Von Feinheiten und Weltgeltung

Der Hamburger Hauptbahnhof ändert sich. Es wird darin etwas umdesignt und umbenannt, nämlich die Wandelhalle. Vielleicht ist dies ein Wort, dem man in letzter Zeit eine gewisse Spießigkeit, einen merkwürdigen Muff unterstellt hat, ich weiß es nicht. Und auf mich wirkt es auch nicht so, dass man es dringend verbessern müsste. Ich finde das Wort Wandelhalle eher angenehm altmodisch und vollkommen in Ordnung.

Aber die Zeiten, sie sind nun einmal anders. Es wurde daher beschlossen, aus der Wandelhalle „The Grand Hall“ zu machen. Mit dem Adel und Würde verleihenden Zusatz „since 1906“. Ich würde dabei nun einen gewissen Snobismus unterstellen, eine deutlich zu erkennende Vornehmtuerei, um ein aussterbendes Wort noch einmal über diese Seite zu jagen. Man macht sich hier internationaler, mondäner und dabei auch weltweit austauschbarer. Was im Sinne der Optimierung für den Tourismus vielleicht sogar sinnvoll ist, was weiß ich. Viele, sehr viele Fehler habe ich in diesem Leben gemacht, aber einen habe ich doch ausgelassen und bin immerhin kein Marketingexperte geworden. Und das ist auch gut so.

Auf den Mülleimern in der Halle jedenfalls kann man den neuen Schriftzug schon sehen, ausgerechnet bein Müll beginnt es. Auf einem dunklen Grün, das mich etwas an After Eight erinnert, es wird wohl erwünscht sein. Komplett mit neuem Logo und neuer Schriftart klebt das Logo da und wird sicherlich bald überall in großen Versionen montiert.

Ich mache das dann auch, denke ich mir, als ich da vorbeigehe und dieses neue Logo bestaune. Wenn es doch alle Welt macht, und wenn es einem doch freisteht. Wenn es doch offensichtlich gut und erwünscht ist, sich ins Englische zu wandeln und also ein wenig zu steigern. Buddenbohm, das klingt am Ende auch so provinziell, als könnte man es etwas anheben. Als könnte man da noch etwas Niveau unterschieben, etwas Weltgeltung.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Be you

Puddletree, das wird in etwa die Entsprechung sein. Und meinen Vornamen, der in Deutschland ohnehin längst viel zu häufig, geradezu plebejisch geworden ist, den tausche ich bei der Gelegenheit auch gegen etwas Passenderes für diesen neuen Nachnamen ein. Was nehme ich denn da, Moment – Percy könnte passen. Ja, Percy Puddletree, das wird es sein.

Ich werde mich im Geiste einfach jedes Mal umbenennen, wenn ich künftig durch den Bahnhof gehe. Ich werde innerlich eine andere Haltung annehmen, mich an die neue Noblesse dort anpassen und mich intensiv bemühen, Entsprechendes auszustrahlen.

Percy Puddletree, since 1966. Plötzlich Appetit auf After Eight. Schlimm.

Und wie beim Bahnhof wird sich ansonsten gar nichts ändern. Nur die Vibes für einen Moment. Denn es geht nicht um Inhalte, es geht nur um das feine Gefühl, bzw. um das Gefühl des Feinseins. Und Gefühle, damit kennen wir uns doch aus.

Da geht dann kein Buddenbohm mehr nach der Arbeit einfach nur durch den Bahnhof, no sir. It’s Puddletree – fine walking.

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Sensationell passend zur Grand Hall gibt es bei arte etwas für den Freundeskreis Kunst, nämlich eine Doku über den herausragenden Porträt- und Modemaler John Singer Sargent. Sie kennen eines seiner Bilder vielleicht vom Cover des Romans „Der Mann im roten Rock“ von Julian Barnes.

Warum aber passt das nun zur Grand Hall? Well, John Singer Sargent galt als einer der letzten Vertreter der Grand Manner. Sehen Sie, es fügt sich alles wieder passend zusammen. Und es gehört dann auch so, gemäß einer alten Regel, sozusagen since immer schon.

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Bei aufziehendem Sturm

„Es wird empfohlen, nur wirklich dringende Reisen anzutreten“, las ich am Freitagmorgen laut deklamierend aus den Nachrichten vor. Denn die gerade erst aufgewachte Herzdame gedachte, ausgerechnet bei anschwellendem Orkan nach Sylt zu reisen. Woran sie dann später prompt bereits in Altona vorerst scheiterte, was mich selbstverständlich an die ringelnatzschen Ameisen erinnerte. Ein sehr kurzes Gedicht, dessen abschließende Verse man sich gut fürs Leben merken kann. Sie passen recht oft:

„So will man oft und kann doch nicht

Und leistet dann recht gern Verzicht.“

Die Herzdame aber dachte als typische Nordostwestfälin nicht daran, von gefassten Plänen abzurücken. Sie schlug sich im Laufe des Tages vielmehr durch diverse Regionalverkehrsabenteuer selbstverständlich doch noch bis auf die Insel durch.

Ein Erlebnis, das bei mir vermutlich für zwei bis fünf Blogeinträge oder ein Buch gereicht hätte, aber ich zog an diesem Tag das Home-Office vor. In dem es dann gerechterweise auch stürmisch zuging, es zu etlichen Störungen im Betriebsablauf des Bürogeschehens kam, die nachfolgenden Calls sich entsprechend verspäteten und die Terminreservierungen aufgehoben wurden.

