Hinterbeine und Arme

Gestern beim Orthopäden. Im Wartezimmer liegt ein räudiges, zerspieltes Stofftier auf dem Kindertisch neben dem Lego und den Bauklötzen, ein Hund wohl oder ein Fuchs, das ist von oben schwer zu erkennen. Das Tier liegt auf dem Rücken, die Beine in die Luft gestreckt, wobei zumindest eines der Hinterbeine in einem Winkel absteht, der nicht gesund und auch nicht so gemeint sein kann. Eine Mahnung für die kleinen Patienten hier, so sieht das dann aus, wenn man auf seine Knochen nicht aufpasst.

Mein Ellenbogen macht mittlerweile Karriere bei anderen Ärzten, so komme ich, da ich den ja dauernd begleiten muss, auch mal in abgelegene Stadtteile wie etwa Altona. Immer das Positive sehen! Da war ich Ewigkeiten nicht! Die Firma hat mir für die nächste Woche eine Sprechrolle angeboten, daher gehe ich auch mal wieder zur Arbeit. Das ist fürchterlich nett von der Firma, hoffentlich fällt mir vor Montag auch wieder ein, was die da eigentlich so machen und wo noch einmal das Büro liegt. Von Passwörtern, Usernamen etc. ganz zu schweigen. Ist ja alles eine Weile her mittlerweile.

Wie das dann weitergeht – unklar. Vermutlich wird es eine Operation geben. Oder zwei. Im Januar oder so. Bis dahin übe ich einfach das Leben mit chronischen Schmerzen, man gewöhnt sich an alles. Sie merken, hier wird nicht viel gejammert. Lassen Sie mich einfach hier zurück, ohne mich können Sie es schaffen.

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Genau genommen war ich jetzt acht Wochen nicht im Büro, dazu eine kleine Erkenntnisbilanz in zehn Punkten:

  1. Ich finde Ruhe und Alleinsein großartig. Noch besser als immer vorgestellt. Mir ist im normalen Alltag vieles viel zu laut und Großraumbüros sind ganz zweifellos eine Erfindung des Teufels.
  2. Es wird nicht langweilig, nichts vorzuhaben. Es wäre natürlich noch besser gewesen, wenn ich die Hände hätte vernünftig benutzen können, aber es ging auch so. Spazierengehen, lesen, diktieren, nachdenken – ich komme schon zurecht.Ich komme sogar hervorragend zurecht. Ich würde auch jahrelang so zurecht kommen.
  3. Ich vermisse die Berufstätigkeit nicht. Also abgesehen vom finanziellen Aspekt, versteht sich. Ich habe längst nicht mehr das Gefühl, mit Berufstätigkeit und Karriere irgendwem irgendwas beweisen zu müssen. Nicht einmal mir selbst.
  4. Die Familie klappt erheblich, wirklich erheblich besser, wenn mindestens ein Elternteil tiefenentspannt ist und ohne Ende Zeit hat. So dramatisch viel besser klappt das, ich müsste eigentlich sofort und dauerhaft Hausmann werden. Aber Geld, ne. Irgendwas ist immer.
  5. Ich habe erstaunlich viel Spaß daran, mit den Söhnen für die Schule zu lernen. Könnte ich tatsächlich stundenlang machen (können sie aber nicht, ihr Tag ist einfach zu kurz – Ganztagsschule und die Folgen).
  6. Ich komme so leicht ohne Twitter, Facebook etc. aus – als Sucht kann ich Social Media wirklich nicht ernst nehmen.
  7. Es gibt keine Überdosis Mittagsschlaf.
  8. Aber auch nach acht Wochen habe ich es noch nicht geschafft, einfach entspannt irgendwo zu sitzen, in einem Park oder so, an der Alster, was weiß ich. Ich sehe da immer Leute sitzen, überall sitzen Leute, die nichts machen, die sitzen einfach nur. Den Dreh kriege ich nicht, protestantische Arbeitsethik from hell, Dabei nie religiös gewesen! Schlimm. Ich muss zumindest immer so intensiv nachdenken, dass es als strebsame Bemühung durchgeht. Man hat aber auch Macken!
  9. Die wildesten Stimmungsschwankungen habe ich auch ganz ohne beruflichen und terminlichen Stress. So etwas findet man wohl ohne längere Testphase nicht heraus, man rät da sonst immer nur.
  10. Ich komme tatsächlich darauf, was ich alles gerne schreiben möchte, wenn ich nur mal genug Zeit habe. Das hat jetzt nichts genützt, weil ich ja aus medizinischen Gründen nicht viel schreiben konnte. Aber gut zu wissen ist es dennoch. Und irgendwann wird es wieder gehen, so die Theorie.

