Ich lese beim Frühstück in den Highsmith-Tagebüchern, sie ist da immer noch ganz jung und schreibt Sätze wie etwa: „Eines Tages werde ich gut sein. In allem.“ Ich bin ein paar Jahrzehnte älter, als sie es bei diesem Eintrag damals war, ich bin mittlerweile eher bei: „Eines Tages werde ich weniger machen. Von allem.“
Aber bis dahin volles Programm, versteht sich. Noch eine eng getaktete Arbeitswoche im Home-Office voraus, noch ein Text als To-Do, noch eine zu haltende Deadline. Noch weiterer komplexer Orga-Kram mit Ämtern und Institutionen, noch mehrere schwierige Mails zu schreiben, noch drei (!) Klassenarbeiten der Söhne, davon eine am letzten Tag vor den Ferien. Muss das denn in pandemischen Zeiten so sein? Ich finde, aber das sagte ich neulich bereits, es nicht richtig, die Kinder – meine Kinder, alle Kinder – immer weiter unter Druck zu setzen. Nein, ich finde es sogar grundfalsch. Es ist auch für sie der 21. Pandemiemonat. Oder welchen wir gerade haben, ich habe längst keine Lust mehr, das nachzurechnen.
Als Hörbuch läuft beim Einkaufen Axel Hackes „Über den Anstand in schwierigen Zeiten.“ Das Buch ist von 2017 und es ist eigentlich kaum vorstellbar, wieviel schlechter die Lage bei dem Thema seitdem noch geworden ist, von Pegida und Trump zu den Querdenkern, es ist ein wenig herunterziehend und nicht recht vorstellbar, wie es eigentlich jemals wieder bergauf gehen soll. Dennoch eine wiederholte Empfehlung, es ist lohnend, darüber nachzudenken. Herr Hacke endet in seinen Bezügen bei Marc Aurel, Erich Kästner und David Foster Wallace. Anstand kommt in der Weltliteratur dauernd vor, man muss nur darauf achten.
Über weite Strecken finde ich es interessant, da noch einmal mitzudenken, ich habe das Buch vor Jahren schon einmal gelesen. Wie es ohnehin ergiebig ist, diesem etwas vagen Begriff „Anstand“ so lange nachzugehen, bis man seine Substanz erfasst hat, das kann man natürlich auch ohne Buch. Bei Michael Bordt habe ich einmal gelesen, dass alle Philosophie zuerst ein Klären der Begriffe ist. Das klingt banal, aber ich fand es damals erhellend und es hat sich mir eingeprägt. Er hat empfohlen, den Begriffen, mit denen man sich immer wieder herumschlägt, gründlich nachzugehen, viel gründlicher als gewohnt. Also etwa auch dem, wonach man sich sehnt oder dem, wovor man sich fürchtet, was einen belastet usw., und da hatte er Recht, glaube ich.
Wenn ich also z.B. immer wieder sage, dass ich meine Ruhe haben will, dann wird es erst interessant, wenn ich diese Ruhe vollständig durchdefiniere und zack, bin ich, weil ich mich etwa gewissen gesellschaftlichen Ansprüchen hartnäckig verweigern möchte, knietief in meiner persönlichen Gesellschaftstheorie. Das kann auch Spaß machen. Aber man kommt ja zu nichts, nicht einmal zum Denken.
Nachdenken, dies vielleicht noch abschließend, ist womöglich bereits ein Bestandteil des Anstands. Das kommt bei Hacke ebenfalls vor, dass man schon dann, wenn man sich, wie kurz auch immer, fragt, was denn bloß richtig sei, schon tendenziell anständig verhält. Was wohl im Umkehrschluss heißt, dass sich immer mehr Menschen gar nichts mehr fragen, dass sie nur noch rabiate Sicherheiten und Ausrufezeichen im Kopf haben. Warum?
Ja, warum, warum. Ich weiß es doch auch nicht. Ich denke immer wieder darüber nach, auch weil irgendetwas in mir hartnäckig glaubt, es müsse darauf eine bündige Antwort geben. So eine Antwort von der Art, die in 50 Jahren in einen kleinen Erklärkasten in der Seitenleiste eine Geschichtsschulbuchs der Mittelstufe passen müsste. In so einen Kasten also, den die Schülerinnen vor der Arbeit schnell noch einmal durchlesen. Das ist aber Unfug, das ist nur ein Wunsch, der aus routinierter Denkgewohnheit entstanden ist, man hat es doch in der Schule einmal so gelernt. Am Ende passt die Antwort auf die Warum-Frage gar nicht in einen Kasten? Am Ende füllt sie eher eine ganze Buchreihe, ein Studium, ein Theoriegebäude der größeren Art. Am Ende wird sie erst dann halbwegs verständlich, wenn man irgendwann – viel, viel später! – im historischen Rückblick endlich einen neuen -ismus an einen Teil unserer Epoche dranhängen kann. Mag sein. 2020/2021 begann der -ismus. Dann merken sich alle 2020/2021 und das neue Schlagwort, fertig. Aber da sind wir noch lange nicht.
Wenn ich die Unmöglichkeit eines Erklärkastens für möglich halte, was ist dann mit den Kästen, die schon da sind, die wir in den Geschichtsbüchern bereits finden. Verwirrend! Die Suche nach bündigen Antworten ruhig auch mal als Teil der Probleme betrachten. Am Ende ist vielleicht nur das richtig, was eigentlich ein Scherz war, am Ende ist die Antwort nämlich immer und ernsthaft: „Es ist kompliziert.“ Auch das mal als Inschrift auf einem Grabstein vorstellen. Ein schöner Abschluss, und da haben die Vorübergehenden dann gleich Gesprächsstoff.
Ansonsten haben wir gestern einen Weihnachtsbaum besorgt. Ein Sohn bestand dabei spontan auf einem eigenen Baum für sein Zimmer, einer fragte, wieso wir überhaupt so etwas wie einen Baum brauchen. Wieviel Meinungsvielfalt schon in eine Familie passt. Außerdem gab es gestern eine halbe Stunde am späten Nachmittag, in der mein Nachbar in seiner Küche stand und laut übend „Gloria in excelsis deo“ sang, während ich in meiner angrenzenden Küche stand und Rotkohl kochte, das war mit Sicherheit der dezembrigste Moment des Monats bisher. Beim Blick aus dem Küchenfenster hinaus ins Winterdunkel sah ich den hellen Stern im Kirchenfenster gegenüber, es war kurz nahezu stimmungsvoll in meiner Nelkenzimtapfelrotkohlwolke. Ich bleibe dran und werde berichten.
Noch ein paar Links.
Ekstatisch, die Hände zum Himmel
Omikron ist keine Welle, sondern eine Wand
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Sehr geehrter Herr Buddenbohm, sollten Sie kurz vor der Verzweiflung mal wieder herzhaft lachen wollen, hätte ich eine Empfehlung: Axel Hacke, Das kommunistische Manifest, S.216, Das Müdometer.
Hoffe, mit diesem Vorschlag ins Schwarze getroffen zu haben.
Danke für Ihre geistreichen Texte. Ich lese hier schon lange inkognito und oft genug sehr amüsiert mit.
Das kolumnistische Manifest muss es natürlich heissen, pardon, Autokorrektur…