Von der Physis her anders

Ich mache das Radio an, es läuft Sport, wie immer, die Welt besteht im Radio überhaupt nur aus Sport, man jagt Bällchen hinterher oder tollt im Kunstschnee herum. „Von der Physis her fühle ich mich anders“, sagt ein Teilnehmer bei irgendeinem Sportwettbewerb in ein Mikro, und das immerhin kann ich gut nachvollziehen. Ich fühle mich regelmäßig auch morgens und abends von der Physis her anders, wenn ich die Zustände und die Tageszeiten miteinander vergleiche. „Sehr treffend“, murmele ich anerkennend. Dem Sport und seinen Helden auch einmal Tribut zollen.

Ich höre „Die Frau von dreißig Jahren“ von Balzac. Das ist meiner Erinnerung nach ein eher schmales Taschenbuch, wenn man es aber hört, ist es auf einmal ein endloser Wälzer, und zwar ein oft eher wirrer (das Buch besteht aus etlichen Teilen, die Balzac etwas unsauber verleimt hat), was allerdings auch daran liegen kann, dass ich zwischendurch einschlafe, kurz wach werde und denke „Wieso jetzt Piraten?“, dann wieder wegdämmere. Später habe ich es noch einmal nachgelesen, Piraten kommen immerhin in der Geschichte wirklich vor, da war ich dann doch erleichtert. In den essayistischen und beschreibenden Teilen ist das Buch hervorragend, das sind allerdings die Kapitel, an die ich mich nicht einmal ansatzweise erinnern kann. Vermutlich habe ich sie als junger Mensch schlicht nicht verstanden oder sogar flott überblättert. Über weite Strecken ist der Roman das glatte Gegenteil der mittlerweile so unvermeidlich gültigen Regel „Show, don’t tell“. Heute mag ich das, diese langen Erörterungen, dieses Herumdenken. Das Ende des Romans kommt dann für mich auch eher überraschend, manchmal frage ich mich, ob ich beim Lesen früher überhaupt jemals aufgepasst habe. Er hat so viele Bücher gelesen – ja, aber was hat sein Hirn währenddessen gemacht?

Jetzt höre ich „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas (der Jüngere), gelesen von Sven Görtz. Der Roman, den es dann auch als enorm erfolgreiches Theaterstück gab, als Oper (La Traviata), als Film etc. Sarah Bernhardt spielte die weibliche Hauptrolle im Theater immer wieder und wurde zur Legende, ich wusste bis eben nicht, dass man sie auf Youtube sehen kann. Hier, aus einem anderen Stück, das ganz große Händeringen, das gibt es ja heute kaum noch:

Ich verbringe ansonsten am Nachmittag weit über eine Stunde beim Zahnarzt, danach fühle ich mich dann schon wieder von der Physis her anders und habe große Lust, das mit dem Händeringen zuhause nachzumachen. Aber so exaltiert bin ich nicht. Natürlich nicht.

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Flexibel bleiben und Nüsse kaufen

Mittwoch. Ein Office-Office-Tag, ich fahre morgens mit der Bahn nach Hammerbrook, nur um einmal wieder Bahn zu fahren. Die eine Station lohnt sich kaum, aber wenn man seinen Alltag nur öde und abwechslungsarm genug gestaltet, wird einem auch eine wöchentliche Bahnfahrt von nur etwa drei Minuten Länge zum Event. Also mit etwas Fantasie jedenfalls. Na gut, eher mit recht viel Fantasie.

Mittags zwischendurch schnell raus aus dem Büro, Essen fassen, kurz über den winzigen Wochenmarkt mit seinen nur fünf, sechs Ständen. Es ist so kalt, dass ich friere. Was vollkommen uninteressant wäre, wenn es mir nicht besonders auffallen würde, denn es ist schon so lange her, dass ich draußen gefroren habe. Mehrere Wochen ist es sicher her, und das halte ich nach wie vor für eine eher originelle und auch bedenkliche Feststellung in einem Januar. Doch mal die Jacke zumachen, das gibt es ja heute kaum noch. Es findet nun etwa eine Woche Winter statt, sagt die Wetter-App, mit „Schnee bis in die tiefen Lagen“, was fängt man jetzt mit so etwas noch an. Ignorieren, gar nicht hinsehen. Nicht das Haus verlassen, nicht mitmachen. Stell Dir vor, es ist Winter, und niemand geht hin.