Man muss für so viele Erlebnisse sein Zimmer gar nicht erst verlassen.

Tretboote an einem Steg an der Außenalster, unter grauem Himmel bei aufziehenden Sturm

Wenn bei Ihnen übrigens ein Sturm aufziehen sollte, setzen Sie sich Kopfhörer auf und hören Sie Richard Hawleys „There’s a storm a comin‘“ als Soundtrack beim Spaziergang. Während die Äste an den Bäumen sich mehr und mehr bewegen, während die ersten Tropfen fallen, während den Passanten Regenschirme entrissen werden und es sich über Ihnen tiefschwarz zusammenschiebt. Ich kann das sehr empfehlen.

“There’s a storm a-comin‘, you’d better run
There’s a storm coming, goodbye to the sun
There’s a storm a-comin‘, you’d better run boy, run
You’d better run.”

Das Video hier als Link, nachfolgend eingebettet.

Wo war ich. Vorgelesen habe ich, genau, und zwar, wie bereits erwähnt, den Satz „Es wird empfohlen, nur wirklich dringende Reisen anzutreten“. Ein zufällig und zu ungewohnter Stunde dabeisitzender Sohn sah mich etwas entgeistert an, wirkte noch verstrahlter als sonst am frühen Morgen und bekam, wie er mir erst später erklärte, in seinem Kopf in mehreren Versuchen einfach nicht sortiert, ob er noch schlief oder nicht. Denn er hatte verstanden: „Es wird empfohlen, nur wirklich nette Reisende anzubeten.“

Diese Aussage schien ihm zum angenommenen Wachzustand nicht gut zu passen. Aber dafür, so sagte er, wirkte ich doch erstaunlich präsent, real und ganz in gewohnter Weise in diesem Moment. Wie ich da stand und in geradezu väterlicher, typisch belehrender Mission etwas vom Smartphone ablas.

Er hatte da vollkommen nachvollziehbare Probleme, denke ich. Und wenn er weiter intensiv über dergleichen nachdenkt, ist er auf dem besten Wege, nebenbei noch das luzide Träumen zu erlernen. Stets die Vorteile bei allem suchen, ich sage es ja immer wieder.

Denn es gehört nach den meisten mir bekannten Methoden zum verlässlichen Weg zu diesen besonders interessanten Träumen, über die Unterscheidungen zwischen Schlaferleben und Wirklichkeit ausreichend zu grübeln. Eine gute Richtung schlägt er da also ein, könnte man meinen, und auch auf dem Weg zum Klartraum, das könnte man ihm noch als Regel mitgeben, wonach mir als Vater tatsächlich jederzeit ist, sind sicher nur besonders nette Mitreisende anzubeten.

Kinder, wie isses schön. Womit der olle Kempowski hier nun vielleicht abgeschlossen hätte.

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We’re doing this now

Wäre man angesichts der weltweiten Gesamtlage nicht ohnehin längst Experte im fröhlichen Fatalismus, man würde eventuell ein weiteres Mal kurz über Medienkritik nachdenken wollen. Denn in solchen Zeiten die Schlagzeile „Russische Flugzeuge dringen in litauischen Luftraum ein“ rauszuhauen …

Also, es war sachlich nicht falsch, schon klar.  Aber zwischen „Zwei Flugzeuge waren 18 Sekunden im litauischen Luftraum“, was die Realität war, und „Vier Staffeln fliegen auf die Hauptstadt zu“, was eben nicht die Realität war, aber doch für viele Menschen durchaus vorstellbar, liegt für mich entschieden zu viel gedanklicher Raum auf der Ebene unterhalb der Schlagzeile. Das hätte man bereits in der ersten Zeile weiter eingrenzen müssen.

Aber bitte, jeder meint so vor sich hin und die Menschen sollen ja klicken, ich weiß.

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Ich gehe am Nachmittag in den Discounter. Da stehen aufgerissene Kartons hinter der Kasse, aus denen kann man sich etwas mitnehmen. Die Kundinnen vor mir stecken sich auch alle etwas ein. Was gibt es denn da, was nehmen die sich mit? Umsonst? Verpasse ich Am Ende etwas, wenn ich nicht schnell genug bin? Es sind Kalender für 2026 mit dem Aufdruck „Familienplaner“, sehe ich schließlich.

Um Gottes willen, denke ich. Familie habe ich schon, und eine reicht wahrlich aus. Sollen bitte andere Familien planen, ich bin mit dem Thema aber so etwas von durch. Und ich gehe achtlos an dem Verschenkkarton vorbei, wie so ein Mensch, den man mit gar nichts mehr locken kann.

