Ich weiß es doch auch nicht

Nach dem letzten Text wurde ich auf FB gebeten, den Hauptbahnhof doch bitte etwas besser wegkommen zu lassen. Das will ich gerne tun, selbstverständlich doch, bitte sehr, bitte gleich, ich mache mir die Welt …

Gleich am nächsten Morgen also bin ich in ausdrücklich positiver Erwartung zur Bahn gegangen, es schlug mein Herz, geschwind zum Zug. Und ich nahm mir vor, dem Stimmengewirr dort irgendetwas zu diesem Zwecke zu entnehmen, quasi Collageneffekt, nicht wahr, das kennt man, O-Töne einsammeln, immer super, alles so echt hier. Ich durchschritt die morgendliche Menge tatsächlich mit dem Notizbuch in der Hand, aufnahmebereit wie ein Boulevardreporter im letzten Jahrhundert, den Stift im Anschlag. Allerdings vernahm ich weitgehend überhaupt nichts, nur undeutliches Geraune und Genuschel, für mehr oder weniger literarisch sein sollende Zwecke dürften die Menschen gerne ihre wenigen Zeilen in halbwegs anständiger Lautstärke deklamieren, echtjetztmal, das geht so nicht. Was ich einzig verstand, das war ein in besorgtem Tonfall gesprochener Satz zwischen zwei Frauen, es war so ein Satz mit offenem Ende: “Wie sie aber damit die Schule schaffen soll …” Und die andere nickte daraufhin mit einem vielsagenden Blick.

Das war mir natürlich noch nicht positiv genug, Kreativität hin oder her, ich kann auch nicht aus allem etwas machen. Aber dann! Drei Meter weiter, diesmal ein Satz zwischen zwei Männern: “Das muss er dann aber irgendwie schaffen.”

Das sind jetzt nicht gerade strahlende Beispiele von Lebensmut und Frohsinn, aber wenn man eine etwas intimere Beziehung zum Zufall hat, dann freut man sich ja auch schon über solche Satzpaare. Zweimal Schaffen, einmal zwei Frauen, einmal zwei Männer, einmal sie, einmal er, das hat doch eine gewisse Ästhetik, und ich dachte mir also: Immerhin!

Ansonsten schwiegen aber alle, lauter stille Menschen auf den Bahnsteigen, keine Äußerungen, kein Satz, nichts, nur das übliche, immer leicht beleidigt wirkende Warten. Und die langweiligen Lautsprecherdurchsagen: “Auf Gleis 3 fährt ein …”, da hört man aber kaum hin, so sehr ist das längst Gewohnheit. Dann schließlich doch noch ein Satz, der mir auffiel, einer wenigstens noch, auch der kam aus den Lautsprechern: “Noch einmal die Türen lösen …”

Die folgende Assoziation ist jahreszeitlich nicht mehr ganz passend, wofür ich um Verständnis bitten muss, meine Assoziationen gehen etwas nach. Aber diesen Satz, der doch seine eigene Schönheit hat, wenn man es recht bedenkt, noch einmal die Türen lösen, diesen schlichtschönen Satz mit lyrischem Potenzial, den können wir uns nehmen, entleihen und remixen, etwa in dem wir ihn einfach mal ohne Schaden am Rhythmus bei Benn einbauen, mitten in die Astern rein, gucken Sie mal:

“Noch einmal die Türen lösen,

den Rausch, der Rosen Du –

der Sommer stand und lehnte

und sah den Schwalben zu.”

Nun gut. Die Schwalben sind längst fort und wir müssen uns mit anderen kleinen Wesen begnügen, etwa mit dem, was jetzt fast etwas bedenklich nah an der Gleiskante herangelaufen kommt, ein Mädchen von etwa sechs Jahren in einer roten Regenjacke, das eine rote Mütze trägt und singt und lacht und tanzt, ein Wirbelwind ohne erwachsene Begleitung, der ist da für gute Laune zuständig und macht das sehr gut, auch wenn die wartenden Erwachsenen dem Mädchen alle nachsehen, ohne auch nur die geringste Regung im Gesicht zu zeigen. Sie bleibt in ihrer Rolle und wirbelt und lacht und singt und springt, da muss man dann gar nichts tricksen, das kann man als das Positive schlechthin einfach durchgehen lassen und ich könnte jetzt hier aufhören.