Oder einfach doch noch die gestern erwähnten Spekulatius essen. Flexibel bleiben.

Nach der Arbeit auf einmal eine mühlsteinschwere Müdigkeit, als hätte ich tagelang wahnsinnig angestrengt durchgearbeitet. Ich gehe zu Fuß nach Hause und bekomme Lust, mich zwischendurch kurz irgendwo hinzusetzen, an besten mit geschlossenen Augen. Nur fünf Minuten! So müde. Natürlich setze ich mich nicht hin, es ist ja auch viel zu kalt dafür.

Ich gehe nach Hause und lege Erdnüsse auf den Balkon, weil ich auf Tiktok gesehen habe, dass Raben und Krähen so sehr auf Erdnüsse abfahren, es gibt etliche Filmchen dazu. Das mal probieren, denke ich mir. Eine Handvoll Erdnüsse lege ich in einen Blumentopf, das haben wir bisher noch nicht gemacht. Ich gehe wieder rein, ich mache die Balkontür hinter mir zu, drehe mich um und da ist eine Krähe. Sie holt sich Erdnüsse. Wie geht dieses Timing? Wie ist das denn bloß möglich? Ich stelle mir vor, wie Krähen permanent über der Stadt kreisen und fortwährend prüfen, ob irgendwo wieder ein neuer Mensch die Sache mit den Erdnüssen endlich mitbekommen hat. Und dann – sofortiger Zugriff. Ich bin angemessen beeindruckt.

Ungeheuer smooth landet so eine Krähe, sehr geschickt sortiert sie sich drei, vier Erdnüsse in den Schnabel und hebt dann elegant wieder ab, um sie irgendwo zu knacken. Kommt dann wieder, holt sich nach und nach den Rest, fliegt aber immer zwischendurch damit weg, isst nichts vor Ort, keine einzige Nuss. Bestimmt ein Sicherheitskonzept.

Die Krähe holt die letzte Erdnuss, ich warte etwas ab, dann lege ich noch einmal eine Handvoll nach, was soll der Geiz. Es kommt: Eine Elster. Noch nie war eine Elster auf dem Balkon, jetzt hat sie gesehen, was die Krähe macht. Morgen erwarte ich dann den Eichelhäher.

Ich schreibe Erdnüsse auf den Einkaufszettel. Viele Erdnüsse.

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Vorsicht bei der Gebäckwahl

Es kommt eine Mail, die meinen Abiturjahrgang im Betreff hat, die üblichen Adressenupdates, die Neujahrsgrüße. Der große Verteiler, wir waren viele. Jemand antwortet mit dem Hinweis, wer im letzten Jahr verstorben sei. Man wird sich wohl daran gewöhnen müssen, aber trotz aller Erfahrung trifft es mich wieder wie unvorbereitet, und ich nehme an, so wird es mit etlichen Erscheinungen des Alters sein. Vorherige Kenntnis nützt nichts oder zu wenig, die Schläge kommen dann doch überraschend.

Ich erinnere mich an die Verstorbene. Mir fällt eine Schulstunde ein, Erdkunde, in der sie zufällig neben mir saß und die Stunde wird mir immer deutlicher und deutlicher, bis hin zur Temperatur jenes Sommertages, zur Sonne auf dem Tisch, bis hin zum Blick aus dem Fenster und wieder ins Schulbuch, die Grafiken zur Landwirtschaft in Russland, bis zur lärmenden Geräuschkulisse des Kurses, bis zum Tonfall des Lehrers, der sich wie immer rettungslos in seinen wirren Reiseberichten verlor, und als mir auch noch einfällt, wer einen Platz weiter rechts von uns saß und wer dort daneben, als ich diese jungen Gesichter vor mir sehe, da wird es mir entschieden unheimlich und ich lande wieder bei William Faulkner: „The past is never dead. It’s not even past.” Eine wahrhaft große Aussage. Mit jedem Jahr verstehe ich sie mehr, mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Ich schrieb es bereits einmal, ich weiß, ich höre auch gleich wieder auf und ich meide Madeleines immer gründlicher. Vorsicht bei der Gebäckwahl.