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Memes und lustige Videos auf Instagram, TikTok etc. treffen ab und zu einen wahren Kern, wie wir vermutlich alle wissen. Gestern las ich mit etwas zu viel Verständnis dieses Statement dort: „Honestly, I don’t even play an active role in my life anymore, stuff just happens and I’m like, oh, so we’re doing this now, ok.“

Lesen und nicken. Aber so wird es gewiss allen gehen, bei denen das Leben gerade wieder dazu neigt, Ereigniskarten auszuspielen. Was sich bekanntlich und dummerweise in manchen Jahren oder Phasen auf unerklärliche Weise häuft. Unerklärlich jedenfalls, solange man nicht die vergleichsweise schlichten Erläuterungsmodelle der Religionen nutzt, welche durchweg eine fast schon anziehende Vereinfachung wichtiger Generalfragen beinhalten dürften. Aber dann auch wieder nicht anziehend genug, um sich spontan einem dieser Modelle zuzuwenden.

„Oh, so we’re doing this now” – ich würde es jedenfalls glatt als T-Shirt tragen. Also wenn ich überhaupt so tief sinken würde, jemals betextete Kleidung anzuziehen. Viel fehlt allerdings nicht mehr.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Wer tief fällt kann auch hoch fliegen

Aber! Denn es wächst immer ein rettendes Aber aus den eigenen Gedanken, wenn man nur lange und gründlich genug denkt, möchte ich glauben. Aber ich denke also kurz über Religionen nach. Dabei fallen mir assoziativ naheliegende Kirchenkonzerte ein, dabei fällt mir ein, dass es längst tiefer Herbst ist, und ich fühle also einen Moment hin, ob mein Klassik-Chakra saisonal korrekt nach der Sommerpause wieder offen ist, dann recherchiere ich kurz und zack, kaufe ich mir eine Karte für eine baldige Bachmesse im Michel.

Denn Glaube oder nicht, sich im November in einer Kirche mit Bach volllaufen zu lassen – wie angemessen ist das denn. Das klar erkennbare Immerhin des Tages habe ich damit wieder gefunden, und ich kann sogar noch „That was easy“ murmeln. Weitermachen.

So we’re doing this now, ok.

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Junge Menschen mit gekonnt verwuschelten Haaren stehen mir im Weg

In der Innenstadt stehen gerade besonders viele und leider gut ausgebildete, topfitte Spendensammlerinnen der Wohltätigkeitsorganisationen herum. Sicher wird das Timing dieser Aktionen besonders gut geplant sein, ausführlich mit Zahlenreihen belegt, mit bunten Diagrammen unterfüttert etc. Warum gerade jetzt. Peak October und dergleichen. Ich kann mir die Workshops und Präsentationen, die zu dieser in der Vorvorweihnachtszeit stark anschwellenden Passantenbelästigung geführt haben, dummerweise sogar vorstellen.

Vorsicht bei der Berufswahl, man muss es immer wieder betonen.

Sie werfen sich jedenfalls den allmählich flächendeckend schwer genervten Passanten in den Weg. Säuselnd und fast singend umschmeicheln sie diese werbend und hoffen auf eine derart professionell durchgestylte Masche auf Geld, dass ich meine Aversion gegen dieses Vorgehen kaum noch beschreiben kann. Früher, denke ich, früher standen noch gebeugte alte Männer mit einem räudigen Lama in der Fußgängerzone herum, konnten außer „Bitte“ und „Danke“ kein deutsches Wort und schüttelten eine verbeulte Blechdose, um für einen kleinen Zirkus im Winterquartier zu sammeln.

Das hätten wir damals auch nicht unbedingt erwartet, dass wir darauf einmal in nostalgischen Momenten zurückblicken würden, aber was war das doch für eine unschuldige, naive Bettelmasche. Fast fällt einem das Wort „volkstümlich“ ein.

Etwas in dieser Art denken wir vielleicht beim Gang durch die Stadt, während uns schon wieder junge Menschen mit gekonnt verwuschelten Haaren dynamisch in den Weg springen und derart anstrahlen, dass sie vermutlich auf Drogen sein müssen. Aber es sind dann Drogen, die ich eher nicht probieren wollen würde. „Hallo“, jauchzt mich eine sehr junge und unangemessen aufgeregt wirkende Frau an und winkt mir zappelnd zu, als sei ich unverkennbar der Messias oder mindestens ein enorm bekannter Influencer von Tiktok oder dergleichen: „Hallo! Hihi!“

Warum kichert sie nach diesem Hallo, wer spricht denn so. Mein Drogenverdacht ist am Ende nicht nur eine polemische Randbemerkung. Überhaupt quiekt sie ihr Sprechen eigentlich eher, so sehr bemüht sie sich, reine Freude und helle Begeisterung über mein Daherkommen in ihrer Stimme auszudrücken. „Hallo“, und sie breitet ihre Arme ruckartig weit aus, als müsse ich mich da umgehend hineinstürzen: „Sie sehen ja DERMASSEN sympathisch aus!“

Sie spricht mitten im Satz auf einmal in Großbuchstaben. Sicher haben sie auch das in ihrem Ausbildungslager gelernt. In diesen Trainingscamps, deren Ablauf ich mir lieber nicht zu genau vorstelle. Sonst schlafe ich vermutlich noch schlechter als ohnehin schon, und da geht gar nicht mehr viel.

„Das täuscht!“ belle ich im Vorbeigehen, und ich meine es auch so. Immer bei den Tatsachen bleiben.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Be true

In laientheaterhaft ausgespielter Betroffenheit, mit einem traurigen Welpen- oder Bambi-Blick und natürlich mit einem wehen Klagelaut der jähen Enttäuschung auf den Lippen, sieht sie zu, wie ich vorbeigehe. Sie hebt noch schnell die Hände wie flehend. Es ist der letzte Versuch in ihrem vorgesehenen Repertoire, noch etwas zu erreichen. Aber nicht bei mir.

