanntlich keineswegs irgendein Mangel bestand, wurden nicht verschwiegen, als beschönigend konnte man den Abend kaum verstehen. Als Würdigung seiner ebenso fraglosen künstlerischen Leistungen kam es mir aber alles recht und angemessen und brillant umgesetzt vor.

Horwitz rauchte dabei auf der Bühne eine Gitanes nach der anderen, wie es nun einmal zum inszenierten Sänger gehört. Ich habe mehrere Jahre im Büro mit jemandem gearbeitet, der so viel wie Gainsbourg geraucht hat, und auch Gitanes. Ich weiß also, wie das riecht. Wie die Möbel, die Wände, die Kleidungsstücke und auch wie die Haut riechen, wenn man sechzig und mehr davon am Tag durchzieht. Es ist ein hartnäckiger, lange verbleibender Geruch, den man selbst dann eklig finden kann, wenn man selbst raucht, wie es damals bei mir noch der Fall war. Das will etwas heißen, denke ich, es ist ein spezielles Gift.

Ein widerlicher Geruch, bei dem man unwillkürlich irgendwann denkt, dass man diesen Konsum kaum lange überleben kann. Man denkt es vermutlich sogar mehr als bei anderen Marken – es war damals aber auch noch eine andere Tabakvariante als heute. Es lässt sich so mittlerweile nicht mehr aufführen.

Aber wie auch immer. Längst sind sie entsprechend tot, die beiden Raucher. Der Sänger und auch der Kollege, mein damaliger Chef. Es waren beide auf ihre Art Genies und vollkommen Durchgeknallte, in höchst unterschiedlichen Fächern.

Ein Neonschild für Doris Diner

Draußen im Grindelviertel neben den Kammerspielen leuchten mir dann später Erinnerungszeichen durch die Novembernacht. Ach guck, denke ich im Vorbeigehen, das gibt es also auch noch, das Lokal. Die Szenen darin sind allerdings auch lange her, und was aus ihr geworden ist – diesmal weiß ich, wer es war – das ist mir nicht bekannt. So fern sind diese Abende, und so seltsam präsent dabei einige Sekundenschnipsel der erlebten Szenen. Mir sind sogar Gesprächsstellen im Gedächtnis, bei denen ich etwas gesagt habe, das ich hinterher, also zu spät wie meistens, falsch fand – ach, man könnte glatt Chansons über dergleichen schreiben.

Also wenn man denn könnte.

Jetzt ans Schenken denken: Es gibt zwei Wiederholungsabende in den Kammerspielen im März, man wird dafür sicher noch Karten bekommen können, während ich für den Abend gestern die vorletzte Karte erworben habe. Für Frankophile, Gitanesraucher und Süchtige aller Art, für Poeten, Musikliebende und von der Liebe erfüllte oder aber enttäuschte Menschen. Damit kann man nicht viel falsch machen. Und nein, keine bezahlte Werbung.

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