Krass mittel

Die Fortsetzung zu diesemText

Die Wandersaison ist da und ich habe mit Sohn II eine kleine Testwanderung unternommen, einen überschaubaren Fitness- und Teamtest sozusagen. Das war eine Großstadtregenwanderung, so etwas geht auch. Nachdem ich im letzten Jahr erhebliche Probleme mit den Armen hatte, habe ich jetzt ein kleines Fußproblem, Macken am Bewegungsapparat kann ich nämlich wirklich gut. Aber es hält mich noch nicht auf, hat sich gezeigt. Na gut, Drei-Tagestouren würde ich im Moment nicht gerade machen, aber egal, das muss ich ja auch nicht. Wir sind einfach mit der U-Bahn in Richtung Garten gefahren und nicht wie immer ausgestiegen, wir sind bis zur Endstation Mümmelmannsberg sitzen geblieben und dann von da aus ohne Karte oder Plan zurückgegangen, bescheidene neun Kilometer, etwas mehr vielleicht.

Das ist natürlich keine besonders aufregende Strecke, Stadt eben, wenn sie auch durch den Wechsel der Bebauung dennoch einigermaßen unterhaltsam ist. Besonders der Sohn ist immer wieder davon beeindruckt, dass die Stadt mal schön ist und mal nicht, in dem Alter nimmt man das noch nicht einfach so hin, sondern steht alle paar Schritte vor der Frage: “Wie isses nun bloß möglich?” Ja, warum eigentlich gibt es so unfassbar hässliche Stellen in der Stadt. Warum gibt es andererseits plötzlich ganz zauberhafte Winkel und waldartige Grünstellen, dann wieder Betonklötze und Auftürmungen in Deprigrau, warum? Es liegt nicht nur am Geld, stellen wir fest, es gibt auch arm-schön und reich-hässlich, und zwar ganz eindeutig. Wie bei allen Wanderungen fragen wir uns oft, ob  man da wohl leben wollen würde, also etwa genau in dem Haus da, guck mal:

“Man kann auch besser wohnen.”

“Aber auch viel schlechter!”

“Ja, es ist mehr so krass mittel.”

Und dann überlegen wir, ob krass mittel okay ist oder eher knapp unterhalb von okay, das ist im Grunde ein großes Thema, und große Themen passen sehr gut zu Wanderungen. Wir kommen irgendwie auf Berufe und Karrieren, aufs Schreiben und Dichten, wir kommen auf tausend Umwegen auf Dichterlesungen, er findet das Wort so witzig, Dichterlesung, meine Güte, das kann doch keiner ernst nehmen. Er fragt, wo ich schon überall gelesen habe und wo demnächst, er stellt ganz richtig fest: “Du bist ja eher kein Dichter. Du bist mehr so der Geschichter.” Ich muss mal wieder über neue Visitenkarten nachdenken.

Das Hamburg um uns herum wirkt auf einmal kreisstadtklassig, ich denke an das Begemannsche “Bad Salzuflen weltweit”. Wir kaufen ein Eis in einer Konditorei, in der die letzten zwanzig bis dreißig Jahre nicht stattgefunden haben, eine Verkäuferin erklärt einem sehr alten Herren gerade, dass das mit dem Mürbeteig hier immer schon so gewesen sei, wirklich immer schon, und ich verstehe sofort, warum ringsum nur CDU-Plakate hängen.

Wir gehen über eine Autobahnbrücke und dann noch einmal zurück, weil die Wirkung der gigantischen Lärmschutzwand sehr faszinierend ist. Wir stellen uns davor und daneben und hören, wobei der Sohn unentwegt schimpft und flucht, diese Generation wird nicht als autoverliebt in die Geschichte eingehen. Die Autobahnbrücke zieht runter, die hässlichen Ecken der Stadt auch, so etwas möchte er gar nicht sehen, ich eigentlich auch nicht, die nächste Wanderung soll dann doch bitte an der Ostsee oder irgendwo draußen stattfinden.

Wir gehen durch Kleingärten. Wir beide haben eine fachmännisches Interesse an Kleingärten und gehen jetzt einen Kilometer mit Kennerblick, das haben wir uns im letzten Jahr verdient. Völlig entsetzt stehen wir vor überfrachteten Wahnsinnsgebilden durchgedrehter Dekorationskunst in Laubenfenstern. Da müssen wir natürlich schon wieder einiges besprechen, nämlich was der Mensch schön findet und was tatsächlich zweifellos schön ist, also etwa der Baum da. Gut, dass wir verglichen haben.

Schließlich kommen wir im eigenen Garten an, es regnet mittlerweile in Strömen. Wir werfen uns aufs Bett und halten Mittagsruhe, während hinter der Holzwand Wasser in die Regentonne plätschert, fröhlich plätschert hätte ich fast geschrieben, denn so klingt es tatsächlich, es plätschert und plätschert und es ist das allerbeste Einschlafgräusch der Welt, zumindest heute. Weiter hinten am Himmel wird es schon wieder hell, die Temperatur in der Laube ist genau richtig und für einen kleinen Moment ist einmal alles gut. Das braucht man auch ab und zu, stellen wir fest und merken wieder, die Pausen nach den Wanderungen, die gehören ganz klar zu den schönsten, die man machen kann.

Dann finden wir Schokolade in den Schränken und es wird alles noch besser.

Die Fortsetzung des Wanderberichtes ist hier.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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7 Kommentare

  1. „Weniger Dichter, mehr Geschichter.“

    Der Sohn versteht den Vater und schenkt ihm einen Slogan. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. (Meine Version ist echt nicht die beste, der Claim geht bestimmt noch geschmeidiger.)

    Gehen ist mit Kindern übrigens wirklich toll, ich empfehle das als Therapie in schlechten Zeiten. Die Welt ist anders aus diesen Augen.

  2. Besser können Vater und Sohn einen gemeinsamen Tag wohl kaum gestalten. Auf alles reagieren und sich über die Dinge austauschen. Ich wünsche Ihnen, dass dieser Austausch mit ihren Kindern nie verloren geht. Meine Tochter ist inzwischen 32 Jahre alt und wir sind beileibe nicht immer einer Meinung, aber wir reden immer miteinander und genauso war es zwischen mir und meiner Mutter. Das ist ein großes Geschenk.

  3. Die Beiträge über die Wandertouren mit Sohn 2 sind die Besten überhaupt! Gerne mehr davon! Natürlich nur wenn ihr Fuss wieder mitmacht…

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