Meine Güte, was gehen mir diese Menschen auf die Nerven. Im Vergleich zu denen sind sogar die komplett verstrahlt wirkenden christlich beseelten Laienprediger in den Fußgängerzonen erträglich.

Und das will wirklich etwas heißen, das muss man erst einmal erreichen.

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Fischer, Grebe, Erotikdramen

Nach dem Posten des gestrigen Artikels sah ich meinen eigenen Text in meinem Feedreader (das ist ein Stück Internettechnik von damals, liebe Kinder), und da heute überall aufdringliche KI irgendwie mitmacht, ob man nun möchte oder nicht, fragte mich dieser Reader, als müsse er es dringend für irgendetwas wissen oder als wäre es hilfreich, ob dieser Text von mir vielleicht Musik sei.

Was ich als schmeichelhaft hätte verstehen können, wenn ich denn so weit gehen würde, mir überhaupt von KI schmeicheln zu lassen. Was aber doch derart billig und leicht zu haben ist … also nein. Man muss sich einen Rest von Würde bewahren, oder es zumindest versuchen. Immerhin aber erinnerte mich diese Frage in Bezug auf einen Text von mir an ein Lied von Tim Fischer, und das war gut. Denn das Lied mag ich gerne, hatte es aber lange nicht mehr gehört: „Meine Lieder“.

„Ich habe ja noch meine Lieder,

damit sing ich mich nachts in den Schlaf.

Ich habe ja noch meine Lieder,

Und schon wieder hab‘ ich eins mehr,

Seit ich dich traf.“

Man kann das auch mühelos auf geschriebene Texte beziehen, es reimt sich dann nur nicht mehr so elegant. Irgendwas ist eben immer.

***

Gesehen: Nach längerer Zeit mal wieder einen Film, nämlich “Nathalie“ aus dem Jahr 2002 auf arte. Um das zu sehen, genügten mir zwei Argumente, nämlich Fanny Ardant und Emmanuelle Béart. Der damals noch unvermeidliche Monsieur Depardieu spielt auch mit und trägt hauptsächlich gut sitzende Anzüge durch die Szenen. Es gibt außerdem eine Handlung, in der es selbstverständlich um Liebe und körperliche Anziehung geht, aber egal. Ein „erotisches Filmdrama“, heißt es in der Wikipedia, wo allerdings ungemein spielverderbend gespoilert wird. Man muss da abraten, wenn man den Film sehen will.

Ein Drama war es jedenfalls, welches bei der Kritik eher kein großer Erfolg war.

Ich aber bin schon angetan, wenn es eine solche Geschichte geben darf, ohne dass die Beteiligten am Liebesreigen sich mittendrin gegenseitig oder selbst umbringen, wie es heute in Drehbüchern für meinen Geschmack allzu oft fast unvermeidlich erscheint. Es ist eine seltsame Entwicklung, alles in Richtung Thriller zu drehen. Denn das Auf und Ab der Beziehungen gibt doch allemal genug her, um daraus eine ansprechende Story zu machen, auch in der einmillionhundertzwanzigtausendsten Version noch.

„Er und sie am Frühstückstisch

Sie schaut ihn an, er sie aber nicht …“

Et voilà, da hat man doch ein vollkommen brauchbares Exposé. Wie auch Rainald Grebe fand.

„Man kennt sich halt, wie das Holz im Wald.“ Als Beschreibung von langjährigen Ehen gar nicht verkehrt.

Mein neuer Arbeitsweg übrigens gibt auch Motive zum Thema Erotikdrama her. Na, zumindest so in der Richtung.

Schrift auf einem Brückengeländer in der Hafencity: "Penis"

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Im Podcast „Alles Geschichte“ hörte ich, wo ich schon bei Erotikdrama war, eine Folge (24 Min.) über die Macht der Syphilis. Ein gruselig interessantes Thema.

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Gesenkten Kopfes gegangen

Schon das, was in den Überschriften gerade in sämtlichen Medien angerissen wird, es klingt überaus scheußlich. Die Timelines sind sämtlich voll davon, man ist wieder aufgebracht, empört und verärgert, und man hat sicher auch Recht damit. Aber es kostet eben alles Kraft. Und zwar selbst dann, wenn man in seiner Meinungsgemeinde bleibt und also beständig lediglich dem Chor predigt. Es hat keinen stärkenden oder tröstenden Effekt, es zieht einen nur runter und immer weiter runter – und unten, da sind wir doch eh schon.

Nein, denke ich, das will ich daher alles gar nicht gründlich nachlesen, und ich klappe das Notebook entschlossen zu. Ich greife zum Übergangsmantel, den man in diesem Land stets auch so nennen muss, weil das zu unserem Wertesystem gehört, und ich gehe einfach vor die Tür. Ich sehe mir dort dieses Dings an, von dem da neuerdings dauernd gesprochen wird, dieses Stadtbild.