Apropos Madeleines und Gebäck, gestern habe ich beim Aufräumen noch eine unversehrte Tüte Spekulatius gefunden, die ich irgendwann im Dezember vor dem Nachwuchs erstaunlich findig versteckt hatte, mit dem hoffnungsvollen Gedanken, auch selbst einmal einen Keks oder zwei zum Tee haben zu wollen. Lassen Sie Ihr Gebäck nicht unbeaufsichtigt! Erheitert habe ich festgestellt, wie verboten und verkehrt sich Spekulatius für mich in der zweiten Hälfte des Januars anfühlt: Das kann man doch jetzt nicht mehr essen, also wirklich. Da könnte man doch gleich noch einmal einen Tannenbaum aufstellen oder goldfarbene Sternchen ins Fenster kleben.

Ich habe das Zeug dann jedenfalls so hingestellt, dass die Söhne es finden können. Es wird also sicher bald weg sein, und es dauert ja auch nicht mehr allzu lange, dann gibt es schon wieder die ersten Osterartikel in den Läden, das Zeug in den pastellfarben bunten Packungen mit Blümchen- und Häschenaufdruck, es ist jetzt vielleicht schon gerade in der Anlieferung.

Der Sohn, der gerade ein Praktikum in einer Kita macht (neulich habe ich ihn dort noch auf meinen Schultern hingebracht, that escalated quickly) und dabei den Nostalgie-Flash seines Lebens hat, er könnte uns dazu jetzt etwas von der Jahresuhr singen, die niemals stillsteht.

So schreiten wir hier voran.

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Und nun noch eben ein anderes einfaches Liedchen. Man müsste in jede Situation des Alltags so elegant reinkommen können, wie Paul Desmond in diesen Song bei 1:34, nicht wahr, das Leben wäre etwas stilvoller. Stattdessen stolpert und poltert man überall so herum. Also ich jedenfalls.

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Die Lage im Januar

Ich habe für das Goethe-Institut etwas über die Gesamtlage im Januar geschrieben, der Text befindet sich hier.

Dazu noch zwei Ergänzungen, eine einkaufsbedingte, eine musikalische. Eine Beobachtung, die ich erst noch etwas länger prüfen wollte, deswegen kommt sie in der Kolumne nicht vor, die ich aber mittlerweile für mehrere Läden und mehrere Tage bestätigen kann, eine allerdings freudlose, vielleicht auch alarmierende Beobachtung habe ich da nämlich noch zu bieten. Ich nehme an, sie steht in engem Bezug zur nach wie vor immer länger werdenden Schlange vor der Essensausgabe in der Kirche, und zwar ist es so, dass seit einiger Zeit immer öfter angebrochene Packungen in den Regalen der Supermärkte und Discounter stehen. Zwei Beutel Reis fehlen in der Schachtel, der Zehnerpack Joghurtdrinks enthält nur noch acht Plastikfläschchen usw., bei vielen Produkten, bei denen man gut ein wenig weg- oder herausnehmen kann, wird das auch gemacht.

Das gab es schon immer, ich weiß, aber irritierenderweise steigt das gerade sprunghaft an. Manchmal kann man das auch nicht logisch auflösen, was man da sieht, wieso genau jetzt diese plötzliche Häufigkeit hier im Stadtteil. Aber es passiert eben.

