Aus der Kreidezeit

Es ist bekannt, dass man sich mit dem Älterwerden auf einmal wieder an längst verschüttete Begebenheiten und Gefühlszustände erinnert, dass dies teils auch völlig unvermittelt und in beeindruckender Bildfülle geschieht. Nicht bekannt ist vielleicht, in welch schmerzhafter Intensität das stattfinden kann. So habe ich beim Lesen, nein, beim Hören des Professors Unrat einfach durch herumgaloppierende Assoziationen eine geradezu beängstigend real wirkende Rückblende zu einer Mathestunde erlebt und auf einmal wieder einen Tafelzirkel unangenehm deutlich in der Hand gehabt. Kennen Sie die Dinger noch, diese unhandlichen Riesenteile, mit denen man da korrekte Kreise beträchtlicher Größe ziehen sollte und die so leicht abrutschten, die man aber andererseits auch beim Herumtoben ganz gut als Waffe einsetzen konnte, wenn der Lehrer nicht im Raum war jedenfalls? Und daneben das Geodreieck in ähnlicher Größe, natürlich auch als Schild geeignet?

Ich habe also absurd deutlich gespürt, wie dieses Ding sich an der Tafel anfühlte, ich habe gesehen, wie die schlecht abgewischte Tafel aussah, Kreideschlieren von vor zig Jahren, was man alles so abgespeichert hat. Ich habe dabei aber auch den Klassenraum hinter mir gerochen, erschütternd überzeugend mit einem leichten Anflug von nassem Tafelschwamm und Lehrer-After-Shave. Die 7. Klasse war das, weit über 30 Kinder damals, entsprechend auch die Luft im Raum, schon fast ranzig zu nennen, dazu noch die schnatterhafte Geräuschkulisse wieder im Ohr gehabt und das Körpergefühl erlebt, die Größe, bzw. eher das Kleinsein, und überhaupt alles so unfassbar präzise vor mir gesehen und wahrgenommen, bis zu den Pausenbrotkrümeln auf dem Boden, wirklich absurd, Drogen überhaupt nichts dagegen.

Ob man sich aber ausgerechnet daran so deutlich erinnern will, an eine Mathestunde bei Herrn W. in der 7., an sein sardonisches Grinsen, wenn man wieder einmal etwas nicht gewusst hat, das fragt ja keiner, das muss man dann einfach so hinnehmen, bitte sehr, eine randomisierte Auswahl aus dem Speicher, nimm das.

Ich weiß jetzt jedenfalls auch wieder, welchen Pullover Martina in der zweiten Reihe in dieser Stunde angehabt hat, ich könnte das Muster aufzeichnen, und ich weiß auch, wie sich dieser Pullover angefühlt hat, denn in der Pause vor der Stunde hatten wir wild herumgetobt und auch diese Erinnerung an die zwanzig Minuten vor dem Augenblick lag in der Erinnerung, wenn ich also in der Rückblende noch weiter zurück gedacht hätte – meine Güte.

Jetzt bloß kein Kleingebäck irgendwo hinein stippen.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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3 Kommentare

  1. Gamma 6. „Das Volk rechnet!“. Dazu der Blick an die dunkelbraun gestrichene Klassenraumdecke (eine Elterninitiative, sowas gab‘s auch damals schon), an der sich deutlich die festgetrockneten Papierpickel abzeichnen, die zuvor weichgekaut und per Blasrohr (Schaft eines ausrangierten Tintenkillers) dorthin befördert worden waren.

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