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Ich habe das Feld von Robert Seethaler zu Ende gehört. Das Hörbuch ist in 78 Abschnitte eingeteilt, bei mindestens einem dieser Abschnitte bin ich mir ganz sicher, dass ich über die meiste Zeit komplett abgelenkt war, ich könnte nichts davon nacherzählen. Ich habe während des Hörens an Gott weiß was gedacht, ich habe auf den Verkehr geachtet oder ich stand vor einem Joghurtregal im Supermarkt und dachte intensiv über die Auswahl nach, ich habe Bekannten auf der Straße zugewunken oder beim Portugiesen Kaffee bestellt, was weiß ich, ich habe jedenfalls nicht ordnungsgemäß auf den Text geachtet. Dennoch bin ich, auch wenn es komplett verrückt klingt, sogar bei diesem Abschnitt sicher, dass er mir gut gefallen hat. Was mich natürlich an meinem Urteilsvermögen bei Hörbüchern noch mehr zweifeln lässt, man sollte sich selbst aber ohnehin nicht zu viel vertrauen. Vielleicht reicht es mir tatsächlich, wenn etwas gut klingt? Um der Sache auf den Grund zu gehen, müsste mir jemand mit der Stimme von Robert Seethaler bitte mal testweise einen Konsalik vorlesen. Dann wüsste ich mehr.

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Neues Hörbuch angefangen: Die Pest von Camus, gelesen von Ulrich Matthes, übersetzt von Uli Aumüller. Das muss ich immerhin nicht gut finden, bei dem Werk sind sich die Literaturwissenschaftler einig, das ist definitiv gut, das kann ich einfach glauben, so weit, so einfach. Camus ist bei mir eine größere Bildungslücke, warum auch immer. Zu meiner Schulzeit war der irgendwie auf dem Lehrplan nicht vorgesehen, danach war nie die Gelegenheit. Jetzt aber. Scheint auch ganz gut zu passen, wo wir doch die Pest wieder im Land haben.

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Außerdem angefangen: “Einfach gehen” von Steven Amsterdam, übersetzt von Marianne Bohn. Das wollte ich gar nicht lesen, ich wollte nur mal kurz hineinsehen, aber gleich in der ersten Szene geht es um Sterbehilfe. Das ist nicht gerade das verlockendste Thema, aber das ist so geschildert, dass man unwillkürlich ein paar Minuten dranbleibt und zack, hat man kurz darauf schon ein Drittel des Buches durch. Der Autor arbeitet als Palliativpfleger, der kennt sich aus und das merkt man. Es reißt einen nicht runter, es gibt nur zu denken, sehr gut gemacht.

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Ein Fleet in Hamburg Hamm

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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3 Kommentare

  1. Camus ist der Grund, warum ich Französisch studiert habe. Lies mal lieber seine Tagebücher. Die sind gut.

    Und den Rest von dir hab ich auch gerne gelesen. Das Leben geht seltsame Wege, um einem zu zeigen, was gut für einen ist.

  2. Von wegen, dich zurücklassen – für mich bist du der geheime Bürgermeister von Blogistan (das brauchst du ja nicht zu wissen). Gute Besserung, lieber Maximilian – dafür, dass Schmerzen meist die Persönlichkeit eintrüben, wirkst du erstaunlich ausgeglichen! Angeschlagen und so tapfer – das soll dir erst mal jemand nachmachen!

    Sehr schön, auch mal explizit mehr über dich zu erfahren (Erkenntnisbilanz) und nicht wie sonst lediglich indirekt durch deine Beobachtungen.
    Zeit zu haben, ist wirklich ein kostbares Gut – dem entgegen sitzt leider das Geld. Zu 8: es brauchte mich Jahre der Stille und der Zurückgezogenheit, um einen Unterschied zu erleben, zwischen *aktiv selbstgedachten* Gedanken und Gedanken, die sich *in mich schieben*. Fehlt die Erfahrung, klingt das natürlich strange (nur so als Anregung, denkerisch auch mal auf *Durchzug* zu schalten…)

  3. Habe seit dem Eintritt ins Rentenalter vor 3-1/2 Jahren Zeit im Übermaß – und ich genieße es. Ein wenig Haushalt, ein wenig bloggen, andere Blogs lesen, so wie dieses hier, ein wenig dies, ein wenig das.
    Vor einer Woche habe ich es tatsächlich geschafft, mich einfach so irgendwo hinzusetzen. Das wa nicht geplant. Und da habe ich 2 Stunden in der Sonne auf einer Bank an der Elbe bei uns vor der Haustür gesessen und nichts getan als einfach nur zu sitzen, auf das Wasser zu gucken und die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Ich hätte schon viel früher Rentner werden sollen – aber das Geld …

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