Das Eigengrau ist ein Bild des Novembers

Ich mache Ihnen wieder Musik zum Lesen an, Moment. Das hier passt mir recht gut, wenn ich auch bei der Übertragung auf meine Situation vielleicht das body im Titel gegen soul tauschen müsste. Aber egal. Einer der nicht so bekannten Titel von Paul Simon.

Im Fernsehen kommt Wetten dass, so lese ich erstaunt, und in den Medien wird das neue Album von Abba besprochen, was ist das bitte für ein Zusammentreffen, können wir kurz einen Uhrenvergleich …. Ich hatte hier vor vielen Jahren mal eine Nachbarin, ein paar Häuser weiter wohnte sie, die war alt und dement, die war so ein Fall, bei dem sich alle fragten, wie kann die denn alleine, warum macht denn da niemand etwas. Es machte aber niemand etwas. Die hängte sich, sie wohnte im Hochparterre, oft weit aus dem Wohnzimmerfenster, manchmal nur höchst unzulänglich bekleidet, und fragte Passanten nach der Uhrzeit. Und manchmal ergänzte sie, wenn sie die Antwort hörte, ein zutiefst verzweifelt klingendes „Aber welches Jahr denn?“ Irgendwann war sie dann doch weg.

Als ich letzte Woche in Nordostwestfalen war, stand dort auf einer Kommode eine kaum verblichene Dose „Quality Street“, darin vermutlich das süße Konzentrat der gesamten 70er, ich habe die Büchse lieber nicht geöffnet. Die Zeiten gehen seltsam durcheinander, die Tore sind auf, dabei ist es doch noch etwas hin bis zu den Rauhnächten, in denen es routinemäßig und erwartbar zu gewissen Verwirbelungen kommt.

Ich mache das Internet an, das Internet ist klare Gegenwart. Youtube empfiehlt mir auf der Startseite ausschließlich Filmchen, die ich alle schon gesehen habe, das nennt sich dann Algorithmus und ist angeblich intelligent und durchdacht. Es ist aber wie ein Verweis auf das Lesen vor der Zeit der Romane, vor der Leserevolution also, als alle Welt auf einmal so fürchterlich viel las und das übrigens als ungemein schädlich galt, es wurden auch damals schon in Familien Medienzeiten diskutiert, das vergisst man gerne: „Du sollst nicht so viele Romane lesen!“ Vor dieser Kulturrevolution jedenfalls hat man das, was man im Hause hatte, Erbauliches in aller Regel, mehrfach gelesen und vorgelesen, hundertfach womöglich, tausendfach gar im Laufe des Lebens, das Lesen war intensiv, nicht extensiv. Da kannte man die Texte noch, die Reime, die Sinnsprüche, die Bibelstellen, die Breviere, die Märchen, die Fabeln. Das also spiegelt mir Youtube jetzt seltsam verzerrt wider, ich kann mir dort qua Empfehlung immer noch einmal die fünf wilden Schwäne von Hans Wader anhören, ich kann mir immer wieder diesen einen kurzen Clip über das Leben und Sterben von Adalbert Stifter ansehen. Und warum auch nicht. Zu große Auswahl ist eh ein Problem, denke ich, und gucke brav alles noch einmal, immer annehmen, was ist. Ich nehme noch einmal die Sache mit dem sanften Gesetz zur Kenntnis, das ist eine Hypothese von Stifter (aus der Vorrede zu den Bunten Steinen, glaube ich), dahingehend, dass die sachten Veränderungen, die langsamen, allmählichen, kaum sichtbaren Einflüsse, die eigentlich entscheidenden Bewegungen und Entwicklungen in der Welt sind, dass also etwa das über Jahrhunderte gebildete Wurzelwerk im Wald entscheidender für das Gesamte ist als der eine Blitzeinschlag in die hohe Fichte. Da auch mal drüber nachdenken. Oder das mal nachlesen.