Eine aufgerissene Packung Spaghetti, eine Handvoll fehlt. Ein Netz mit Mandarinen, eine Schale Äpfel, ein Sechserpack Kiwis, halbvoll. Ich habe nebenbei noch einmal Mundraub nachgelesen, das ist auch interessant. Achten Sie mal auf die Sache mit dem Obst: „Lediglich bei wildlebenden Pflanzen darf man Früchte u. ä. „in geringen Mengen für den persönlichen Bedarf pfleglich entnehmen und sich aneignen, sofern kein Betretungsverbot besteht.“ Pfleglich, so steht es da. Dieses Wort demnächst auch einmal wieder verwenden, das ist doch ein feiner Begriff. Mit allem pfleglich umgehen.

Egal. Ich ging im Walde so vor mich hin, und nichts zu pflücken, das war mein Sinn.

Auf die zweite Ergänzung zum Jahresanfangstext wurde ich freundlicherweise hingewiesen, auf diesen farbenfrohen und erfreulich bewegten Videoclip nämlich, den man hervorragend passend zur oder nach der Kolumne laufen lassen kann:


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So hat es sich entwickelt

Zum ersten Mal seit jenem März 2020 war ich wieder im Theater, sogar in einem rappelvollen Theater. Beim Kabarettistischen Jahresrückblick waren wir, mit Bov Bjerg, Manfred Maurenbrecher, Christoph Jungmann, Horst Evers und Hannes Heesch auf der Bühne. Eine Empfehlung würde nichts nützen, es war die letzte Vorführung. Sie könnten das nur für das nächste Jahr vormerken, das aber immerhin, denn es lohnt sich.

Neulich, also zeitgefühlt verwirrt neulich, nicht de facto neulich, war ich mit der Herzdame auch im Kino (Mittagsstunde), es gab also ganze zwei besuchte Events in etwa drei Jahren. Das war bekanntlich den übermächtigen Umständen geschuldet, Sie erinnern sich, und ist aus meiner Sicht daher auch entschuldigt, es kann aber vielleicht auch wieder gutgemacht werden. Wenn ich etwa in diesem Jahr auch nur in jedem Monat einmal zu etwas gehe, in etwas gehe, dann werde ich, je nachdem wo man den Durchschnittswert ansetzt, insgesamt in den nächsten Monaten vermutlich mehr ausgehen als in den letzten Jahrzehnten. Es ist alles eine Frage der geschickten Darstellung, Infografiker kennen das. Das ist doch ein attraktiver Plan, ist es nicht? Da wir bereits den 16. Januar haben und das Jahr nach wie vor und auch Gott sei Dank keine besondere Färbung hat, pinsele ich da selbst einen gewissen Akzent hinein. Selbstwirksamkeit und so, das soll auch wichtig und hilfreich sein.

Die Veranstaltung fand im Centralkomitee mit nur einem M statt, das ist die Nachfolgeorganisation des Polittbüros mit Doppel-T in unserem kleinen Bahnhofsviertel, man findet das Programm hier. Ich sehe da etwa Kübra Gümüsay, Manfred Maurenbrecher, Kirsten Fuchs, Horst Evers, Ulla Meinecke … ich notiere mir mal wie nebenbei Termine und gucke auch wieder nach anderen Theatern und Veranstaltungen. Unverbindlich tun und dann überraschend Pläne einhalten, das ist auch eine Strategie, und keine schlechte.

Im Jahresrückblick kam unter anderem die Hochzeit des Finanzministers auf Sylt vor, das war ein Moment, bei dem ich etwas irritiert dachte: Das gab es alles wirklich. Das ist ganz im Ernst so passiert. In dieser Realität leben wir, so hat es sich entwickelt. Und dann habe ich im Nachhinein noch einmal angemessen gestaunt, denn ich hatte das Vorkommnis schon wieder erfolgreich verdrängt, und zwar vollumfänglich. Im Theater erschüttert werden, so gehört es ja.

Ist er noch verheiratet? Nein, sagen Sie jetzt nichts.

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Ich habe mir von der „Lage der Nation“ noch einmal den Sachverhalt mit Lützerath erklären lassen, um es ausgewogen präsentiert zu bekommen. Ich denke, das ist den beiden Moderatoren auch gut gelungen, im krassen Gegensatz zu einigen (auch sozialen) Medien. Es ist eben nicht in einer Überschrift oder einem Tweet zu erklären und abzuhandeln, es ist kompliziert, das dachte ich mir.

