Fremdbilder

In der S-Bahn saß mir ein Mann gegenüber, ein mir völlig fremder Mann, der mich immer wieder ansah, also unverhältnismäßig oft und lange für Hamburger Verhältnisse, wir haben es hier ja nicht so mit der Kontaktstärke im öffentlichen Raum. Er sah mich an, er sah kurz aus dem Fenster, er sah mich wieder an, er sah zur Decke, er grübelte offensichtlich. Er gab sich schließlich einen Ruck, beugte sich vor und fragte mich: “Sag mal, bist du nicht Stefan?” Und er sah so erwartungsvoll aus, als würde er recht sicher kein Nein erwarten. Das konnte ich aber nicht bejahen, denn ich kenne zwar gefühlt über hundert Stefans, ich bin aber keiner, ich bin auch nie einer gewesen. Er sah mich an und glaubte mir vermutlich nicht, denn das kann ja jeder sagen, dass er kein Stefan sei, so guckte er zumindest. Ganz und gar nicht überzeugt. “Du bist nicht Stefan? Echt nicht?” Eine ausgesprochen skeptische Nachfrage war das, ergänzt durch einen freundlichen Hinweis, denn ich könnte ja gerade für einen Augenblick meine wahre Existenz vergessen haben: “Also Stefan, der Pilot?”

Und das immerhin hatte vorher noch nie jemand zu mir gesagt, dass ich aussehe wie ein Pilot, zumal ich doch gar keine spiegelnden Sonnenbrillen trage und auch sonst keines der klischeemäßigen Merkmale bedienen kann, die einem da so einfallen können.

Weiter. Eine Frau sagte zu mir: “Du siehst aus wie ein Rotweintrinker.” Ich hinterfrage das sofort misstrauisch und denke insgeheim über die mir vielleicht entgangene auffällige Grobporigkeit meiner Nase nach, es scheint aber ein ernsthaftes Kompliment zu sein, denn sie mag Rotweintrinker, so sagt sie, und sie hat da so diese Intellektuellenassoziationen. Ich werde dem leider nie gerecht werden können, ich mag gar keinen Rotwein, vom Intellekt ganz zu schweigen.

Das sind aber selbstverständlich nur banale Äußerlichkeiten, ein rotweintrinkender Pilot namens Stefan, bin ich ein deutscher Romanheld oder was. Und klingt die Verbindung von Rotwein und Pilot nicht auch irgendwie haltlos, bei längerem Nachdenken und mit etwas Fantasie geradezu absturzgefährdet? Möchte man so sein?

Egal, denn in Wahrheit soll man auch mich natürlich an den Früchten erkennen, was macht der Mann denn so, wie kommt das an und wie wirkt das auf andere, was er treibt? Eine weitere Frau erhellt mir das etwas durch eine Frage, auch auf einer Party, als ob ich dauernd auf Partys gehen würde. Ganz nebenbei gestellt wird diese Frage, ein netter Einstieg in den Smalltalk nur: “Schreibst du noch diese … Tagestexte?”

Ich habe das natürlich bejaht, Leugnen zwecklos, das kann ja jede und jeder nachlesen. Ich denke aber seitdem intensiv darüber nach, ob ich nicht doch über den Tag hinaus schreiben sollte. Ich meine, solche Fragen sind ja immer Hinweise wie in einem Game, man muss da ernsthaft drüber nachdenken und etwas damit machen, etwa bei einem guten Glas Rotwein, pfui Spinne. Man muss es jedenfalls alles ernsthaft im Kopf hin- und herwenden, und das meine ich gar nicht scherzhaft. Man muss auch mal etwas versuchen, sich solchen wie zufällig herangetragenen Möglichkeiten immer wieder öffnen, denn das verhindert eventuell das, was Wolfdietrich Schnurre in seinem Schattenfotografen mit dem ganz und gar großartigen Wort “Schicksalsschimmel” bezeichnet hat.

Und was soll ich sagen, diesen Text etwa habe ich bereits gestern geschrieben, nicht heute, das sind also schon zwei Tage, der ist schon etwas abgehangen. Ich weiß nicht recht, ob das zählt, aber man sieht doch immerhin, ich arbeite daran. “Herr Buddenbohm war stets bemüht”. Bitte so dereinst auch auf meinem Grabstein vermerken, ich mag den Satz wirklich mit jedem Jahr lieber.

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Musik! Pippi Langstrumpf in einer coolen Jazzversion von Jan Johansson, der das Stück, also die bekanntere Variante, auch geschrieben hat. Man muss dabei etwas sechzigerjahremäßig gucken und genau hinhören, es ist dann ganz wunderbar, auch ohne Video.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld für Rotwein oder tatsächlich wohlschmeckende Getränke in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

3 Kommentare

  1. Ich bedanke mich auch ganz herzlich für den Pippi-Song – so kommt ein Kindheits-Klassiker im Erwachsenenalter an, einfach toll.

  2. „ vom Intellekt ganz zu schweigen“ – aber ich bitte Sie!
    Ich komme oft gar nicht mehr mit. Das liegt vielleicht auch ein wenig an meinem „Schicksalsschimmel“, den ich ansetze. Was für ein Wort und was für ein Effekt.
    Besten Dank für jede meiner intellektuellen Überforderungen. Das kratzt immer wieder ein wenig am Schimmel – das Nachdenken.
    Alles Gute Stefan!

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