Weil ich dabei aber den Kopf gesenkt halte, ob all der schlechten Stimmung und der stark bedrückenden Gesamtsituation geht es schließlich kaum noch anders, erschließen sich mir Stadtbild und Lage mittlerweile nur noch durch die Pflasterschriftzüge. Was man eben so sieht, wenn man hinuntersieht. Und dann sogar noch manchmal am Smartphone vorbei.

Mit diesen Fußwegbetextungen wird aber vielleicht, ich habe da so einen Verdacht, die Lage manchmal erstaunlich gut erfasst.

Kreideschrift auf dem Pflaster: Merz muss weg

Kreideschrift auf dem Pflaster: No Kings

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In einem Musikpodcast, den ich hier bereits einmal empfohlen habe, „Interpretationssache“ vom SR Kultur, in dem Songvarianten kundig verglichen werden, geht es passend zu meinen in den letzten Tagen geposteten Musikclips um das Lied der Saison, um die Feuilles Mortes, bzw. die Falling Leaves (36 interessante Minuten). Von Jo Stafford, welche die erste englische Version sang, über Exkurse bis zu Tschaikowski und weiter etwa zu Patricia Kaas. Von der ich nicht wusste, dass sie wegen Burn-Out lange Zeit bühnenfern war. Acht Jahre immerhin.

Ich lege nur noch eben eine Stadtteilnachbarin an. Die in ihrer niederdeutschen Version passend das aufgreift, was gestern hier schon anklang. Die Sache mit dem Winter nämlich: „Schnee fallt bald“. Es beginnt im Text aber jahreszeitlich etwas weiter vorne in der meteorologischen Entwicklung und ist daher noch korrekt mit dem aktuellen Wetterbericht abzugleichen: „Regen geiht nu dal, mi is koolt.

Und was macht der Regen im Stadtbild? Die Kreideschriften spült er fort. Raum schafft er für neue Notizen der bodenständigen Art, für Änderungen der Lage, und hier lege ich wieder die Erinnerung an meinen Chef in der Antiquariatszeit an. Der bei solchen Gelegenheiten und bei solchen Sätzen gerne von seinem Stuhl am Schreibtisch aufstand, zum Regal ging, ein dickes Buch herauszog und damit stumm winkte: „Das Prinzip Hoffnung.“

Es ist sehr schwer zu sagen, wie ironisch oder gar zynisch er es gemeint hat, aber ein Grundverdacht ist allemal angebracht.

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Dringende Hinweise, wilde Träume

Am Sonntagmorgen synchronisiert sich das Gefüge meiner Wahrnehmung zu einem zumindest herbeibehaupteten Jahreszeitenwechsel: Ich trete zum ersten Spaziergang aus dem Haus und denke kurz: „Frost“. Denn so fühlt es sich zum ersten Mal in dieser Saison an, der erste Atemzug da draußen, in der etwas scharfen Kälte, er hat ein Winter-Feeling. Gleichzeitig sehe ich, dass der erste Nachbar, vielleicht ist es auch eine Nachbarin, einen Fensterrahmen schon komplett mit trauten Blinke-Lichtlein umwoben hat. Da geht also das bereits dezemberhaft anmutende Lichterkettenwettrüsten bereits los, es wird wie immer schnell eskalieren.

Dazu berichtet mir punktgenau die Erzählerin im Gösta-Berling-Hörbuch in meine Kopfhörer hinein, dass es auf Ekeby im fünften Kapitel ein großes Weihnachtsmahl gab. Und dann zählt sie die Folge der Gerichte auf, so dass ich noch vor meinem Frühstück plötzlich Hunger auf Festtagsbraten bekomme. Zu allem Überfluss poppt schließlich noch, kaum zehn Schritte weiter, die Meldung einer Wetter-App auf, die mich über die phänologischen Anzeichen des Winterbeginns informiert. Blattfall der Stieleiche, langjähriges Mittel allerdings erst am 7.11..

Vier auf einen Streich, denke ich mir. Immerhin, das kommt mir deutlich vor. Da übertreibt es doch wieder jemand und trägt besonders dick auf. Jemand, von dem oder der ich allerdings nicht weiß, wer es sein könnte. Und wir sind mit dem Herbst auch noch gar nicht fertig, befinde ich dann, und vermutlich befinde es auch in Ihrem Sinne. Es wird wohl noch etwas goldener Oktober für uns alle übrig sein?

Ich sehe die Eiche auf dem Spielplatz im Vorbeigehen skeptisch an: Da kann von Laubfall gar keine Rede sein. Ich weise das mit dem Winter also vorerst entschieden zurück, auch wenn man mich noch so aufdringlich mit Hinweisen bewirft.

Sollte es morgen schneien, schieben Sie es also ruhig auf meine Renitenz. Die Wirklichkeit und ich, wir haben hier wieder Meinungsverschiedenheiten. Am Ende aber, man kennt das, gewinnt sie doch irgendwann und setzt sich durch. Sie hat Mittel, sie hat Wege, sie hat keinen Begriff von Fairness. Ein harter Gegner.

Die Binnenalster am Ballindamm in herbstlicher Anmutung, Schwäne am Ufer warten auf Futter

Erst einmal gehe ich aber davon aus, mich noch weiter an diesen Herbst zu gewöhnen. Mich auch mit dem demnächst einsetzenden Regen zu versöhnen, so wie Michel van Dyke.