Hier noch, wieder ohne jeden Zusammenhang mit irgendwas, nur zum leisen, behutsamen  Wochenstart, Julie London mit einer fortgeschritten intimen Version von „Bye Bye Blackbird“, die man sich eigentlich, falls Sie zu den Morgenleserinnen gehören, für den Abend aufbewahren muss.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 15.1.2023

Natürlich testen nicht nur Schülerinnen und Schüler, wie sie ChatGPT einsetzen können, die andere Seite, die Lehrerinnen und Lehrer, machen das auch, und wir können uns also fasziniert vorstellen, wie LuL mit KI Arbeiten entwerfen, die SuS dann mit KI klammheimlich ausführen. Die Abkürzungen machen den Sachverhalt auch nicht schöner, nur wesentlich zeitgemäßer. Wobei ich, wenn man es als Rennen betrachten möchte, mittelfristig selbstverständlich eher auf die jüngere Generation setzen würde, schon aus Vaterstolz.

Ich lese weiter viel zu den Einsatzmöglichkeiten der KI und verifiziere einiges an praktischen Beispielen aus dem Büroalltag. Es wird wild, so viel scheint festzustehen. Wobei ich es tendenziell gut und interessant finde, wenn es wild wird. Aber diesen Satz muss man sich auch leisten können, ich weiß. Wie lange ich ihn mir leisten werden kann, das ist schwer zu schätzen. Nein, ist es nicht, aber ich schreibe es hier nicht hin, um mir spätere Blamagen beim Nachschlagen zu ersparen. „Du alter Stratege“, murmele ich mir freundlich aufmunternd beim Schreiben zu.

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Bei der Kaltmamsell ein kurzer Absatz über die Preisdifferenz bei einem Reisedienstleister. Den Sachverhalt kenne ich, den habe ich auch schon erlebt, aber nicht in dieser Dimension. 400 Euro! Das kommt mir dramatisch vor, das hätte ich so auch nicht erwartet. Vielleicht naiv.

An dieser Stelle noch eine mir passend erscheinende krückstockfuchtelne Bemerkung, ich habe gestern beim Spaziergang im Schaufenster eines Ladens für Zeugs und Klimbim eine Vase für 499 Euro gesehen, eine Vase, die ich nicht einmal ansatzweise schön fand. So etwas überrascht mich nachhaltig, ich gebe es zu. Es war ein Schaufenster, bei dem meine spontane Preiserwartung bis etwa hundert Euro gereicht hätte und ich die Mehrheit der Artikel bei etwa zwanzig Euro verortet hätte. Geschenkpreise eben. Man kann aus meiner Überraschung und meinem Blick vor der Scheibe vermutlich Hypothesen über meinen nicht vorhandenen Reichtum ableiten, ich weiß, aber noch einmal: 499! Bleib erschütterbar und widersteh‘, so hieß es bei Rühmkorf. Ich habe der Vase dann aber nichts getan, die steht da immer noch.

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Frau Herzbruch über den alten Pascha aus dem Sauerland, und ich glaube, mehr braucht man zu dem Thema gar nicht, will man vor allem aber auch nicht. Was für ein entsetzliches Thema.

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Es wäre vermutlich seltsam, wenn heute nicht auch Lützerath irgendwie vorkommen würde. Etwa hier. Ich würde mich bei „Ich bin ziemlich ratlos“ gerne anschließen wollen.

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Frau Novemberregen ärgert sich von da aus, wo sie hinwollte.