Aber der Blick fällt noch eben auf einen alten Mann. Der sitzt alleine auf einer Bank und er fällt schon deswegen auf, weil sonst niemand hier so alt ist. Es ist Rushhour, alle fahren zur Arbeit, alle sind beschäftigt, viele sind jung, etliche sind so mittelalt, richtig alt aber ist niemand, ist nur dieser Mann, der da ruhig sitzt, alleine auf einer Bank mitten im Bahnhof, mitten im Gedränge, und es ist ein erhebliches Gedränge und Geschiebe. Der guckt sich um, besieht sich freundlich die Menge, schüttelt den Kopf. Das sieht etwas komisch aus, denn er trägt eine dieser seltsamen Mützen mit altmodischen Ohrenklappen, die schlackern etwas, wenn er den Kopf bewegt. Er schüttelt also den Kopf und ab und zu hebt er die Schultern und die Hände ein wenig, mit den Handflächen nach oben. Er sagt nichts dabei, aber wenn er etwas sagen würde, ich möchte es fast wetten, dann wäre es ein Satz mit einem milden Bedauern: “Ich weiß es doch auch nicht.” Genauso sieht es aus, genauso sieht er aus.

Und wenn man es aber in diesem ehrwürdigen Alter auch nicht weiß, dann kann ich ja für heute, so denke ich mir jedenfalls, das Grübeln einfach mal einstellen, es bringt ja doch nichts.

Ich mache mir eine Playlist an, die hat irgendwas mit “Calm” im Titel. Ich fahre mit traulichen Klängen zugedröhnt ins Büro, denn irgendwo muss die Harmonie ja herkommen.

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Und nun 12 Minuten Bedouine. Und mehr wären auch in Ordnung gewesen.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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7 Kommentare

  1. Bei Ihrer beschriebenen Reaktion auf Beruhigungsmusik finde ich die Playlist „Calm“ im Berufsverkehr eine sportliche Wahl. 🙂

  2. Man kann über einen Hauptbahnhof, egal in welcher Stadt, zwar etwas positives schreiben, aber warum sollte man derart lügen wollen? Es ist nunmal ein Hauptbahnhof… Das einzig positive, das mir dazu spontan einfällt ist, dass ich nicht so häufig hin muss…

  3. Nun ja, manche Dinge nimmt man schon für selbstverständlich. Ich kannte mal einen Australier, einen gestandenen Mann Mitte dreißig, der stand am Münchner Hauptbahnhof und hat mit offenem Mund festgestellt, dass es Züge nach Berlin, Prag, Rom und Paris gab.
    Wenn ich mir den Fortschrittsglauben meiner science-fiktion-lastigen Jugend ein wenig zurückholen will, meditiere ich ein wenig über der logistischen Leistung, tausende Züge, Gleise, Menschen halbwegs nach Plan über abertausende Kilometer Gleise und den ganzen Erdteil Europa zu bewegen. (Ja, Japan und die Schweiz sind besser im Plan. Aber sehr viele Länder durchaus auch der ersten Welt sind schlechter.)
    Nun wird in München der Hauptbahnhof auch mit recht drakonischen Maßnahmen von den Elenden freigehalten…

  4. Och, ich finde Bahnhöfe aufregend und spannend. Als Homeoffice verwöhnte kenne ich keine Rush Hour, muss mich selten über Verspätungen ärgern und führe damit wohl ein sehr privilegiertes Leben. Meine Bahnhofserlebnisse beschränken sich deshalb auf Erwartung, Aufregung und Vorfreude, z. B. darauf eine gute Freundin vom Zug abzuholen (der Zug hatte Verspätung, aber da wir zu zweit warteten, war das nicht schlimm), gelegentliches Verreisen oder am Bahnhof-Buchladen einen Bildband zu kaufen, den ich nirgends in der Stadt gefunden hatte. Ich bleibe dann gern noch eine Weile stehen, manchmal setze ich mich sogar auf einen Kaffee hin, um die Durchsagen zu hören und zu lesen, in welche aufregenden Städte die nächsten Züge fahren.
    Mein heute dreijähriger Hund hat übrigens im Bahnhof Aufzug und Rolltreppe kennengelernt. Die Hundschule übte regelmäßig mit den ganz jungen Hunden (pro Kurs ca 10-12) Rolltreppe fahren und trotz Lärm und aufregenden Gerüchen konzentriert zu bleiben, Koffern und eiligen Füßen auszuweichen und nah bei ihren Menschen zu gehen. Viele Leute haben sich gefreut uns zu sehen und ein kleines bisschen gelächelt. Es kann im Bahnhof auch schön sein.

  5. Eintauchen in Menschenflut („Menschenbaden“, analog zu „Waldbaden“) ist immer ein außerordentliches Erlebnis und Bahnhöfe ein guter Ort dafür.

    Abzuraten ist davon allerdings dringend bei eigener innerer Zerwirbelung – also zum Beispiel, wenn das Aufstehen am Morgen dem Aufwachen zu weit voraus gegangen ist, man gerade Zuvielisation hat oder Grippe.

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