Im Text des Songs heißt es: „Noch im Dunkeln bin ich aufgewacht, hatte wild von dir geträumt.“ Da warnt mich YouTube doch glatt vor Explicit Lyrics. Was mir bei diesen Zeilen etwas arg tantenhaft und überbemüht vorkommt.

Denn von wilden Träumen kann man auch Kindern erzählen, denke ich. Wilde Träume kennen die.


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Für eine Handvoll Links

Ein Verlink-Loop-Link im Blogstyle, wir hüpfen von Text zu Text und von Blog zu Blog. Ja, so war das damals, und so ist es auch heute noch hier und da.

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Gehört: Einen Podcast aus der Reihe „Systemfragenzu einem der schwierigen Aspekte im Stadtteil. Es ging zwar gar nicht um Hamburg, es ging um Düsseldorf, wo ich trotz Herkunftsbezug noch nie war, aber es gibt einige Themen, wenige sind es wohl nur, da ist das ziemlich egal: „Drogenszene – Wegschauen ist oft Selbstschutz“ (21 Min.).

Es geht also um die Frage, wie man sich zum Elend und zur offenkundigen Not verhält. Das ist keine leichte Kost, es gibt keine einfachen Antworten, wie ich leider aus mittlerweile überreicher Erfahrung weiß. Weder ich noch sonst jemand, mit dem ich hier im Stadtteil rede, hat zufriedenstellende, stets passende und angemessene Verhaltensmuster parat. Oder auch nur zu Ende gedachte Abwägungen.

Es ist leider sehr kompliziert.

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Dann gab es einen Podcast für den Freundeskreis deutsche Nordseeküste und Deichschutz. Es ging bei His2Go nämlich um den Untergang von Rungholt und den aktuellen Forschungsstand dazu. Wie es bei dem Thema nicht ausbleiben kann, denken sich die Bezüge zur Gegenwart und etwa zur so sehr geschätzten Halbinsel Eiderstedt fast wie von selbst (56 Min.).

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Bei DWDS sah ich nebenbei die sympathische Erläuterung zur Herkunft der Redewendung „Mein Name ist Hase“. Ich merkte mir dabei aber auch den Teil des ursprünglichen Zitats, der es nicht in unsere Redewendung geschafft hat: „Ich verneine die Generalfragen.“ Es kommt mir so vor, als könne man auch das bei Gelegenheit irgendwo gut verwenden, beispielsweise im Büro.

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Ein Thema, für das man sich als User von allem, was Entertainment- und Endless-Scroll-Aspekte hat, schon pflichtgemäß zu interessieren hat: Brainrot. Dazu eine Sendung bei Deutschlandfunk Nova, in der Reihe „Facts & Feelings“: „Macht endloses Scrollen unser Gehirn kaputt?“ (23 Min.).

Kreideschrift auf dem Pflaster: Waiting for doomsday

Wenn man Mediendiskussionen allerdings schon ein paar Jahre länger verfolgt, vielleicht auch ein paar Jahrzehnte länger, fühlt man sich hier und da überaus deutlich an Diskussionen zum Fernsehkonsum, zu Fernsehzeiten und zur Programmvielfalt, zum Programmniveau etc. erinnert. Leg die Argumente von damals auf …

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Schließlich hörte ich einen Essay von Roberto Simanowski über KI und Werte: „Die Verbesserung der Welt durch die Hintertür der Technik“. Da ist vieles zum Weiterdenken dabei. Immer wieder aber hängt man wohl an der Frage fest, die dann übrigens auch eine General-, nämlich eine Systemfrage ist, nämlich wieviel Macht Firmen haben dürfen und was da wie von wem zu regeln ist.

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In einem Podcast der Zeit geht es um das Thema Lobbyismus und den Kampf von konservativen und noch weiter rechts verorteten Gruppen gegen NGOs. Ein eher kompliziertes Thema, aber es lässt sich herunterbrechen: Diejenigen, die einigen verbieten wollen, ihre Interessen zu vertreten, vertreten durchaus Interessen. Die man ihnen daher logischerweise auch verbieten sollte. So dass wir dann am Ende alle keine Interessen mehr haben und vertreten werden.

Das klingt für mich eher nicht nach einer plausiblen Aussicht, es wird da also eine andere Lösung geben müssen.

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Bill Nighy hat die zweite Folge seines neuen Podcasts „Ill-advised“ draußen. Es war für mich bei der ersten Folge schon abzusehen, aber es wird nun noch klarer, dass diese Sendung mich zur interessanten und nicht eben oft gestellten Frage führt: Wie sympathisch kann mir ein Mensch sein?

Bei Bill Nighy muss ich mich wohl als Fan bezeichnen. Und warum auch nicht.

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Musikalisch setze ich die Reihe mit dem immer gleichen Lied fort, noch fallen die Blätter immerhin. Diesmal mit einer längeren Version des Songs, mit Zeit für den Aufbau, für die Ahnungen und die Andeutungen. Es spielt das Trio von Beegie Adair (Wikipedia-Link).

Das Video hier als Link, nachfolgend eingebunden.

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Just wait and see

Ich habe gesehen und auch gehört, dass es hier und da missverstanden wurde, sicher weil ich mich wieder einmal allzu ungenau ausgedrückt habe, aber ich habe keinen neuen Job. Meine Firma ist nur umgezogen. Jene Firma, in der ich immer schon arbeite, quasi seit dem Anbeginn der Welt. Jedenfalls fühlt es sich mittlerweile so an.

