Irgendwelche Jahre

Ich höre abends Geschichtsbücher von Golo Mann, es geht um Deutschland im 19. Jahrhundert. Zwei Bemerknisse dazu. Zum einen ist es ein sonderbarer Effekt im Hirn, wenn Geschichtsbücher, gerade etwas tiefer schürfende, auf das Wissen treffen, das ich noch aus der Schule, aus dem Studium oder auch aus Romanen und Filmen habe. Ich stelle mir inneres Bibliothekspersonal vor, welches bei den vorgelesenen Absätzen und Kapiteln unterschiedlich reagiert. Angestellte etwa, die bei den Stichwörtern Preußen und Bismarck routiniert nicken und wie nebenher auf ein Regal dort hinten im Schädel zeigen, die aber bei Piemont verwirrt die Augenbrauen heben, wie jetzt, Piemont, was ist mit Piemont, wir kennen kein Piemont? War da was und was hat es mit Sardinien zu tun, wir verstehen nicht richtig? Müssten wir da etwas haben, wir sehen mal im Katalog nach, Moment. Nein, wir bedauern, zu Piemont haben wir nichts. Und manchmal, das kommt noch dazu, steht in dem Regal, auf das da so lässig und voller vermeintlicher Expertise gezeigt wird, gar nicht allzu viel drin. Manchmal steht da nur eine Art Handreichung für Sextaner oder eine Fibel mit bunten Bildchen und fettgedruckten Überschriften, nach denen dann nichts mehr kommt. Nach 1848 etwa kommt 1871, so viel ist vertraut und vollkommen klar, das ist felsenfestes Wissen. Zwischen diesen beiden Jahren aber – nun, dazwischen waren sicher auch irgendwelche Jahre. Die kamen aber damals in den Arbeiten nicht vor. In Geschichte musste man festgelegte Namen, Zahlen und Stichwörter wissen, mehr nicht. Der Lehrer, der es aus guten Gründen damals mit der Vermittlung von demokratischen Werten bitterernst gemeint hat, den habe ich erst Jahre später verstanden, Erkenntnisse ex post.

Zum anderen kann ich ganz hervorragend bei Golo Mann einschlafen. Ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass ich ihn langweilig finde. Ich vermute eher, dass es an der etwas langsamen Erzählweise liegt, langsam hier ganz und nicht negativ gemeint. Mich beruhigt und entspannt nämlich Sprache, die Zeit hat, ungemein. Ich könnte zum Einschlafen auch jeden Abend den Anfang des Schimmelreiters hören, diese mehrfache Verschachtelung der Rahmenhandlung in dem Roman, dreifach war es wohl, das ist besser als jeder Beruhigungstee. Wäre ich gelehrt genug, hier folgte jetzt ein längerer Exkurs über den Zusammenhang zwischen grammatikalischen Strukturen und Geschwindigkeiten im Denken und Stresspegel, aber das müssen bitte andere übernehmen. Auch beim Brehm habe ich neulich gedacht, als er da einen Versuchsaufbau beschrieb und dabei lange, lange Anlauf nahm, dass für den geschilderten Sachverhalt heute ein Dreiwortsatz vollkommen genügt hätte.

Ich möchte die Vergangenheit nicht romantisieren, ich möchte die Gegenwart nicht kritisieren, ich möchte nur für mich befinden, dass mir Slow Thinking oder Slow Writing mit jedem Lebensjahr sinnvoller vorkommt. Ich schreibe mittlerweile, um diesen Ansatz noch schnell mit der Gegenwart kollidieren zu lassen, mitunter recht lange an einem Tweet.

