Sven fragt nach den guten Nachrichten. Ich sehe an den Wänden der Häuser im Stadtteil nach, das mache ich gerade immer so; da steht “Elsa ist out”, das hilft uns nicht weiter. Ferner steht da “Miriam P. ist eine Schlampe”, wobei der Nachname voll ausgeschrieben wurde, aus Datenschutzgründen wird der hier aber selbstverständlich nicht wiedergegeben, es ist in Wahrheit auch kein P., so viel Diskretion muss schon sein. Die Erkenntnis zu Miriam P. hat jemand an die Wand der Technischen Fachhochschule geschrieben und zwar mehrfach, fünfmal, zehnmal, immer wieder, die Schrift wirkt hektisch, das war ein Getriebener. Und das mit Miriam kann er jetzt auch vergessen, so viel steht wohl fest. Keine guten Nachrichten.
Habe ich übrigens schon erzählt, wie ich mal eine Miriam ins Leben gerufen habe? Das war kurz bevor ich endgültig gar nicht mehr dazu kam, Geschichten zu schreiben, also “richtige” Kurzgeschichten meine ich, damals hatte ich in Wahrheit nicht nur Mühe, überhaupt noch ausreichend Zeit zum Schreiben zu finden, damals wurde es mir auch entschieden zu magisch. Ich schrieb gerade an einer Geschichte, eigentlich an einem Romankapitel, aber das war in diesem Fall austauschbar. Und alles, was ich schrieb, begegnete mir tatsächlich, angefangen bei dieser Miriam. Miriam ist dann später im Manuskript eine andere geworden, es ist die, die man jetzt in der Geschichte “Alles kann übers Meer kommen” findet. Das ist die letzte Geschichte gewesen, die ich geschrieben habe, mit der habe ich dann wenigstens einen Preis gewonnen, im Grunde war das ein schöner Abschluss, fällt mir gerade erst auf. Lange Leitung, Herr Buddenbohm, ganz lange Leitung!
Im ersten Entwurf zu dieser Geschichte ist mir Miriam viel zu dominant geraten, zu wütend ohne Grund, zu übergriffig, zu psycho, ich kam erst nach einer Weile darauf, welche unselige Erinnerung ich da verarbeitet habe, und die wollte ich doch gar nicht verarbeiten. Ich habe Miriam auf einer Seite genau beschrieben, ihre schwarzen, langen Haare, ihren stets grundlos drohend wirkenden Blick, sie trug in dieser Szene einen seltsam unmodernen und etwas zu groß geratenen Mantel, dicker Tweed wie aus den dreißiger Jahren, ein Mantel, um darin zu versinken, eine Rüstung. Das habe ich alles wieder gestrichen, das wollte ich so nicht.
Am Abend dieser Überarbeitung fuhr ich S-Bahn und eine Frau setzte sich neben mich. Lange schwarze Haare, sie trug einen seltsam unmodernen und etwas zu groß geratenen Mantel, dicker Tweed wie aus den Dreißiger Jahren, eine Rüstung. Sie setzte sich hin und sah mich an, ein seltsam bedrohlich wirkender Blick, ernst und lang. Dann sah sie aus dem Fenster und wirkte empört. Es gibt Menschen, und das sind gar nicht viele, die können Empörung so dermaßen heftig ausstrahlen, dass man es schon auf zehn, zwanzig Meter fühlt und dabei aber gar nicht benennen kann, woran man das eigentlich merkt, man ist in ihrer Nähe und hat sofort Schuld. Pauschal. So eine war Miriam. Ein schwieriger Mensch.
Und es ist ja so, wenn man Autor ist und etwas in der Art erlebt – man schreibt am nächsten Tag nicht mehr unbefangen weiter. Denn was macht diese Miriam jetzt da draußen in der Wirklichkeit? An der Frage kommt man einfach nicht vorbei. Wird sie jetzt nicht noch wütender, so ohne Geschichte, aus der sie ohne Gnade gefallen ist, bevor sie auch nur richtig losging? Muss man andere vor ihr warnen oder was? Und Jahre später findet man dann einen Satz an einer Wand und denkt sich so: “Miriam. Ich habe da einen Verdacht.”
