Der Geschmack toter Seesterne

Ich war vor ein paar Tagen mit Sohn I bei einem Casting für eine Fernsehserie und komme weiterhin aus dem Staunen nicht heraus, wie selbstverständlich ihm das alles ist. Hier, spiel das mal vor, und dann macht er das. Einfach so. Unerfindlich. In seinem Alter hätte wir damals höchstens darauf spekuliert, einmal Kamerakind bei Michael Schanze zu werden, aber wir hatten eben auch nichts. “Ob ihr Recht habt oder nicht, sagt euch gleich das Licht”, fällt mir bei Michael Schanze natürlich sofort ein. Ein Satz, den wir für das ganze Leben abgespeichert haben, nicht nur ich murmele das noch manchmal im Büro vor mich hin, wenn ich mich bei einem Problem frage, was da wohl die Lösung sein mag. Es soll ja übrigens auch bei Nahtoderfahrungen gewisse Lichteffekte geben, ob man da dann auch noch so einen Quatsch denkt? Vermutlich.

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In der Zahnarztpraxis kommt vor mir ein Mann aus dem Behandlungszimmer, dreht sich um, umarmt im Türrahmen die Zahnärztin und sagt: “Ich möchte mich ganz herzlich für deine Arbeit bedanken.” Und da weiß man dann als Zuhörer nicht, kennen sich die beiden irgendwie anderswoher – oder haben sich die Umgangsformen in solchen Praxen auch längst grundlegend geändert? Und man ist währenddessen ein seltsamer Kauz geworden, mit dem ganzen formalen Gehabe und Guten Tag und Händeschütteln und so, natürlich alles noch per Sie?

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Die Geschichten von den Färöer Inseln habe ich durch, gleich danach habe ich Geschichten aus Georgien gelesen, wo niemand von Klippen fällt. Dafür kommt der Tod durchs Erhängen mehrfach vor und ich frage mich jetzt, ob jedes Land oder jede Gegend eine typische Todesart in Erzählungen hat. Traumatische Schulerfahrungen gab es in dem Buch auch mehrere, Georgien also: Schlimme Schulzeit, dann erhängt. Island eher: Sie liebt mich nicht, da, die Klippe. Es lebe die Vereinfachung. “Bittere Bonbons” hieß das Buch. Ich glaube, ich suche mir noch mehr Bände mit Landesauswahlen, als nächstes liegt hier Tschechien (“Die letzte Metro”). Mal sehen, woran man da so stirbt, nach den ersten Seiten zu urteilen am Suff.

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Auf die skeptische Kinderfrage beim Abendessen, was das denn nun wieder sei, hat die Herzdame scherzhaft geantwortet: “Esst das lieber nicht, es schmeckt nach totem Seestern.” Woraufhin die Söhne mit großem Interesse und gutem Appetit gegessen haben. Darauf hätten wir auch früher kommen können.

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Auf dem Spielplatz sitzt einer dieser Radkuriere, Sie wissen schon, die mit dem großen Kasten auf dem Rücken und der unsäglich albernen Kleidung an. Er gehört aber weder zur einen noch zur anderen der beiden großen Firmen, es ist der Farbe nach zu urteilen irgendwas ganz anderes, ich kann es nicht erkennen. Der Mann sitzt auf einer Bank, hat die Beine weit von sich gestreckt und liest ein dickes Buch. Ab und zu sieht er auf sein Handy, und er ist natürlich viel zu weit weg, um es genau zu erkennen, aber diese Sitzhaltung, diese Art, wie er liest – ich glaube, er ist ganz froh, dass gerade keine Aufträge reinkommen. Zwei kleine Kinder gehen vorbei, zeigen auf den Transportkasten und reden, gehen vorsichtig einen Schritt näher, die diskutieren sicher, was da wohl drin sein mag. Der Kasten ist immerhin ganz schön groß, da könnte sich so ein Kind drin verstecken.

Der Mann guckt nicht einmal hoch, der blättert nur um und liest weiter.

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Bei der Anzahl der Todeserwähnungen hätte dieser Text eigentlich im November erscheinen müssen, merke ich gerade, im November, der sich wettermäßig auch nicht großartig von diesem Mai unterscheidet. Was hier fehlt, das ist ein Zeichen des Aufbruchs und des Lebendigen, überhaupt des Frühlings, ein nachösterlicher Schub sozusagen. Und nachdem ich mich krankheitshalber gerade zwei Tage ausgeruht habe, kann der jetzt auch gerne mal kommen, der Schub.

Und wissen Sie was, während ich das schreibe, in genau dieser Minute, zieht es sich draußen dunkelgrau zu und ein kalter Wind greift in die Linden und schüttelt die Ringeltauben durch, die sich ihre Wohnlage auch etwas sonniger vorgestellt haben.

Nächste Woche soll es endlich wärmer werden.

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Bei HONY wieder ein ganzer Roman in einem kurzen Beitrag.

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Musik! Legen Sie sich schon einmal hin, decken Sie sich zu. Die Lampen leuchten, der Tag ist aus. Hanns Dieter Hüsch auf seiner Abschiedstournee, das ist wunderschön.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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8 Kommentare

  1. Wenn es lustig sein soll empfehle ich die Krimis von Krischan Koch. Im Bereich “witzige Fantasy“ ist für mich Terry Pratchett ungeschlagen.

  2. Tja, das mit dem formalen Gehabe und Siezen hat mir auch so ein paar seltsame Erlebnisse beschert in letzter Zeit. Ich habe mich mehrfach über oberförmliche und zurückhaltende Leute gewundert, und dann mehr oder weniger durch Zufall festgestellt, dass dieses Verhalten eine Reaktion auf meine empfundene Zurückhaltung – oder halt das Siezen – war.
    Nächster Schritt: Verinnerlichen, dass ganz viele andere Leute auch Angst vor sozialen Situationen haben und normalerweise sehr erfreut über eine Kontaktaufnahme sind. Kann man mit Mitte dreißig ja mal machen.
    Auch mit Mitte dreißig: Die Erkenntnis, dass man jetzt diejenige ist, die das Du anbieten sollte, sonst wird das nichts.

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