Tocktocktock

Die Frau mit dem bemerkenswert unfreundlichen Gesichtsausdruck, die mir am Morgen in der S-Bahn gegenübersitzt, liest in einem dicken Buch: “Das Böse in uns”. Passt schon.

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Am Vormittag landet eine Silbermöwe auf einem Fensterrand am Bürohaus gegenüber, auf der anderen Seite des Fleets. Und guckt, was da drinnen wohl ist. Da drinnen ist der öffentliche Dienst in Gestalt einer älteren Sachbearbeiterin. Der öffentliche Dienst guckt, wie die Möwe guckt. Nach einer Weile wird der Möwe das aber zu langweilig sie klopft energisch mit dem Schnabel an die Fensterscheibe, mal sehen, was der öffentliche Dienst dann so macht. Der öffentliche Dienst in Gestalt der älteren Sachbearbeiterin holt ein Handy aus der Hosentasche und macht ein Möwenbild, die Möwe schüttelt indigniert den Kopf. Und klopft dann wieder mit dem Schnabel, ein lautes Tocktocktock. Der öffentliche Dienst hinter der Scheibe schüttelt auch den Kopf, dann sehen sich beide eine Weile starr an, die Möwe mit schräg gelegtem Kopf, der öffentliche Dienst vorgebeugt im Bürostuhl.

Wer in Hamburg mal bei Hagenbeck war, der kennt das, was die Möwe da macht: Primaten hinter Scheiben angucken. Das gilt bei uns Menschen immerhin auch als anerkanntes Unterhaltungsprogramm, da muss man die Möwe verstehen.

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Es gibt Menschen, die machen einfach mit, das sind die meisten, das sind wir fast alle. Und es gibt einige, die stellen immer und bei allem die Sinnfrage. Warum? Warum ich? Und warum ausgerechnet jetzt, warum genau so? Und wenn sie keine vernünftigen Antworten bekommen, dann mache sie eben nicht mit, und zwar kategorisch nicht. Manche Menschen stellen solche Fragen sogar schon ab dem frühesten Kleinkindalter, wenn sie gerade erst reden können. Ich habe das bis vor einigen Jahren nicht gewusst, also bis ich so einen als Sohn bekommen habe. Diese Menschen führen ein auf ganz besondere Art spannendes Leben, wenn man es bewusst positiv ausdrücken möchte. Und wenn man da als Vater dabei ist, bekommt man eine ungewöhnliche Dosis Sinnfragen ab, deren Beantwortung einen ab und zu deutlich überfordert – mich jedenfalls.

Warum nehmen wir alle den ganzen Unsinn der Welt einfach so hin, die Umweltverschmutzung und den Klimawandel und die Autos in den Städten und all das? Warum stehen wir jeden Morgen für den ganzen Kasperkram auf, warum machen wir bei allem mit. warum machen wir Sachen, bei denen wir die Sinnfrage nicht oder nur höchst ungenügend beantworten können? Warum ist die Welt überhaupt so schlecht eingerichtet? Warum mache ich z.B. einen Job, der mir gar nicht gefällt? Warum mache ich nichts anderes? Wie konnte das kommen? Manchmal muss man da ehrlicherweise einfach sagen: Ich muss erst einmal nachdenken.

Und das mache ich jetzt auch für den Rest des Abends. Stets bemüht.

6 Kommentare

  1. Im Prinzip stellt der Junge die Frage nach der Theodizee, da muss man nur (sehr naheliegend, meine ich) „Gott“ durch „der Mensch“ ersetzen, um zur selben Frage zu kommen. Und die Antworten auf die Theodizee sind seeehr dünn, Sie sind da bei Weitem nicht alleine mit Schwurbeln und Ähem.

    Ich halte es in der Frage mit den Evolutionspsychologen, die meinen, dass die neolithische Revolution (Seßhaftwerdung, Grundbesitz, Ackerbau und Viehzucht und die daraus sich ergebenden komplexen menschlichen Gemeinschaften) „der größte Fehler der Menschheit“ gewesen sei (kann man zum Beispiel bei Yuval Harari recht interessant nachlesen); dazu noch ein wenig von der „dünnen Tünche der Zivilisation“ erzählen, und dann hat man schon einigermaßen eine Antwort beisammen.