Das ging aber damals noch so weiter. Ich habe kurz darauf eine Büroszene beschrieben, eine ziemlich unwahrscheinliche und etwas klamaukhafte Szene, weit am Alltag vorbei, aber unerläßlich für die Handlung, denn meine Hauptfigur brauchte einen gewissen Schubs. Mich rief dann kurz darauf ein Kollege aus unserem Büro in München an: “Du wirst nicht glauben, was hier gerade passiert ist …” Da habe ich dann ernsthaft darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, viel, viel vorsichtiger zu schreiben.
Schließlich habe ich noch der männlichen Hauptfigur zu einem Aussehen verholfen, zu einer Figur, einer Frisur, einem Gesicht und einer Haltung, nur bei der Kleidung, da war ich mir nicht ganz sicher, da überlegte ich lange drauf herum. Aber kein Problem, er stieg dann in den Bus, mit dem ich nachmittags fuhr, setzte sich vier Reihen weiter vorne hin – und winkte mir freundlich zu, wobei er sich ans Revers seines Jacketts fasste, als wollte er sagen: “Guck mal, gerade gekauft.” Ich hätte jeden Eid abgelegt, diesen Mann nie vorher gesehen zu haben, also außer in meiner Story natürlich. Ich habe nicht zurück gewunken, ich bin ausgestiegen. Aus dem Bus und aus der Geschichte.
Und seit diesem Vorfall, er ist schon bald ein Jahr her, kann ich mich nicht entscheiden. mit welcher Szene ich bloß jemals weitermachen soll. Das will verdammt gut überlegt sein, glaube ich.
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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, dann grabe ich mich weiter durch den Garten, bis das ein richtig toller Platz zum Schreiben wird. Und dann suche ich mir neue Ausreden.
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Leider kann ich kein Bild schicken, aber wenn ich aus dem Fenster schaue, lese ich ein Graffiti mit dem Text „Warum Graffiti“. Vielleicht lässt sich aus dem gesammelten Fundstücken mal ein Roman machen… Mit Ihren Funden allerdings wohl ein verstörend unerfüllter, trauriger Liebesroman ?
Den Film „Stranger than fiction“ kennen Sie aber?
Nein, kenne ich tatsächlich nicht, aber gerade nachgelesen. Interessant!
Zu dem Thema kann ich auch den Roman „Headhunter“ von Timothy Findley beisteuern, in dem eine Bibliothekarin versehentlich die Figur Kurtz aus Conrads „Heart of Darkness“ in die Welt entlässt — mit bösen Folgen. Ein toller Toronto-Roman (allerdings nicht zu empfehlen, wenn man da irgendwann mal hinziehen will — ich bin das ungute Gefühl nie so ganz losgeworden).
Kennen Sie „Picknick auf dem Eis“ von Andrej Kurkow?
Der unbekannte Schriftsteller Viktor wohnt in Kiew mit einem Königspinguin namens Mischa zusammen, den der Zoo mangels Geld nicht mehr ernähren konnte. Von einer Zeitung erhält Viktor den Auftrag, Nachrufe auf Vorrat zu schreiben. Bloß bleiben die Texte dann nicht lange im Stehsatz, sondern werden in rascher Folge veröffentlicht.
Ja, das kenne ich sogar. Fand ich gut, wenn ich mich recht erinnere.
Das erinnert mich auch an die Tintenwelt-Trilogie („Tintenherz“, „Tintenblut“, „Tintentod“) von Cornelia Funke, auch wenn das schon länger her ist, da wurde Erzähltes und Vorgelesenes auch Wirklichkeit, mit bösen Folgen natürlich. Schade, dass es nicht funktioniert, wenn man absichtlich gutes schreibt, erzählt oder vorliest, Magie läßt sich, so scheint es, nicht lumpen.
Oder vielleicht ist es doch besser so, ein umgekehrter Mephisto stelle ich mir als stest das Gute wollende, stehts das Fasche schaffende langweilige Figur.