Der geht ab

Es ist auf einmal wieder warm draußen, piwarm, lauwarm, geradezu widerlich warm ist es. Mein Kreislauf und ich lehnen das entschieden ab und wir verweigern beide dies und das, etwa das Mitmachen. Das Home-Office fällt mir heute einigermaßen schwer, aber die Pflicht, die Pflicht, das stete Bemühen, und dann ist es nach endlosen Stunden wieder ein Werktag weniger. Man nähert sich.

Ich weiß nicht, welche Musik ich hören soll. Ich finde alles nervtötend, ich knurre den Streamingdienst am frühen Morgen schon an, los, überrasch mich. Der Streamingdienst sagt wie immer, ich solle modernen Songwritern beim Winseln zuhören, ich möchte das nicht. Ich fragen einen Sohn, noch bevor er zur Schule geht, welche Musik er gerade hört, ich denke, ach komm, hörste eben mal was ganz Modernes, raus aus dem letzten Jahrhundert, raus aus dem Folk, aus dem Jazz, aus dem Blues, raus aus den ollen Gewohnheiten. Ruhig auch mal auf die Gegenwart achten, denke ich mir, beim Schreiben machste das ja auch so, da stehste doch so auf die Gegenwart oder was, und das sind ohnehin immer spezielle Tage, wenn ich mich schon selbst so flapsig anrede.

Ich frage also den Sohn, was er gerade so hört. Der Sohn nimmt die Kopfhörer kurz ab und sagt: „AC/DC und Iron Maiden.“ Okay. Das muss auch schön sein, sich so durch die Musikgeschichte zu arbeiten, alles noch vor sich zu haben. Kurz sehe ich vor dem inneren Auge das Zimmer eines Schulfreundes von damals, der hatte ein Iron-Maiden-Poster an der Wand. Wer war das noch? Längst habe ich es vergessen. Ich frage den Sohn, ob er auch Motörhead kenne, der Sohn sagt nein. Ich frage den Sohn, ob er denn wisse, dass ich mal wegen des lauten Hörens von Motörhead während des Unterrichts einen Tadel in Deutsch bekommen habe, ob ich das schon mal erzählt habe – der Sohn stöhnt und entflieht eilig.

Ich klicke im Streamingdienst bockig irgendwohin, ich finde eine Phonk-Playlist. Ich habe noch niemals etwas von dem Begriff Phonk gehört, was ist das nun wieder. Ich lese das nach, ich höre zehn Minuten Phonk, dann höre ich Drift-Phonk, es verzweigt sich immer alles. Danach habe ich noch schlechtere Laune.

Egal. Ich klappe das Notebook zu, ich gehe raus. Vor dem Discounter steht einer mit freiem Oberkörper und tanzt. Lange Haare hat er, die wirft er wild herum und vergleichsweise happy sieht er dabei aus, was allerdings auch kein Kunststück ist, wenn man sich die Passanten so ansieht, man wirkt hier im Vergleich recht schnell exaltiert und vergnügt, dafür würde auch schon das dezente Heben eines Mundwinkels reichen. Zu welcher Musik tanzt der da? Die hört nur er, die Musik, und nicht einmal über Kopfhörer, nein, die hört er einfach so, ganz ohne alle Hilfsmittel, die wird wohl nur in seinen Gedanken abgespielt. Er hat die Bässe im Kopf, ich dagegen kann den Rhythmus nicht hören, der da vermutlich in seinem Hirn wummert, ich kann den Beat nur sehen, an den wedelnden Armen, an den wirbelnden Haaren, an den wippenden Füßen kann ich ihn erkennen, schnelle Musik wird es sein. Der Mann ist ein autonomer One-Man-Rave, der geht ab, und wie der abgeht.

Und die, die zum Discounter wollen, die gehen nur rein. So wie ich.

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4 Kommentare

  1. Ich machte letzte Woche die irritierende und sehr angenehme Erfahrung, dass meine Laune durch das Tanzen zu alten Schlagern gehoben wurde, sogar erheblich! Eigentlich mag ich weder Schlager noch Disko-Fox als Tanz und als der Tanzlehrer nun einen Disko-Fox ankündigte, sank meine Laune deutlich, er legte Schlager auf und plötzlich wirbelte ich in bester Laune durch den Saal. Mein Mann war von meiner Reaktion völlig überrascht und ich übrigens auch… den Schlager summte ich noch die ganze Woche. Gut, Tanzen eignet sich nicht für das Home-Office, aber vielleicht könnten Sie ja musikalisch etwas vermeintlich völlig Abwegiges ausprobieren.

  2. Musikalische Lustlosigkeit hatte ich die Woche auch. Was bei „Hey Siri, jetzt spiel‘ halt mal irgendwas Schönes“ rauskam – nein, das Gelbe vom Ei war das wirklich nicht. Ich werde das mal in angezogen probieren mit der inneren Musik.

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