Wenn man lange genug in einer wachsenden Firma bleibt, fiel mir früh auf, dann ändert sie sich bald um einen herum. Ohne dass man dafür erst mühsam den Laden wechseln muss. Mit all dem Aufwand für Bewerbungen etc., den ich also tatsächlich nie betrieben habe. Und zwar ändern sich sowohl der Name als auch die Rechtsform, die Organisation und selbstverständlich dann auch absehbar Struktur und Standort.

Just wait and see, wie sich gerade wieder beweist. Ich kann nicht sicher sein, ob ich das gerade zum letzten Mal erlebe, es ist wohl eher unwahrscheinlich. Gut, man braucht über die gesamte Strecke ein wenig Geduld, das mag sein, aber es ist doch insgesamt ein zuverlässiger Vorgang.

Wenn ich von heute aus auf die Zeit blicke, in der ich dort angefangen habe, dann brauche ich eine Weile, um, wenn ich von mir selbst und von der Branchenzugehörigkeit einmal absehe, überhaupt noch erkennbare Bezüge und Gemeinsamkeiten mit jenem Betrieb von damals ausmachen zu können. Die Unterschiede sind dramatisch und betreffen fast alle Aspekte des Arbeitsalltags.

Einen jener Rückbezüge besuche ich nach der Arbeit. Eine sehr alte Exkollegin, an die sich kaum noch jemand erinnert. Vermutlich sind es nur noch etwa zehn Menschen von mehreren Hundert in der Belegschaft, die noch vage wissen, wer das war. Diese ehemalige Chefsekretärin, was natürlich auch ein Beruf ist, den nicht nur wir mittlerweile größtenteils abgeschafft haben.

Ich habe sie damals spontan kurz vertreten, diese Chefsekretärin, etwa vierzehn Tage nach meinem Abitur. Mit der entscheidenden Hauptqualifikation, dass ich mit zwei Fingern schnell und weitgehend fehlerfrei tippen konnte. Damit fing das alles an, und aus den 14 Tagen wurden dann ein paar mehr, die bis heute reichen. Das Studium und dergleichen liefen nebenbei. Es gab nicht einmal ein Einstellungsgespräch, ich wurde da einfach mit einem Anruf hinbeordert, weil gerade dringender Bedarf bestand und ihnen dort sonst niemand einfiel, lange suchen wollte man nicht. Was so nur möglich war, weil diese Chefsekretärin nebenbei auch meine Mutter war und immer noch ist.

Dort also gehe ich nach der Arbeit vorbei. Ich biete ihr oft auch mobile Onlinedienste an, denn sie hat keinen Internetzugang mehr, seit sie sich mit Vodafone in einer Weise gestritten hat, die wohl selbst Michael Kohlhaas imponiert hätte. Ab und zu google ich also etwas für sie, wenn man das jetzt noch so sagt. Ich sehe etwas nach, ich finde etwas heraus. Per Telefon wird das für sie mit jedem Jahr schwerer, denn es geht niemand mehr ran, etwa in Arztpraxen. Man findet auch die Nummern nicht mehr so leicht.

Wir reden über den aktuellen Firmenumzug und geraten im Gespräch unversehens immer weiter in den Weißt-Du-Noch-Modus. Mir fällt ein, wie ein Kollege damals, der gar keinen spektakulären Job hatte, nichts wirklich Herausragendes und übrigens ein Job, den ich bald darauf übernommen habe, mit seinem Gehalt eine aus heutiger Sicht gigantische Wohnung in Eppendorf finanzieren konnte. Wie extrem sich das verschoben hat. Welchen Job braucht man denn heute bitte, um eine große Wohnung in Eppendorf finanzieren zu können.

Wir sind beide kurz etwas beeindruckt, meine Mutter und ich, von dem, was uns da alles an schon geschichtlich interessanten Fakten einfällt, als wir über diese Dimensionsunterschiede und die paar Jahrzehnte nachdenken. Was man da für eine Spanne überblickt – es fühlt sich doch fortgeschritten seltsam an.

Wir kommen dann selbstverständlich noch auf weitere Namen von Kolleginnen und Kollegen von damals. Ich suche im Internet nach diesem und nach jener, deren Namen markant genug dafür waren. Ich lese Todesanzeigen und Nachrufe vor. Das ist allerdings nur begrenzt erbaulich, wie wir schnell bemerken. Es ist eher schon vorausgreifend novembrig. Aber okay, wir sind immerhin in der zweiten Hälfte des Oktobers.

Kreideschrift auf dem Pflaster: "Auch du bist das Überbleibsel vieler Tode"

Diese Kreideschrift, ich muss es wohl ergänzen, findet man hier vor dem Schaufenster eines Bestatters. Die Fußwege werden hier durchaus durchdacht beschriftet, wie man sieht.

Es ist so unpassend jedenfalls auch wieder nicht, was wir da treiben, und normalerweise, das sagen meine Mutter und ich uns schließlich noch, normalerweise gehen wir mit den gemeinsamen Erinnerungen doch etwas munterer um. Wie … na, sagen wir: wie Mel Tormé (Wikipedia-Link) mit dem saisonal weiterhin angemessenen Song. Es ist eine Version, die ich noch nicht kannte, und ich finde sie einigermaßen beeindruckend.