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Normannischer Regen, Hamburger Regen

Zu den wenigen Highlights der letzten Tage zählte eine alte, eine vermutlich schon uralte Dame, die mich im Hamburger Hauptbahnhof ansprach, in dessen Tunnelgewirr sie ein wenig verloren herumstand und Schilder las, deren Sinn sich ihr nicht ausreichend erschloss. „Können Sie“, fragte sie und wartete dann einen Moment, bis ich mir die Kopfhörer heruntergerissen hatte, „können Sie mir bitte sagen, wo hier die Bahn zur Osterstraße fährt?“ Das wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, hätte sie nicht die Osterstraße auf die alte Hamburger Art ausgesprochen, mit spitzem S-T, Osters-traße, mit einer sprachlichen Besonderheit dieser Stadt also, die leider so gut wie ausges-torben ist. Ich habe sie sicherlich jahrelang nicht mehr gehört, finde sie aber sehr heimelig, sowohl in einem zeitlichen wie auch in einem örtlichen Sinn. In meiner Kindheit war es noch ein vertrauter Klang, siehe Helmut Schmidt oder andere ältere HamburgerInnen, die ich bei meinen regelmäßigen Besuchen in dieser Stadt gehört habe. Wir hatten Verwandtschaft in Hamburg. In Lübeck sprach man nicht so.

Ich habe auf meinen weiteren Wegen dann Schmidtdeutsch vor mich hingemurmelt, etwas von der S-taatsräson und von s-tändigen Vertretungen, ich habe noch am Schreibtisch zumindest im Geiste alles auf diese Art ausges-prochen und es war besser, deutlich besser als gar kein S-piel. Ansonsten aber auch nur ein weiterer Werktagnachmittag, farblos wie eine Gehwegplatte, S-tagnation und latente Unzufriedenheit, die nicht genauer benennbar war, ein fast ärgerliches Gefühl, bei dem ein weiteres Nachdenken aber vermutlich nicht lohnte, so dachte ich, das vermutlich mit „Januar“ bereits treffend genug benannt war.

Am Freitag dann wieder Home-Office unter dem Dachfenster, vor und auf dem ein Wetter mit ordentlich Percussion und Windgeheule stattfand. Ich wollte zwischendurch eine Playlist anmachen, startete aber versehentlich ein Hörbuch, als der Regen gerade mit Macht auf die Scheiben klatschte, wie aus den sprichwörtlichen Kübeln gekippt, und es lief der Anfang eines Stückes von Maupassant, Mademoiselle Fifi, darin wurde ausgerechnet der Regen in der Normandie beschrieben, wieder einer dieser Zufälle:

„Regen fiel in Strömen. Ein echt normannischer Regen. Wie wenn eine zürnende Hand ihn herabschüttete, ein Regen schräg von oben, wie ein Vorhang, wie eine Mauer aus Schraffur. Peitschender, klatschender Regen, der alles ersäufte, ein typischer Regen für das Gebiet um Rouen, den Nachttopf Frankreichs.“

Die „Mauer aus Schraffur“, die fand ich schön, in meinem Hamburger Regen, der an diesem Tag auch ein irischer Regen hätte sein können, meinetwegen auch ein normannischer, welcher Herkunft auch immer.

Ansonsten keine Bemerknisse.

Hier noch, ich bleibe musikalisch bei Sängerinnen aus schwarzweißer Vorzeit, Sarah Vaughan mit einer spektakulären Aufnahme von „Misty“. Ich mag besonders Ende und Anfang, wie sie zu Beginn aus dem Sprechen vollkommen zwanglos ins so beeindruckende Singen übergeht und zum Schluss aus dem Singen heraus ins Lachen, wie meisterhaft ist das denn.


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No other love

Es ist Donnerstag, die Woche zieht sich etwas, und das ist betont zurückhaltend ausgedrückt. Zur seelischen Stabilisierung und wider die geistige Zerfransung gebe ich mich völlig meinem aktuellen Ohrwurm hin, „No other love“, gesungen von Jo Stafford. Es ist ein hinreißend schönes Stück, man kann es unsinnig oft hintereinander auf repeat laufen lassen und es wird einfach nicht schlechter, ich habe das für Sie getestet. Nein, für mich.

