Am Sonntagmorgen heult Wind ums Haus und greift kaltfingrig ins spaltoffene Dachfenster, dass es knarrt und sich regt. Ich schließe das Fenster, ich koche Kaffee, ich mache die Heizung an. Die rauscht heute auf einmal wie ein Bach im Gebirge, es plätschert, es gurgelt, das Wasser steigt in den Rohren. Eine winterliche Verdichtung der Klangkulisse, die gut zum Wetterbericht passt, in dem wieder einige Schneeflockenpiktogramme zu sehen sind. Ich trinke Kaffee, ich sehe aus dem Fenster. Auf dem Dach des großen Hotels gegenüber weht eine Fahne stramm im Wind und etliche Krähen flattern da oben immer wieder um sie herum, als würden sie mit ihr spielen. Sie landen abwechselnd auf dem Fahnenmast, sie fliegen unter der Fahne durch und dicht darüber weg und dann im Kreis um sie herum, sie weichen knapp aus, wenn das Tuch in einer Böe hin- und herschlägt. Es ist vielleicht ein Windspiel, ich höre ihr Krächzen, es klingt belustigt.
Am alten Haus gegenüber steht noch das große Gerüst, Leitertreppen führen von Stockwerk zu Stockwerk, bis über unser Dach hinweg, bis hinauf zum geschwungenen Giebel. Mir fiel in den letzten Tagen auf, dass Vögel dieses Gerüst gut finden. Meisen turnen umtriebig an dem engmaschigen Netz davor herum, Spatzen erkunden laut diskutierend die Bretter, Verstrebungen und Winkel und bilden Banden darin. Eine Elster saß eine Weile oben auf dem höchsten Pfeiler und genoss ihre neue Warte. Heute sehe ich eine Rabenkrähe, und was für eine. Ein anderes Kaliber als die Saatkrähen ist das, die hier sonst durch die Gegend vagabundieren und kleinkriminell in den Bäumen auf dem Spielplatz herumlungern. Dieser besonders große Vogel hüpft jetzt die eisernen Treppen hoch, Stufe für Stufe, von ganz unten bis ganz oben, sechs Stockwerke immerhin auf diese Art, das dauert eine Weile und eilig hat er es ganz und gar nicht. Auf den Absätzen hält er jeweils kurz inne und sieht zurück, guckt dann auch nach oben, legt den Kopf schief, ach guck, noch eine Etage. Ein würdevoller Hupf auf die erste Stufe, ein Hupf auf die zweite Stufe, und dann immer so weiter. Und wie die Krähen an der Fahne wirkt auch diese hier amüsiert. Ich bin mir nach einer Weile sicher, die macht das da aus Spaß. Man hat ihr ein riesiges Klettergerüst gebaut! Wie nett von den Leuten. Als sie ganz oben ist, plustert die Rabenkrähe ihr Gefieder einmal wohlig durch, streckt die Flügel und besieht sich die Gegend unter ihr. Sie sieht auch mich in meinem Dachfenster und guckt mich eine Weile von oben herab durchdringend an. „Ra“, sagt sie dann in beeindruckend vollem Rabenvogelbariton, und ich lasse das mal so stehen und nicke ihr nur zu.
Ich lese weiter in den Tagebüchern von Patricia Highsmith. Es ist das Jahr 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, sie schreibt: „Die Japaner konnten in Java große Erfolge verbuchen und haben Rangun, Burma gut im Griff. Nicht so gut, nicht so gut beim Mittagessen. Ich bin deprimiert, wenn ich dunkle Kleidung trage, wenn meine Haare nicht richtig liegen.“ So sind wir, anders können wir vermutlich auch nicht sein – die Welt geht in die Binsen, wir wissen es auch, aber es sind die Haare, die uns wirklich fertig machen. Rangun ist weit weg, aber die dunkle Kleidung hängt da über dem Stuhl. Alltag und Weltgeschichte, man muss beides irgendwie aushalten und zusammendenken, es gibt keine allgemeingültigen Vorgaben für die richtige Gewichtung. Wir sind vermutlich die einzige Art, die gleichzeitig die Welt und das Hier zur Kenntnis nehmen können, was haben wir uns damit nur eingehandelt. Schon daran darf man mit Fug und Recht verrückt werden.
Ein Sohn deckt den Adventsfrühstückstisch, Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft kommen neben die Teller. Dann besieht er sich die Anordnung, überlegt kurz und vertauscht sein Glas schnell noch einmal mit dem seines Bruders, wohl damit er eines hat, das nicht seines war, nehme ich an. Ich frage ihn nach dem Grund: „Erbeutet schmeckt alles besser.“
Man muss den Alltag und die Welt gar nicht nur aushalten, man kann auch etwas daran drehen. Kann man von jedem Kind lernen.
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Lieber Herr Buddenbohm,
danke für ein weiteres Jahr, in dem Sie mit Ihren Worten mein Herz berührt, mich zum Schmunzeln, Lachen, Aufregen, Nachdenken und Innehalten gebracht haben!
Die Beobachtung und Deutung des Rabenkrähenverhaltens – einfach wunderbar. Wenn wir in Zeiten wie diesen nicht Beobachtende wie Sie hätten … na dann gute Nacht.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie frohe Weihnachten und nur das Allerbeste für 2022!
Antje hat es so schön formuliert, da möchte ich mich ganz schnell anschließen. Danke für ein oft nachdenkliches Jahr und für das genaue Hingucken. Frohe Weihnachten an alle Buddenbohms und ein besseres Neues Jahr 2022.
„Rabenvogelbariton“, wunderbar. 🙂