    Ich würde dem Kind solche Ansätze nahebringen, trotz aller Komplexität; ich bin sicher, er ist alt genug dafür, schließ?ich fragt er danach.

  2. Die Antwort ist einfach: der Mensch muss essen, einen Beruf macht man zum Geldverdienen und nicht zur Selbstverwirklichung. Da kommt es nicht darauf an, dass es Spaß macht, sondern dass am Monatsende genug Euronen auf dem Konto landen.

    Und warum nehmen wir die Zerstörung der Erde so hin? Weil ein paar Milliarden Menschen so viele Fehler gemacht haben im Laufe der Zeit, dass diese Fehler nicht so einfach zu beheben sind. Und weil unsere Eltern und Großeltern in den letzten 50 – 100 Jahren den Wissenschaftlern, Industriellen und Politikern zu leichtgläubig vertraut und die eigene Verantwortung abgegeben haben.

    Und weil wir allein nicht viel ändern können außer den Müll zu trennen, das Auto abzuschaffen und keine vergifteten Nahrungsmittel mehr zu kaufen. Immerhin etwas!

  3. Lieber Herr Buddenbohm, diese Fragen sind tatsächlich schwer zu beantworten. Ich weiß, wovon ich rede, denn in letzter Zeit stelle ich sie mir so oder so ähnlich fast täglich. In Ihrer Situation fielen mir schon eher Antworten ein, denn sie tragen gemeinsam mit ihrer Frau die unter anderem materielle Verantwortung für eine Familie, und da schmeißt man nicht so einfach hin…
    Ich dagegen, weise alte Frau, Kinder längst unabhängig, Job erledigt, habe auch noch nicht so richtige Ideen zur Weltenrettung. Ich sehe schon, wo es klemmt, und trotzdem kann ich nicht wirklich etwas tun (glaube ich zumindest). Und gerade beim Umweltthema bin ich manchmal auch einfach zu gleichgültig und bequem…

  4. Das sind wichtige und spannende Fragen, die der Sohn stellt – hat er vielleicht auch selbst Antworten darauf? Jedenfalls „funktioniert“ er noch nicht in dem Maße wie wir und empfindet unsere Normalität deshalb als anzweifelnswert – gut so, da können auch wir ins Grübeln und Verändern kommen, hoffentlich.

  5. Ich arbeite in einem Bürogebäude, in dem Menschen, die es zum ersten Mal betreten, nach spätestens zwei Abbiegungen eines Ganges garantiert jede Orientierung verlieren. Es ist so gut wie unmöglich, dort als Besucher einmal durchzugehen und dann genauso wieder hinaus zu finden, wenn man nicht gerade kundige Begleitung hat. Soweit ich mich erinnere, hat das noch niemand geschafft. Als wir vor ein paar Jahren in das Gebäude gezogen sind, brauchten wir Wochen bis zu einem normalen Betriebsablauf, also bis jeder auf Anhieb alles gefunden hat, seinen Schreibtisch, die Kaffeemaschine, das Klo, den Kopierer, was man als Büroangestellter eben so braucht.
    Neulich kam ein verirrter Kollege, der normalerweise an einem anderen Standort arbeitet, in unser Büro, sah sich kurz um und fragte dann einigermaßen ratlos: “Ist das hier das Ende?”
    Womit er eigentlich nur das Ende des Ganges meinte, denn unser Büro hat nur einen Eingang, es ist kein Durchgang, die Frage war also gar nicht so schlecht und durchaus berechtigt. Aber wie es so ist, man denkt dann eben doch eine Weile darüber nach, ob dieses Großraumbüro eigentlich das Ende ist, ob man nun will oder nicht. Ich habe jetzt nicht nur den Sohn mit dem Sinnproblem, ich berichtete hier, ich habe jetzt auch noch verwirrte Kollegen mit unerwartet tiefschürfenden Fragen. Ich brauche dann bitte bald mal ein Sabbatical, um das alles vernünftig beantworten zu können.
    ***
    And now her watch is ended.
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    Im Garten einen Kirschbaum, einen Pflaumenbaum, einen Pfirsich, mehrere Himbeeren, eine Johannisbeere gepflanzt. Die Reineclaude ist bestellt. Das Kartoffelfeld ist in Vorbereitung, Radieschen, Rauke,  Speisezwiebeln und etliche Blumensorten sind schon in der Erde. Und das ist erst der Anfang.
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