Es beruhigt etwas. Und es macht, wenn man es als Soundtrack hört, seltsame Dinge etwa mit all den Menschen, die morgens um halb acht im Hauptbahnhof auf eine S-Bahn Richtung Südelbien warten. Es macht nur in meinem Kopf etwas mit denen, versteht sich, sie hören es ja nicht. Aber es verändert ihre Gesichter, in meiner Wahrnehmung.

Ich sehe lauter Menschen, die irgendeinen Gesichtsausdruck haben, darunter nur wenige mit einer Andeutung von guter Laune neben viel zu vielen, die traurig aussehen, mutlos oder bestenfalls sacht betrübt bis grummelig. Es gibt auch einige mit etwas im Gesicht, das wohl Wut ist, es wird bei manchen auch Verzweiflung dabei sein, dann Durchhaltewillen, eine allgemeine Dennoch-Haltung und sicher auch Verbitterung, seelische Verelendung, fortschreitende Verzagtheit und selbstverständlich gucken einige auch vollkommen ausdruckslos, wie abgeschaltet oder, tageszeitbedingt, eher wie noch nicht angeschaltet. Die ganze Bandbreite der Mimik eben, wie es bei einer Stichprobe von vielleicht fünfzig bis hundert Menschen, die in einer unspektakulären Situation ins Leere sehen, nun einmal zu erwarten ist.

Wenn man aus Noise-cancelling-Kopfhörern etwas übertrieben laut „No other love“ hört, während man an denen langsam vorbeigeht und sozusagen die Parade abnimmt, dann sieht jedes dieser Gesichter für einen Moment und zumindest mit etwas Fantasie so aus, als sei der Gesichtsausdruck gerade jetzt passend nach einer besonderen Nacht, nach einer schweren Entscheidung am Morgen oder einer folgenreichen Erkenntnis vielleicht, nach einer kitschig schicksalhaften Weichenstellung, nach einem Kapitelende, was auch immer, das geht auf diversen Niveau-Ebenen. Ich gehe das Gleis zweimal auf und ab, ich spiele im Geiste mit den Darstellerinnen herum und stelle fest, dass viele Gesichter einwandfrei filmtauglich aussehen, wenn man sie so betrachtet. In Schwarzweiß wäre es womöglich noch wesentlich besser, aber meine Brille filtert so nicht, irgendwas ist immer.

„No other lips could want you moreFor I was born to glory in your kiss.”

In Wahrheit, ich weiß, memorieren die Leute im Geiste nur Einkaufszettel, schreiben hohle To-Dos für Bullshit-Jobs oder planen bestenfalls die Streaming-Slots am Wochenende. Aber wer weiß.

Die Melodie ist von Chopin, hier das Original:

Ich höre wieder zuhause noch einmal Text, etwas vom Schnitzler, „Das neue Lied“, eine ziemlich gemeine Geschichte. Dabei fällt mir ein, dass ich auf Youtube einmal eine Filmaufnahme von ihm gesehen habe, die kennen Sie vielleicht nicht, es soll die einzige von ihm sein, so heißt es da:

Wissen wir das also auch jetzt, so sah er in Bewegung aus, der Herr Schnitzler.

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Me and the blues

Dienstag. Frühlingsluft und Rotkehlchengesang am Morgen, beides mit diesem Zug ins Liebliche, der einen irgendwie betreffen möchte, man merkt das vage in Herznähe, vielleicht ist es auch im Rückenmark, wer kennt sich innen schon aus, und man hat ja auch keine Zeit, da auch nur halbwegs ausreichend hinzufühlen.

Es ist ohnehin nur eine knappe Stunde, dann wird es doch wieder etwas kühler, etwas grauer und trotz der fortschreitenden Tageszeit auch auf einmal etwas dunkler, ein paar Tropfen fallen. Hell leuchtet mir nur der Bildschirm im Home-Office, heiß ist der Kaffee, den ich in nicht mehr feierlichem Ausmaß in mich nachfülle und auf irgendeine Wirkung warte. Bis zum Anschlag melancholisch ist die Musik aus dem privaten Notebook neben dem dienstlichen. Mildred Bailey singt für mich im Hintergrund.