Es ist Wochenende. Was mache ich? Ich bewege mich auch nur langsam und kaum sichtbar, ich verwurzele auf dem Sofa. Ich folge dem sanften Gesetz, denke ich, und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch ein Hörbuch von Stifter anmachen, ich habe bei Stifter noch Lücken, große Lücken. Ich stehe auf und höre Stifter am Küchenfenster. Mein Blick geht auf den Spielplatz auf dem Kirchhof, das kann ich mir biedermeierlich passend zurechtdenken. Wo heute die Kinder spielen, war früher der Friedhof, wer weiß, was noch unter der Schaukel ruht, das hat auch Geschichtenpotential und in den Rauhnächten … aber ich schweife ab, es wäre dies auch eher etwas für den Gespenster-Hoffmann. Nein, ich denke mir keine Geschichten aus, ich sehe nur zu, wie draußen das Laub fällt. Jetzt auch das der Eiche, und so schnell fällt es, als wäre es auf einmal eine eilige Angelegenheit, als müsse alles weg, weg, bald, heute noch, fort damit. Gestern noch war auf dem Baum die Hälfte des Laubwerks grün, heute schon ist fast alles gelb und bald wird es gar nicht mehr sein, stattdessen wirbeln dann unten die Kinder durchs liegende Laub, und wenn die am späten Nachmittag weg sind, die emsigen Eichhörnchen. Das restliche Laub am Kirschbaum daneben zittert im Wind, und nur an diesem Baum zittert es, alle anderen Bäume stehen mit ruhigen Blättern, warum ist das nun wieder so? Eine unruhige Stelle im Bild ist dieser Baum dort mit seinem Vibratolaub. Die Blätter zittern sich von den Zweigen und erst wenn sie sinken, hören sie auf mit dieser unruhigen Bewegung, sanft erlöst kreiseln sie entspannt zu Boden und liegen dann still, endlich still. Das passt alles sehr schön zu Stifter, denke ich. Ein Nachbar gegenüber hat die erste Lichterkette an der Fensterbrüstung befestigt, es werden bald etliche folgen, das Gesetz der Tradition, willig befolgt.

Auf dem Balkon haben wir heute den Vogelimbiss wieder eröffnet. Wir bedienen dort Kohlmeisen, Spatzen und auch Rotkehlchen, und zwar, das ist neu, diese drei Arten gemeinsam. Im letzten Jahr kamen die immer getrennt, wie im streng geregelten Schichtbetrieb. Die Absprachen in Vogelreisen werden sich geändert haben. So etwas mitbekommen, die kleinen Veränderungen, das ist mir wichtig geworden.

Ich lese Stifter in der Wikipedia nach, ich lese immer alles nach, das hat sich bewährt. Man unterstellt ihm dort, dass er dahingehend modern war, der Natur so dermaßen viel Raum in seinen Texten einzuräumen, als er dabei dem Menschen und seinen Bestrebungen implizit Raum genommen hat, das sei doch quasi öko, so steht es da, also sinngemäß und nur in etwa, ich schreibe hier kein Referat. Ein interessanter Gedanke ist das jedenfalls. Ich habe nicht genug Zeit für interessante Gedanken, es ist ein Elend, es bekümmert mich.

Apropos, hier ein Artikel über das Klima in der Literatur. Vielleicht müsste man das Beschreibende generell anders denken, überlege ich, weit weg von der im Moment marktbeherrschenden Plot-Literatur, vielleicht müsste oder könnte man auch in der erzählenden Literatur vollkommen anders vorgehen. Weg von den ewigen Heldenreisen, sie haben zu nichts geführt, sie gingen nicht gut aus, wir sind nirgendwo angekommen. Die Heldenreise als Irrrweg betrachtet, das denke ich schon seit einer Weile, Heldenreisen passen nicht in eine Postwachstumsgesellschaft, zu der wir doch werden müssen, auch wenn es noch nicht alle glauben können. Ich kann das übrigens ohne jeden Ehrgeiz in der Beweisführung denken, da ich weder Literaturwissenschaftler noch Romanautor bin, ich bin also unbelastet und keine Rechenschaft schuldig, das ist auch mal schön.

