Schlammfarbene Pullover und wiedergelesene Bücher

Neues Buch angefangen: “So, und jetzt kommst du” von Arno Frank. Darin enthalten eine schöne Stelle über ein Stück Geschichte, über das Telekolleg: “Wenn Bärbel den Fernseher überhaupt einschaltete, dann nur für Tagesschau. Und Telekolleg-Sendungen im Dritten, wo blasse Mathematiker in schlammfarbenen Pullovern schleierhafte Grafiken und Vektoren benäselten.”

Schön daran ist, dass Jüngere dies nur für eine nette Polemik halten werden, ich es aber auch genau so erinnere. Die schlammfarbenen Pullover! Immer trugen die freudlos murmelnden Mathelehrer in diesen Sendungen solche Pullover. In diesen Sendungen, die man natürlich nicht komplett guckte, die man nur kurz und wie starr vor Schreck ein paar Minuten laufen ließ, wenn sie beim Umschalten am Nachmittag plötzlich erschienen. Was da erklärt wurde, das war auch nie für uns bestimmt und passend, das war immer für irgendwann später, seltsamerweise galt das allerdings auch noch in der gymnasialen Oberstufe. Und so verlässlich trugen die Mathematiker – immer waren sie männlich – diese schlammfarbenen Pullover, man gewann irgendwann den Eindruck, mathematische Kenntnisse der Extraklasse könnte man schon durch das bloße Überstreifen eines solchen Kleidungsstücks erwerben, ein allerdings unerträglicher Gedanke, ich meine: schlammfarben. Für mich standen diese blassen Mathematiker auch noch für die Folgeschäden des Fachs. Die Freaks, die in Mathe gut waren, die würden später so aussehen und beruflich vor grauer Pappkulisse mit dürren Stöckchen auf seltsame Kurven zeigen müssen, diese Filme waren mir ernste Warnungen.

Den Söhnen ist gar nicht klar, wie nett sie es heute mit Youtube haben, mit diesen jungen Leuten da, die den Satz des Pythagoras fröhlich rappend erklären können, und zwar so, dass man ihn sogar versteht. Mathe hat sich ziemlich zum Vorteil verändert.

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Wie in jedem Herbst habe ich mit einem wenig erfolgversprechenden Versuch begonnen, die Bücher im Wohnzimmer auszulichten und aufzuräumen, ein der heiligen Ordnung gewidmetes Vorhaben, das die Wohnung unweigerlich ins komplette Chaos stürzt, schon weil die Herzdame dadurch animiert wird, auch mal eben etwas zu räumen, was wiederum die Kinder veranlasst, ihre Sachen auch mal durchzusehen. Und die interessieren sich natürlich auch für unsere Stapel, denn wir könnten ja etwas weggeben, was sie noch gebrauchen können, wobei aus der Sicht eines gewissen Sohnes allerdings alles noch zu gebrauchen ist, das erschwert das Ganze ein wenig. Es sieht hier jetzt also wieder sehr bunt aus.

Seit etlichen Jahren schon behalte ich nur Bücher, von denen ich vage glaube, dass ich sie irgendwann ein zweites Mal lesen könnte, irgendein Kriterium braucht man eben bei der Auswahl. Die Anzahl der Bücher, bei denen das bisher auch tatsächlich eingetreten ist, dieses zweite Lesen, sie ist wohl im kleinen, einstelligen Bereich. Das als Auszeichnung zu verstehende Wiederlesen, mache ich das irgendwann nach Renteneintritt, in zehn Jahren, in zwanzig Jahren, im Seniorenheim, mache ich es nie? Oder jetzt? Warum nicht jetzt? Die gesammelten Werke von Novalis in vier Bänden, habe ich da ernsthaft jemals wieder Lust drauf? Lesen oder nicht lesen, das ist hier die Frage. Der Herbst, Zeit für die wirklich großen Probleme, Sie kennen das.

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Wieder im Büro gewesen. Ich hatte ganz vergessen, welch Bild des Elends die Menschen in der S-Bahn morgens abgeben, wie müde, zermürbt, beladen, geknechtet und trostbedürftig sie alle aussehen, wenn sie zur Rush-Hour am Montag in die Büros fahren, niedergedrückt vom Alltag, frierend vor Erschöpfung, wirklich, es greift einem ans Herz, wenn man des Mitleids überhaupt noch fähig ist.

Morgen wieder zu Fuß gehen, dann muss ich mir das Elend wenigstens nicht ansehen. Immer konstruktiv vorgehen! Und nie auf die Spiegelungen in Schaufenstern achten!

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte, wobei ich auch gegen eine gewisse Beschleunigung des Vorgangs nichts einzuwenden hätte.

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8 Kommentare

  1. Spannend, wie unterschiedlich Menschen mit Büchern umgehen. Von 100% Eigentum wurden 80% erst gekauft, nachdem sie bereits gelesen (Stadtbücherei(en)!) und definitiv künftig mindestens noch einmal (vor-)gelesen werden. Geld spart man leider nur wenig, wegen der Verspätungsgebühren 😉 Die restlichen gekauften 20% sind Vorlese-Empfehlungen von Buchhändlern, die ob des Wunsches (Buch für Erwachsene, das vorlesbar ist) unterschiedlich reagieren. Das Verhältnis Kauf zu Leihe beträgt gefühlt 1:15 (mh, dazu könnte ich mal eine Statistik führen und im schlammfarbenen Pullover anschließend Wahrscheinlichkeiten berechnen ;-))

  2. Ha, ich mach das auch so mit den Büchern! Und da hier seit Langem auch wieder Bücherhalle angesagt ist, kommen nur wenige dazu!

  3. Ich wäre ja zu neugierig, welche Bücher – im kleinen, einstelligen Bereich – du bereits zwei Mal gelesen hast! Magst du verraten welche?

  4. Ich hab da vor ein paar Wochen etwas angefangen: Mittels einer chinesischen Guillotine schere ich Buchrücken ganzen ab, schiebe die nun losen Blattstapel in meinen meinen ScanSnap und mache jeweils ein EBook daraus. Das Papier kommt in die blaue Tonne, das EBook auf den Kindle.

    Saša-Bücher und Dinge mit Widmung überleben. Bring massig freie Regalmeter.

  5. Vielen Dank für den Lacher wegen der Telekolleg-Charakterisierung! Wir haben die als 5./ 6.-Klässler gerne im Hintergrund laufen lassen – ohne viel zu verstehen. =D

    Beste Grüße,
    Franziska

  6. Ich lese Bücher durchaus mehrfach, hebe viele aber auch als Souvenirs meines Lebens auf — das Buch, das ich auf der tollen Dachterrasse in Delhi gelesen habe; das Buch, das ich in Irland auf der ersten Reise mit meinem jetzigen Mann gekauft habe; das Buch, an dem ich mich in der Nacht nach einer schlimmen Trennung festgehalten habe; das erste Buch, das ich nach dem Tod meines Vaters wieder lesen konnte usw. Viele stehen für die Reisen, auf denen ich sie gekauft und/oder gelesen habe — besser als irgendwelche kitschigen Mitbringsel, wenn auch nur für mich so deutbar.

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