Man arbeitet so vor sich hin. Es ist nicht schlimm und es ist nicht richtig gut, es ist irgendwas dazwischen und es geht auch vorbei. Ein Drittel des Monats bereits. Gleich ist es schon die Hälfte, gleich war das der Januar, kaum passt man einmal kurz nicht auf. Dann noch der Februar, auch so ein Lästling im Kalender. Ab März sicher schon wieder die vage und vor allem wetterbedingte Hofferei auf irgendwas, dann bald die allmählich Fahrt aufnehmende Vorfrühlingsumtriebigkeit. Radieschensamen nachkaufen und dergleichen.

So wird es wohl kommen. Das ist so weit halbwegs planbar, wenn schon sonst nichts.

Ich bin allein in der Wohnung, alle sind ausgeflogen und bleiben den ganzen Tag weg. Ich sehe mich um, ich höre der Stille zu, ich weiß nicht recht. Ich mache nach der Arbeit eine Stunde überhaupt nichts und gebe mich der Form nach entspannt, dann warte ich ergeben auf den Gedanken: „Was du da alles hättest machen können!“ Der kommt prompt.

Auf dem Spielplatz unten am späten Nachmittag eine Mutter mit ihrem Kind. Sie will es in die Schaukel für Kleinkinder setzen, es wehrt sich, es möchte lieber nicht. So früh fängt das nämlich an. Die Mutter hebt in dramatischer Geste die Arme zum Himmel, was fängt man an mit diesem Kind, mit diesem Tag.

„Ich weiß es auch nicht“, denke ich und sehe den beiden weiter zu, „ich weiß es auch nicht, aber es macht nichts.“

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 10.1.2023

Hier wurde ChatGPT lang und gründlich für eine Buch-Recherche getestet, mit der Erkenntnis, die mittlerweile häufig zu lesen war: Das Programm lügt, das Programm ist teils sehr brauchbar, das Programm ist verblüffend unzuverlässig. Man muss aus diesem Mix etwas machen, wenn man kann. Am Ende ist es immerhin eine Beschreibung, die auf viele von uns auch zutrifft, nicht wahr.

In diesem Kontext: Eine Erinnerung an Joseph Weizenbaum.

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Ein Interview mit Felix Lindner, der auf Twitter den Account mit den Tagebuchzitaten von Thomas Mann betreibt.

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Frau Donnerhallen über den Zusammenhang zwischen der Pandemie, den Kalorien und der Wissenschaft, mit weiteren erhellenden Verweisen. Es kommt in ihrem Text außerdem ein Reiskocher vor, und irgendwie begegnen mir online gerade dauernd Reiskocher, bei Anke etwa auch – braucht man am Ende einen Reiskocher? Ich habe sogar einen Sohn, der neuerdings so einen haben möchte. Wie kommt die Jugend nun auf so etwas, ist es wieder irgendwas bei Tiktok? Influenct dort jemand Reiskocher? Im Zweifelsfalle ist es heute immer irgendwas bei Tiktok, was nicht heißt, dass es nicht auch berechtigt sein kann. Vielleicht doch mal Reiskocher recherchieren.

Neulich waren es noch Heißluftfritteusen, alle hatten auf einmal Heißluftfritteusen, die habe ich allerdings ausgelassen und ich glaube, es hat nichts ausgemacht. Aber immer wachsam bleiben, ganz wichtig.

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Über die Klimakrise, unsere langsame Anpassung und die zögerliche Evolution, ausführlich und lehrreich bei Meike, der Biolehrerin der Herzen.

Zum Klimawandel kam gerade der Satz des Tages im Radio, beim Kaffeekochen habe ich ihn in der Küche gehört. Es ging um Sport, weil es leider immer um Sport geht, wenn ich schon einmal Radio höre, ich leide da unter einem Fluch oder dergleichen. Es ging, fast noch schlimmer, um Wintersport, und der Reporter sprach über ein Ski-Rennen, es soll heute stattfinden und er sagte: „Das wird ein ungewöhnliches Rennen, denn es hat geschneit.

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Christian über Common Ground in der Kommunikation.

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