Auf einer Lampe, die draußen am Dachvorsprung über dem Balkon hängt, sitzt oben ein Spatz und hängt unten eine Meise, und je nachdem, wie sehr man innerlich noch Kind ist, glaubt man womöglich, dass die beiden da Spaß haben, Schaukelspaß. Drei andere Spatzen, die für diesen Unsinn überhaupt keine Zeit haben, picken eilig am Meisenball, geschäftig und gierig wie Menschen bei der Arbeit.

Ich komme bekanntlich zu nichts, aber ich würde eigentlich gerne so weiterdenken, über das Beschreiben und das Erzählen. Mit Stifter etwa, auch mit Melville vielleicht. Zwanzig, dreißig Seiten über Walfett in einem Roman unterbringen, wie weit vorne war denn dieser Mann. Wenn Sie auch Hörbücher hören – den Anfang von Moby Dick, den könnte ich auch immer wieder hören. Er ist sensationell gut, er ist geradezu ehrfurchtgebietend.

Wir brauchen noch ein Musikstück, merke ich gerade. Nehmen wir etwas mit „weary im Titel“, immer Bezüge suchen.

Es ist Wochenende, ich habe frei. Also abzüglich des Care-Krempels und der Schulplage, versteht sich. Pardon, wenn das etwas abwertend klingt, die Pandemie und die Folgen, wir sind hier nach wie vor ein wenig durch, to say the least. Aber egal, wir üben natürlich unerschütterlich dennoch Englisch mit den beiden Schülern, oder was gerade so anfällt. I am thinking, I am learning, das passiert jetzt gerade, at this moment, right now, das ist Present Progressive. Sohn I war es, glaube ich, der im fortgeschritten genervten Zustand beim Lernen einmal auf die Form Present Aggresive kam. Zwei Jahre wird das etwa her sein. War da auch schon Pandemie? Nein, aber fast. Little did we know.

Ich lerne mit den Söhnen, ich koche Essen, es gibt Hühnersuppe, das ist Prophylaxe. Ich gehe auf mein Sofa, ich höre immer weiter Stifter, „Katzensilber“ heißt der Abschnitt. Ich kann ihm nicht folgen, ich bin mit den Gedanken gottweißwo. Ich höre alles noch einmal, es ist wie auf Youtube.

Ich drücke Start, ich schließe die Augen, ich sehe nichts mehr, keine Englischbücher, keine Küche. Das Eigengrau ist ein Bild des Novembers, das wäre vielleicht auch ein guter Titel für eine Story gewesen. Eigengrau, das Wort habe ich neulich auf Twitter gesehen, nie vorher ist es mir begegnet. Faszinierend.

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4 Kommentare

  1. Danke. Und das zweite Lied kam exakt im richtigen Moment. Für einen Moment dachte mein Hirn schon „dass das jetzt im richtigen Moment, mit dem letzten Ton des alten Lieds, immer diese blöden Algorithmen!“
    Aber, nein, dies ist ein Blog, das Lesetempo stimmt nur erstaunlich gut.

  2. Welch wunderschöner Text, ich fühle mich jetzt sehr herbstlich und habe plötzlich die allergrößte Lust, Stifter zu lesen, das gab es vorher auch noch nie.

  3. Schulplage… besser kann man es nicht sagen. Grüße aus einem Wochenende mit Englisch, Deutsch und Musik, garniert mit Mathe. Und da in Deutsch Songtexte behandelt werden und in Englisch Queen (was ich durchaus befürworte), hat Muttern nun schon das ganze Wochenende unterschiedlichste Lieder im Kopf.

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