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Die Tagebücher von Victor Klemperer als Hörspiel
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Währenddessen findet schönster September statt, hier etwa das Katzengold der Herbstsonne auf dem früh gefallenen Laub an der Mauer des Spielplatzes. In echtere und weitere Natur habe ich es in letzter Zeit leider nicht geschafft.
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Abends fährt ein Auto unsere Straße hoch, ein Cabrio, aufgemotzt und frisiert wie sonst etwas. Die Autoposer werden seit Wochen in der Innenstadt immer auffälliger, da fahren jetzt vermehrt auch Ferraris, Maseratis etc. herum, es gibt hier immer wieder Beschleunigungsangebereien in den 30er-Zonen ringsum und vor allem vor dem Hauptbahnhof, wo es schön viele Leute nervt. Dieses durchgestylte Cabrio hier fällt aber vor allem durch laute Musik auf, nicht durch den überstarken Motor. Das ist natürlich nicht irgendeine Anlage, die wurde vermutlich von Profis entwickelt und verbaut und kann wirklich etwas, die kann, wie man hört, etwa ein ganzes Stadtviertel beschallen. Allerdings hört der Fahrer nichts mit viel Bass, Bass, Digger, er hört auch keinen hochgradig versauten Rap oder irgendeine abgefahrene Form des Aggro-Speed-Metals, der Fahrer hört vielmehr in unfassbarer Lautstärke gregorianische Gesänge. Und dabei auch nicht eine der weichgespülten instrumentalisierten Versionen, die man heute auch ab und zu in Hotelfahrstühlen oder auf Spotify-Playlists findet, die irgendwas mit “Chill-” im Titel haben, nein, da läuft der wahre Stoff, das alte Zeug. Und zufällig sehe ich in der Sekunde der Vorbeifahrt gerade aus dem Küchenfenster, sehe Kirchturm und Mond und Wolken und eine eilig vorbei fliegende Krähe in immerhin halber Dunkelheit und höre dazu also einen Choral oder was auch immer das genau war, ich kenne mich da gar nicht aus, aber für eine Sekunde passt das jedenfalls alles unfassbar gut zusammen. Immerhin.
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Eine kleine Begebenheit noch, geradezu unglaubwürdig gleichnishaft, aber wie ich immer sage, so isse eben, die olle Wirklichkeit, die hat es nicht so mit den Regeln der Ästhetik und des Stils, die haut plump einfach rein und überzeichnet, wie es ihr passt, da sind Karikaturisten gar nichts dagegen. Ich bringe einen Sohn zur Schule, da ist Treffpunkt für die Klassenfahrt. Herumtobende Kinder, Kofferberge, eine kreischende Aufgeregtheit in der Luft, man möchte auf gar keinen Fall Lehrer sein. Dem Sohn fliegt etwas ins Auge, das ist ein natürlich saublöder Zeitpunkt für so etwas. Er hat nun wirklich anderes vor, aber es ist dann doch ein einigermaßen dringliches Vorkommnis, darum müssen wir uns kümmern. Ich sehe nichts im Auge, aber das beweist nichts, weil Nahbereich und Alter. Ich bitte also andere Menschen um Begutachtung, die sehen dann schon etwas, die Beseitigung gelingt ihnen aber nicht, das Ding ist hartnäckig. Das Auge tränt und tränt und wird rot. Ich erkläre, dass dieses auch richtig sei, Tränen spülen so etwas irgendwann raus und schlimm sei das alles ja nicht, spätestens mit einem Wasserhahn sollte man es in den Griff bekommen können, oh Fülle der Lebensweisheit. Das nützt dem Sohn natürlich überhaupt nichts, denn das Auge tränt immer weiter und es ergibt sich dabei dummerweise folgendes Bild – hundert Kinder tollen fröhlich herum und freuen sich auf die Reise, eines sitzt neben seinem Vater am Rand und heult. Das heult in Wahrheit zwar gar nicht, wie ich jederzeit gerne bezeugen kann, das hat nur etwas im Auge, aber jede vorbeigehende erwachsene Person nähert sich mit lebhaften Ausdrücken des Bedauerns und des Mitleids, einige sind dabei auch noch so halb amüsiert, ach Gott, was hat das arme Kerlchen denn? Das Kerlchen wird, wer könnte es nicht verstehen, allmählich immer wütender, das hat ja immerhin auch einen Ruf zu verlieren, aber die Wut sieht man ihm leider auch gleich an und diese Mischung aus Tränen und Wut sieht in der Folge eher noch problematischer aus und es dauert eine Ewigkeit, bis sie endlich alle abfahren und er das Problem dann irgendwann alleine löst. So etwas löst sich ja immer nach einer Weile und ist dann gar keine Erinnerung mehr wert.
Aber auf dieses eindrückliche Bild – hundert fröhliche Kinder, eines heult – wäre ich vermutlich selbst auch reingefallen und ich habe mich zumindest kurz gefragt, wie oft man wohl auf eine ganz ähnliche Art völlig kenntnislos in seiner Einschätzung scheitert.
Na, man muss es nehmen, wie es kommt, das gilt auch für die banalen Belehrungen aus dem Alltag mit Kindern.
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Musik! Thelonious Monk.
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Diese erste Begebenheit ist zu köstlich.. darauf ein Miserere Mei! Ich war kurz versucht, den Cabriofahrer zu imitieren und mit Bluetooth-Boxen und Mozart loszuziehen, aber in der pittoresken Kleinstadt, in der ich wohne, wirkt das nicht richtig. Nunja.