Das Video hier auch als Link, nachfolgend eingebettet.

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Altes Rezept, leicht abgewandelt

Den Schimmelreiter von Storm habe ich wieder einmal durchgehört und entschieden genossen. Danach ging ich zum schon lange eingeplanten Schließen einer klaffenden Bildungslücke über: Gösta Berling (Wikipedialink) von Selma Lagerlöf aus dem Jahr 1891. Es ist gerade erfreulicherweise in der ARD-Audiothek verfügbar, gelesen von Anja Gawlick.

Dieses etwas märchenhafte Ekeby, auf dem ein Großteil der Handlung ihres ersten Romans spielt, es passt mir ausgezeichnet hinter meine gestrigen Anmerkungen zum Stadtpalais, es fügt sich also wieder.

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In dem Buch auf dem Nachttisch aber, in dem, das aktuell ganz oben auf dem stets bedenklich hohen Stapel liegt, in Virginia Woolfs Orlando, kam ich kaum weiter. Wenig mehr als die ersten 50 Seiten habe ich geschafft, obwohl die durchaus interessant waren. Schon wegen der Beschreibung der Winterkälte und des Frostes, der ganz England vereist. Das gibt es heute kaum noch, das kann man also ruhig einmal nachlesen.

Nein, es lag nicht am Buch, es lag an mir. Und es lag (der Autor zeigt mit dem Finger vage auf alles) an der Gesamtsituation. Mit der auch nur ansatzweise zufrieden zu sein mir weiterhin kaum einfallen kann. Zu müde bin ich am Abend, zu unkonzentriert und geistig zu zerfleddert und verbraucht. Zu sehr mit meiner längst chronifizierten Unzufriedenheit beschäftigt, vor allem zu sehr mit zu vielen eher unschönen Themen. Es wäre Zeit, aus der Nummer herauszukommen, aber ich suche noch nach dem Weg.

Manchmal dauert es allerdings etwas länger, man kennt es auch aus mehrbändigen Romanen und von Serien mit zu vielen Staffeln.

Das Gute daran – es soll ja ungemein nützlich sein, stets noch etwas Gutes zu finden – scheint mir dabei, dass ich mit großer Sicherheit bereit bin, ein bescheiden anmutendes, eher stilles, unspektakuläres Freizeit- oder auch Alltags-Setting als angenehm zu empfinden. Also im Gegensatz zur drohenden FOMO und den damit verbundenen Problemen, die ebenso möglich, denkbar und auch nicht unwahrscheinlich wären. Vermutlich in jeder Altersphase, besonders aber in meiner.

(Zu dem Abkürzungswirrwar um FOMO, JOMO etc. gehört übrigens auch MOMO, sehe ich gerade, das kannte ich nicht. Mystery of Missing Out: Das Gefühl, etwas zu verpassen, ohne zu wissen, was es ist. Etwa weil andere nichts mehr über ihr vermeintlich tolles Erleben in den sozialen Medien teilen. Das ist ein sehr schönes Beispiel für Probleme, auf die ich noch nicht einmal ansatzweise gekommen bin. Aber das nur am Rande.)

Ich könne mich schließlich auch, wie ich es bei einigen aus meiner Generation tatsächlich gerade erlebe, kurz vor dem Eintritt ins nächste und deutlich rentnerhaft klingende Lebensjahrzehnt intensiv mit all dem vermeintlich Verpassten beschäftigen. Mit der ominösen Bucket-List also. Mit all dem aus irgendwelchen Gründen ernsthaft noch bei zureichender Gesundheit Nachzuholenden, mit vorletzten Neuanfängen auch noch. Überhaupt mit dem Ausfüllen irgendeiner zumindest gefühlten, drohenden Leere.

Es wäre nicht abwegig, die Gedanken als einigermaßen trainierter Overthinker nahezu permanent um derlei Leerstellen kreisen zu lassen, nehme ich an.

Ich aber möchte hier einfach nur sitzen. Gerne mit einer kleinen Abwandlung des berühmten Rezeptes vom Hausarzt Friedrich Grabow, welches Thomas Manns ihn der anderen Familie mit Budden-  vorne mehrfach empfehlen ließ: „Etwas Täubchen, etwas Franzbrot“. Ich würde ab und zu gerne noch „etwas Konzert, etwas Kammerspiel“ zu mir nehmen wollen.

In einem nicht unwichtigen Sinne scheint mir das eine vorteilhafte, am Ende auch Geld und Energie sparende Haltung zu sein.

Aber auch dies ist unterm Strich nur ein weiteres Kapitelchen in der schier endlos wirkenden Reihe: Man muss es sich alles passend zurechtbiegen.

Kreideschrift auf dem Pflaster: "Mensch, du irrst ein Leben lang"

Mittlerweile übrigens sind es mindestens drei Menschen, die hier meist nachts auf dem Pflaster schreibe. Es scheint eine spezielle, hochinteressante Form der Stadtteilalltagskultur zu werden und wirkt schon recht selbstverständlich: Morgens nachsehen gehen, was draußen am Fußweg wieder dransteht.

Und dann kann man es deuten und auf seinen Tag anwenden oder auch nicht, nach Belieben.


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