Ansonsten habe ich mit der Familie ein Spaßbad besucht, in welchem sich die Jungs allein und altersgerecht im Wasser amüsiert haben, während die Herzdame und ich auf Liegen lagen. Ich habe dabei etliche Märchen gehört, Grimm, Bechstein, Andersen, ich hatte immerhin drei Stunden Zeit dafür, da passen etliche Prinzessinnen, Hexen, Zauberer, gute Könige und sprechende Tiere mancher Art hinein. Es ist auch da interessant, was assoziativ noch anklingt und was nicht, wie mir etwa der Andersen in den Details geradezu unheimlich viel präsenter ist, als ich es vermutet hätte. Was muss der mich damals beschäftigt haben. Der Hund mit den teetassengroßen Augen im Brunnenschacht, das hat so etwas von gewirkt, als ich es in der Kindheit gelesen habe.

Bechstein dagegen – ich fühle nichts, überhaupt nichts. Vermutlich gab es in meinem Elternhaus keinen Bechstein, nicht als Buch, nicht als Flügel.

Passend zu den Märchen übrigens lässt sich Tocotronic gerade mit Undine ein, was naturgemäß nicht gut ausgeht.

Ob ich die Undine von Fouqué jemals gelesen habe, das weiß ich gar nicht mehr genau, fällt mir dabei ein. Ich merke die mal für demnächst vor, wenn sie schon so schön vor mir, haha, auftaucht.

Grund zur Freude gab es auch noch, und der Grund passt hervorragend hinter diesen Blogtext mit dermaßen viel Hang zu altmodischen Aufhängern. Ich habe nämlich eine Anfrage erhalten, eine Bitte um die Verwendung eines Textes von mir. Es gibt dafür kein Geld, es gibt dafür keinen Ruhm, es gibt aber doch ein heiteres Nicken von mir, denn die Anfrage kam aus einem Kloster der Franziskaner. Doch, da freue ich mich, auch wenn ich eher durch und durch religionsfern bin. Religionsfern, aber besinnungsaffin, vielleicht passt es so? „Herr Buddenbohm war stets um Besinnung bemüht.“

Sollten Sie im Gegensatz zu mir ausdrücklich kirchlich bezogen sein, evangelisch sogar, es erscheint da um diese Jahreszeit immer ein Kalender, „Der andere Advent“, der kommt in vielen kirchlichen Einrichtungen vor, und darin finden Sie in diesem Jahr auch einen Text von mir.

Dauernd diese seltsam konfessionellen Bezüge, vielleicht hätte ich doch Pastor werden sollen? Allein mir fehlt der Glaube.

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7 Kommentare

  1. Wie toll – ich bin gespannt, welcher Ihrer Texte es ist. Die seit Jahren übliche Adventskalenderbestellung für mich und meine Kolleginnen ging gerade heute früh raus 🙂
    Ich mag das Konzept des Kalenders sehr, die oft ungewöhnlichen Texte und Denkanstöße, Bilder und Grafiken. Herausgeber ist der Verein „Andere Zeiten e.V.“, er nennt sich selbst „ökumenisch und steht den christlichen Kirchen nah“.

  2. Ich denke, Glaube ist eine Entscheidung, keine Fähigkeit. Entscheidend ist meiner Auffassung nach nicht, ob existiert, woran ich glaube, sondern was es mit mir macht, dass ich an etwas glaube oder eben nicht.

  3. Ich habe „Besinnung“ gleich im großen Wörterbuch der deutschen Sprache nachgeschlagen. Ich wollte wissen, ob der Begriff in einem Zusammenhang mit „Spiritualität“ steht. Ich war sehr beruhigt, dass das nicht der Fall ist.
    In den Niederlanden gibt es etliche Pastores mit Gemeinden, die sich öffentlich dazu bekennen, nicht mehr zu glauben. Ihrer Berufung steht also nichts im Wege.

  4. Glaube ist eine Entscheidung, keine Fähigkeit

    Dem Gedanken kann ich aus meiner Erfahrung im Freundeskreis viel abgewinnen. Nicht zu unterschätzen ist deshalb die Bedeutung ritueller Festilichkeiten, mit denen man Teil der selbstgewählten Gesellschaft ist und bleiben will. Ganz banal.

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